Alexander Moszkowski
Von Genies und Kamelen
Alexander Moszkowski

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Die fürchterliche Melodie

Ich hege selten teuflische Pläne, aber diesmal hatte ich einen, und der wurde denn auch nach allen Regeln der Kunst durchgeführt.

Kaum hatte ich im Kurort das Zimmer gemietet, als nebenan ein Hotelgast zu komponieren begann. Er bediente sich eines Klaviers und traktierte darauf in allen Tonlagen und Verrenkungen eine einzige Melodie. Aber was für eine!

Ich stellte fest: das war Tobias Flöhz, der bedeutende Kakophoniker, – man kann auch auf Deutsch sagen »Uebelklingler« – welcher der Welt schon lange eine neue Oper mit einem einzigen, durchgehenden Dauer-Motiv angekündigt hatte. Jetzt hörte ich es in seiner ganzen Schreckensseligkeit zehn Stunden lang. Da faßte ich meinen Plan: ich notierte mir diesen Auswurf einer Melodie auf Notenpapier, kündigte das Zimmer und begab mich in die nahegelegene Stadt, um das weitere vorzubereiten.

Hier trieb ich einen steinalten Drehorgelspieler auf, den ich mittels eines stattlichen Trinkgeldes für meine Zwecke einstudierte. Er war bei der Stadtjugend unter dem Namen »Torkel-Gottlieb« bekannt. Und in dessen Leierkasten ließ ich von der besten Instrumentenfabrik am Platze eine neue Walze einsetzen: eine Walze, notengetreu nach der Melodie, die ich mir aufgeschrieben hatte. Das ließ sich mit aufgelöteten Metallstiften sehr einfach bewerkstelligen, und die Mechaniker jener Fabrik leisteten mir das Verlangte in zwei Tagen.

Alsdann kehrte ich in den Kurort zurück und hielt Umschau. Richtig, dort auf einer Promenadenbank saß Tobias Flöhz, der berühmte Komponist, in tiefes Sinnen versunken. Ich setzte mich neben ihn, fest entschlossen, ein Gespräch mit ihm einzuleiten. Vorerst nahm er von meiner Anwesenheit nicht die geringste Notiz.

Das Kurorchester spielte Isoldes Liebestod aus Wagners »Tristan«. Ich klatschte Beifall und erzielte damit einen strafenden Blick aus den klugen Augen meines Nachbars.

»Bitte um Entschuldigung,« sagte ich, »wenn mein Applaus Ihr Mißfallen erregt haben sollte. Aber diese erhabenen Klänge wirken auf mich immer überwältigend.«

»Es gibt viele solche Leute,« entgegnete der andere. »Die Welt ist eben rückständig und hängt immer noch an den überlebten wagnerischen Schmarren!«

Ich gab mir einen Ruck: »Mein Herr! so dürfen Sie nicht sprechen! Wagner ist unübertroffen, und von allen lebenden Meistern reicht höchstens ein einziger an seine Größe heran: – Tobias Flöhz.«

Damit hatte ich ihn. Er lächelte mit bescheidener Arroganz, lüftete den Hut und gab sich zu erkennen: »Erfreulich, daß Sie diesen Namen nannten, – das bin ich selbst.«

Und nun begann er mir sein Zukunftswerk auseinanderzusetzen: die neue, fabelhafte, von einer einzigen Melodie getragene Oper. Er nannte sie »das Motiv der Unerhörtheit«. Die Welt würde musikalisch neugeboren werden, eben durch diese einzige, urgewaltige Melodie, die in wenigen Monaten wie eine Offenbarung auf die Menschheit einzustürmen bestimmt sei.

Wir hatten uns erhoben und schritten aus der Promenade durch den Park auf die Dorfstraße. Er merkte nicht, daß ich bei diesem Spaziergang die Führung hatte, denn er sprach immerfort nur von seiner erlösenden Oper, von seiner bis heute unerhörten Melodie.

Vor der Ausspannung der Ortschaft stand mein Torkel-Gottlieb mit seinem Dreh-Werke und leierte. Zuerst: »Kommt ein Vogel geflogen«, dann »Ach du lieber Augustin« und schließlich –

Entsetzen und Bestürzung malten sich auf dem Gesicht des Komponisten. »Was ist Ihnen denn?« fragte ich teilnahmsvoll; angststöhnend brach es hervor: »– – Meine Melodie! auf dem Leierkasten!!«

»Aber das ist ja gar nicht möglich! Was der arme Mann da werkelt, ist ja uralt! Und ich selbst besinne mich aus meiner Kindheit, da hat mir meine Amme schon diese Weise vorgesungen, und sie war mir schon damals zuwider.«

Um das Maß vollzumachen, befragten wir den Torkel-Gottlieb und erhielten die Auskunft: er habe seinen Leierkasten von seinem Großvater selig geerbt, der Kasten schleppe mindestens schon seine hundert Jahre mit sich herum.

Das genügte, um die Katastrophe zu vervollständigen. Herr Flöhz verschwand von der Bildfläche, mit ihm seine Oper. Wie ich neuerdings erfahre, hat er sogar das Komponieren überhaupt an den Nagel gehängt. Die Nachwelt hat alle Ursache, sein Andenken deswegen dankbarst zu feiern.

 


 


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