Alexander Moszkowski
Von Genies und Kamelen
Alexander Moszkowski

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Werther und Lotte von heute

Ein Roman von Goethe und mir.

Bester Freund!

Sollte es möglich sein, daß dieser erste Brief, den ich Dir aus meinem Landaufenthalt schreibe, der Anfang eines Liebesromans wird? Noch weiß ich es nicht, allein ich muß Dir doch erzählen, daß ich eben auf einer geselligen Wagenpartie das entzückendste, schönste, liebenswürdigste, sonnigste Frauenzimmer kennen gelernt habe, das mir jemals vors Gesicht und unter die Feder gekommen ist. Sie heißt Charlotte, ist die Tochter eines Beamten, allein für mich war sie sogleich Lottchen, und ich spürte: hier ist mein Schicksal. Im Geist sah ich schon eine Zeitungsanzeige: Als Verlobte empfehlen sich Lotte und Werther – doch wozu den Ereignissen vorauseilen? Bleiben wir bei der Gegenwart, bei meinem Eintritt in ihr Wohnhaus, wo ich sie kennen lernte. Ein reizendes Schauspiel! In dem Vorsaal wimmelten sechs Kinder von elf bis zu drei Jahren, – sie, Lotte, hielt ein schwarzes Brot und schnitt den Kleinen rings herum die Vesperschnitten, ein Bild, das jeder illustrierten Zeitschrift zur höchsten Auflage gereichen müßte. Dann sagte sie: Nun eßt euch satt, Kinder, und bekleckert euch nicht beim Kaffee, ich muß jetzt in die Versammlung! – Ach Mamsell Lottchen, beschwor ich, könnten Sie nicht noch ein wenig bleiben und noch einmal Brot schneiden? – Nein, mein Herr, entgegnete sie, die Pflicht ruft. Sie müssen nämlich wissen, daß ich für den hiesigen Landkreis als Kandidatin aufgestellt worden bin; die Wahl ist sehr aufgeregt und schwierig, aber wir werden das Ding schon deichseln! Damit sprang sie hinaus. O wie sie das Wort »deichseln« mit ihren himmlischen Lippen flötete, es klang wie Sphärenmusik, und in meinem Herzen knaxte das Echo. Nächstens mehr.


Darf ich Dir gestehen, daß ich mich glücklich fühle? Nicht als ob ich mir schmeicheln dürfte, Lottchen liebe mich, allein sie freut sich doch bei meinem Erscheinen. Als ich heut eintrat, tanzte sie allein im Zimmer umher mit all der beweglichen Grazie, die ihr eigen, dann breitete sie die Arme in die Luft und rief: Hurra, ich habe mein Mandat! ich werde mitarbeiten an allen Verfassungsartikeln und die Gegner niederstimmen, daß es nur so pufft! Ich ergriff ihre Hand, um ihr zu gratulieren, und sagte: Ach Mamsell Lotte, es ist ja sehr erfreulich, daß Sie eine so bedeutende Aufgabe übernommen haben, allein Kopf und Herz gehen doch verschiedene Wege; wollen Sie nicht auch mir ein klein wenig Hoffnung gönnen? Aber gewiß doch, bester Werther, erwiderte sie: hoffen Sie auf die gerechtesten Steuern nach dem Prinzip der Belastung auf die stärksten Schultern, ich werde in dieser Hinsicht mit ganz bestimmten Vorschlägen herausrücken, da sollen Sie was erleben in meiner Jungfernrede! Von dem stürmischen Beifall links werden die Wände wackeln!

Wie ich mich bei diesem Gespräche in den dunkeln Augen meiner Angebeteten weidete! Wie die lebendigen Lippen und die frischen munteren Wangen meine ganze Seele berauschten! Wie im Taumel ging ich hinaus, und zur Besinnung gelangte ich erst nach geraumer Weile, da mir die Magd ein Briefchen von ihr überbrachte. Aber als ich es öffnen wollte, versagte mir die Kraft . . .

 

Stelle Dir vor, ein Briefchen von ihr! einen Seelenerguß meiner Göttlichen! Würde ich es aushalten, ihn in mich aufzunehmen, würde mich der Tumult der Sinne nicht überwältigen? Ich bedeckte den Umschlag mit tausend Küssen, und heiße Zähren troffen auf die Anschrift. Endlich ermannte ich mich, löste die Hülle und überflog das Billet. Es enthielt die Gedanken der lieblichen Jungfrau über die Sozialisierung der Kali-, Erz- und Kohlenbetriebe. Und wie fein sie den Unterschied abzutönen wußte zwischen all den Mineralien ihrer Zuneigung. Der Brief schloß mit der Bitte u.A.w.g. Aber was soll ich antworten, ich rettungslos Verliebter, in dessen Adern keine Kalilauge, sondern das stürmische Blut einer aufgeregten Jugend pulsiert?


Ich darf es Dir nicht länger verhehlen, mein Freund, daß die Verzweiflung sich meiner Seele bemächtigt. Meine Eifersucht kennt keine Grenzen. Ich bin eifersüchtig auf Kali, Mangan und Braunkohle, eifersüchtig auf die Gesetzentwürfe, denen Lottchen sich widmet, auf die Parteigruppe, der sie angehört, auf die Drucksachen, die sie von den Staatsämtern empfängt. Ich habe beschlossen, sie nicht mehr wiederzusehen. Ich fühle, es ist aus. O wie bin ich elend! Zwei Pistolen liegen auf dem Tischchen neben meinem Bett.

Mir liegt die Pflicht ob, Dir mitzuteilen, daß ich mich gestern erschossen habe. Vorläufig nur zur Probe, denn die Pistole, deren ich mich bediente, war ungeladen. Aber man muß doch die Bewegung einüben. Mamsell Lotte muß von meinem Vorhaben Wind bekommen haben, denn sie ließ mir sagen, sie würde bestimmt zu meiner Beerdigung erscheinen, wenn sie nicht gerade zu einer wichtigen Ausschußsitzung müßte, in welchem Fall ich sie gewiß gütigst entschuldigen würde. Wie zart, mir auf diese Art anzudeuten, daß ich ihr nicht ganz gleichgültig bin.


Bester Freund, ich werde leben! Vor wenigen Minuten las ich in der Zeitung, daß die Wahlprüfungskommission das Mandat meiner Lotte für ungültig erklärt hat. Welch frohe Aussicht! Gesegnet seien die noch rechtzeitig entdeckten Wahlmogeleien, die das entzückende Mädchen meinen Hoffnungen zurückgeben. Noch heut will ich zu ihr in meinem neugewendeten Frack, mit einem Blumenstrauß von unwiderstehlichem Umfang. Sie soll meinen Antrag einstimmig annehmen!

Uebrigens wirst du mir einräumen, daß ich mich ziemlich getreu an das klassische Vorbild gehalten habe. Denn Goethe war ja bekanntlich auch in Lotte verliebt, hat ihretwegen bekanntlich auch viel ausgestanden und hat sich bekanntlich auch nicht erschossen! Dein Werther.

 


 


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