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Es ist mir nicht unbekannt, daß jede romanhafte Erzählung eine gewisse Bestimmung nach Ort und Zeit voraussetzt. Man will doch vor allem erfahren: wo und wann? Selbstverständliche Fragen, die der Erzähler, sofern er Tatsachen berichtet, mit auskömmlichen Antworten zu bedienen hat. Aber hier sitze ich schon bei der ersten Zeile in einem Ausnahmefall. Denn ich bin wirklich nicht in der Lage, bis auf Stunde und Tag genau anzugeben, wann diese Geschichte beginnt. Sie wird im Verlaufe ziemlich weit in die Vergangenheit schweifen, und hierzu wäre es wohl erforderlich, daß ich erst einmal den Gegenwartspunkt präzisierte, ein Jetzt, ein Heute. Und da möchte ich von vornherein um die Erlaubnis bitten, dieses Heute um ein paar Jahre über das eben giltige Kalenderdatum hinausschieben zu dürfen. Ich werde also in der Neuzeit anfangen und verstehe darunter eine zwar noch nicht erlebte, aber sehr nahe Zukunft; demzufolge in einer Umwelt, die sich von der allgemein bekannten nur in wenigen Einzelheiten unterscheidet.
Es wird hier streckenweis ganz real zugehen wie in einem Erlebnis, das mich selbst betroffen hat. Beinahe hätte ich gesagt: betroffen haben könnte. Aber das wäre eine Ausflucht gewesen, eine matte Verklausulierung des Gewissens. Wahr und wahrhaftig ist alles, was einem von der eigenen Anschauung als wahr und lebendig vorgehalten wird. Und in dieser Hinsicht brauche ich mir von der Realität der Geschehnisse nichts abhandeln zu lassen, auch wenn ein erhebliches Maß von Phantasie hineinspielt; zumal ich gar nicht mehr imstande wäre, die beiden Elemente nach irgend einem psycho-chemischen Verfahren zu trennen und auseinanderzuhalten. Wie sie sich aber durchdringen, verflechten und zu einer besonderen Tatsacheneinheit verschmelzen, das kann sich erst am Gang der Erzählung erweisen. Denn sie gehört, als Exemplar des Schrifttums genommen, zu denjenigen Büchern, bei denen der Anfang das Ende fast ebenso voraussetzt, wie das Ende den Anfang. Nur das eine möchte ich schon im ersten Ansatz versprechen: daß sich aus den bunten Handlungsteilen neue Erkenntnisse ergeben werden, vielleicht sogar die Anfänge einer neuen Lehre, die mit der Laterne der Wissenschaft in die Gefühlsgründe der Liebe hineinleuchtet.
* * *
Ich befand mich eines Tages in einer Kunstausstellung Unter den Linden, in einer jener vielzuvielen Schaustellungen, die der Berliner Kulturmensch besucht, weniger um sie zu sehen, als um sie gesehen zu haben; bisweilen auch, um gesehen zu werden; was sich aber hier nicht sonderlich verlohnte, da sich nur eine geringe Zahl von Schaulustigen eingefunden hatte. Im Publikum war nämlich die Kunde verbreitet, daß auf diesen Leinwandflächen so gut wie gar keine aufsehenerregenden Tollheiten zu sehen wären, daß man sonach nicht auf die Kosten käme, da man ja in anderen Ausstellungen wahre Orgien exzentrischer Neukunst genießen könnte. Tatsächlich, hier war ein akademischer Anstrich unverkennbar, zumal in den Bildern eines lebenden Meisters, der seine Motive aus dem antiken Leben geschöpft hatte. Das waren, soweit ich meinem Urteil trauen darf, recht gediegene Werte, so etwa im Stile des Alma Tadema, den man ja vor einem halben Jahrhundert bewundern durfte, ohne noch in den Verdacht der Trottelei zu verfallen. Und vor einem dieser Gemälde, »Horaz als Deklamator an der Tafel des Maecenas«, hatte ich Posto gefaßt, ohne im mindesten von einem anderen Individuum Notiz zu nehmen, das sich neben mich zur Betrachtung desselben Bildwerks hinpflanzte.
Lose Bruchstücke aus Horazischen Oden surrten mir durch den Kopf, und es war wohl ein assoziativer Vorgang, daß sich ein paar Verssplitter auf meine murmelnden Lippen verirrten: »Macenas atavis edite regibus . . .«; der andere lieferte die Fortsetzung indem er mit deutlicher Betonung ergänzte: »o et praesidium et dulce decus meum«. Der Träger der zweiten Stimme in diesem Duett war ein länglicher, ergrauter Herr, um den ein stark verjährter Havelock schlotterte. Für mich war der Nachbar ein Unbekannter, ohne Befugnis in mein monologisches Geflüster einzugreifen, während er selbst, wie sich sogleich herausstellte, das Zitat nur als einen Vorwand benutzte, um eine alte Bekanntschaft aufzuwärmen. Er sprach mich mit meinem richtigen Namen an, nannte den seinen: Xaver Gregory, und schien sehr verwundert, als ich auf seine duzende Anrede nicht augenblicklich mit der nämlichen Vertraulichkeit einsprang. Allein nach wenigen Sekunden dämmerte mir der Sachverhalt: der da und ich hatten in längstverschollenen, glücklichen Zeiten ein paar Wochen wirklich zueinander gehört. Wie hob sich das auf einmal aus dem Dunkel der Vergessenheit! Eine Ferienspritze frohgelaunter Jungburschen von Anno Olim!
Jetzt war mir der Sprung über die Jahrzehnte eine Kleinigkeit. Gleich kristallischen Strahlen schossen die Begebenheiten aus dem Unterbewußtsein ins Helle. Wo hatte das doch angefangen? Richtig, auf dem Bahnhof Appenweier. Dort war der aus der badischen Provinz stammende Studio Xaver Gregory zu mir in den Bummelzug gestiegen, und nach fünfzehn Kilometern hatten wir uns, kurz zuvor noch wildfremd, zu wackerer Strapazentour aneinandergeschlossen. Mit knappem Geld und enormer Unternehmungslust wollten wir das Schweizer Erdreich unter unseren Sohlen zerstampfen.
Im Kontrast eroberten wir uns die Sensationen. Auf den Pilatus stürmten wir zuerst, ich mit einem Kopfschmerz zum Schädelsprengen, mein Kumpan mit einer frischen Halsentzündung. Aber dieser Begleiterscheinungen achteten wir kaum in dem prasselnden Regen, mit dem uns die Urkantone begrüßten. Wir waren ausdauernder als die pathologischen und atmosphärischen Tücken. Nur weiter hinauf, aus dem Guß mitten hinein in den dicksten Nebel, direkt zum Wolkenthron des Jupiter Pluvius. Die Luft schien sich in eine Mischung von Molke, Dunst und Watte verwandelt zu haben und legte sich schwer und feierlich auf die Atmungsorgane. Da plötzlich, nahe am Tomlishorn, zerriß der Wolkenflor, ein geisterhafter Lichtbalken legte sich, von der verhüllten Sonne ausgehend, quer über die Vorberge; wie die Strahlen eines Scheinwerfers sich fortbewegen, so rückte der Lichtbalken weiter hinaus, bis er in äußerster Ferne die Spitzen der Berner Alpen ergriffen hatte. Finsteraarhorn, Schreckhorn und Jungfrau kamen mit verschwimmenden Umrissen zum Vorschein, wie Wölkchen unter Wolken, das ersehnte, traumhaft vorausgefühlte Panorama wurde lichtübergossene Wirklichkeit.
In den Armen lagen sich beide und weinten für Schmerzen und Freude. Es war uns zumute, als hätten wir selbst durch die Fernwirkung des heißen Wunsches in die starre Nebelmauer Bresche geschlagen, wir spürten das ganze Lustgefühl des Bezwingers und Eroberers. Dann begaben wir uns in eine Mansarde der Pilatuswirtschaft, machten Umschläge, ich um den Schädel, er um die Gurgel, und von Zeit zu Zeit fanden sich unsere Hände zu kräftigem Glückwunsch.
Vor soviel Jahrzehnten! Und jetzt stand derselbe Kumpan neben mir, ergraut und verkümmert. Die Chronik der Erinnerung beglaubigte ihn als meinen Freund, aber das lebendige Gefühl wußte nichts davon. Man nimmt keine Anhänglichkeit mit über so breite Zeitklüfte. Ich sprach »Du« zu ihm aus Höflichkeit, nicht aus Überzeugung, wie in einem atavistischen Rückfall, der überwunden werden mußte. Und dann erkundigte ich mich, ohne sonderliches Interesse, nach seinen Lebensschicksalen seit jener verklungenen alpinen Offenbarung.
Unser gemeinsamer Jugendrausch hatte wirklich die alte Schweizertour nicht überdauert. Unmittelbar darauf waren die Fäden gerissen, und jetzt erfuhr ich, daß der Studio von damals eigentlich zu den gestrandeten Existenzen gehörte. Er hatte sich durchs philologische Studium bis zur Habilitation durchgeackert und war schließlich auf der Göttinger Universität als Privatdozent untergekrochen. Einer von vielen Tantalussen, die den fruchtschweren Zweig der Professur zu Häupten erblicken, ohne ihn je ergreifen zu können.
»Worüber haben Sie denn – – – worüber hast du denn gelesen, Gregory?«
– Über altklassische Literatur. Exegesen zu Herodot, Thukydides, Plutarch usw. Ich war nämlich auf diesen Gebieten recht gut beschlagen, aber die Hörer wollten auf meine Vorträge nicht recht anbeißen. Ich dozierte vielleicht nicht blühend genug, ein bißchen zu schulmeisterlich, man verlangte damals vom Dozenten eine gewisse Eleganz, die mir versagt blieb, weil ich aufs Gründliche ging. Und da lichtete sich die Schar. Drei Zuhörer im Lehrsaal – tres faciunt colloquium –, ich las weiter, semesterlang, bis zu zweien, bis zu einem. Und dieser eine war eine Frau – meine eigene!
»Ach, Sie sind verheiratet?«
– Ich war's. Meine Frau hat das Hungermartyrium mit mir geteilt, bis sie verwelkte und dahinstarb. Sie war die letzte, die einzige Person, die in meinen Kollegien aushielt. Dann empfahl mir die Fakultät, auf die Fortsetzung meiner Lehrtätigkeit zu verzichten. Das waren zwei Leichenbegängnisse kurz nacheinander. Ich begrub meine akademischen Hoffnungen und stand vor dem Vakuum. Ich schrieb ab und zu gelehrte Abhandlungen, aber die hielten mich nicht über Wasser. Viele Jahre vegetierte ich als Korrektor in Druckereien. Aber endlich passierte mir ein Glücksfall: ich wurde Privatsekretär beim Professor Borretius . . .
»Und das genügte Ihnen?«
– Es genügt mir noch heute. Ich fühle mich ganz glücklich in dieser Stelle; sie ist materiell recht auskömmlich, und was die Hauptsache, sie läßt mir reichlich Zeit zu eigenen fruchtbaren Arbeiten. Das ist nämlich der Kernpunkt: meine neueren Studien bewegen sich in derselben Richtung wie die Untersuchungen meines Chefs, der, wie dir vielleicht bekannt, als eine Leuchte der Altertumsforschung gilt; und da mein Professor über höchst bedeutende Mittel verfügt . . .
»Hört, hört!« schaltete ich ein. »Ein Archäologe mit Glücksgütern – das ist eine Seltenheit!«
– Kannst ruhig sagen: ein Unikum. Mein Professor ist wirklich in der Lage, ganz aus dem Vollen zu wirtschaften, er betreibt das Wissenschaftliche mit der Freigebigkeit eines Mäcenas – der Vergleich liegt ja nahe, wir befinden uns ja gerade vor dem Bilde des Mäcen –, aber ganz stimmt es doch nicht, denn der Professor ist nur das sichtbare Organ eines verschleierten Medizeers, der hinter ihm steht . . .
»Bitte, etwas deutlicher. Was treibt eigentlich Ihr Arbeitgeber, und wie hängt ein hiesiger Professor mit einem Mäcenas oder Mediceer zusammen?«
– Das war doch nur bildlich gesprochen. Mein Professor ist der nämliche, der seit Monaten die großen Ausgrabungen auf Zypern leitet, und die enormen Geldmittel hierfür werden von einem dort ansässigen Krösus bereitgestellt.
»So, so, Zypern! Davon hat man ja neuerdings allerlei gehört.«
– Aber noch lange nicht genug. Es ist der leise Anfang, und erst in den nächsten Jahren wird die volle Resonanz für die staunende Welt durchdringen. Und nun stelle dir vor: ich als Sekretär und Adlatus des großen Archäologen sitze sozusagen an der Quelle der antiken Wunder, die dort aufsteigen! Eines ist mir ganz sicher: die berühmten Ausgrabungen von Pergamon, Mykenä, Theben sind ein Kinderspiel dagegen. Die wahre klassische Heilsbotschaft wird uns von Zypern kommen!
»Und Sie, Gregory, wollen daran mitgewirkt haben?«
– In gewissem Anteil allerdings, das darf ich ohne Ruhmredigkeit bekennen. Der Löwenanteil des Verdienstes gebührt natürlich meinem Professor, der mit unglaublichem Scharfsinn die hauptsächlichsten Fundstätten herausgewittert und bezeichnet hat. Allein da ist auch sehr viel Kleinarbeit zu verrichten, in Mutmaßungen, die sich auf antike Texte stützen, in Entzifferung der Inschriften, und darin habe ich allerhand geleistet. Ja, das darf ich wohl sagen, ich besitze ein Stöbertalent wie wenige. Weißt du, ich möchte den Professor mit einem Fernrohr vergleichen, und mich mit einem Mikroskop. Er hat das Durchdringende in die Weite, und ich das Aufhellende in der Nähe. Vorläufig war ich ja, abgesehen von den Textstudien in alten defekten Klassikern, die ich durch Kombinatorik ergänzt habe, auf Reproduktionen angewiesen, auf Abzeichnungen und photographische Proben freigelegter Steinschriften, aber nächstens komme ich an Ort und Stelle. Der Professor steht vor einer neuen Reise nach Zypern – zum fünften Male fährt er dorthin – und da nimmt er mich mit. Was sagst du dazu!
Diese Mitteilungen trafen in mir einen Seelennerv, der lebhaft zu schwingen begann. Es durchzog mich so etwas wie das Präludium zu einer Fuge, von der ich nur die Tonart, nicht aber die Klangstruktur zu ahnen vermochte. Zypern! Ein abseitiges, märchenhaftes Gebilde, in mythologischer Verträumtheit, verschwommen überhaucht vom abgeblaßten Goldglanz aphrodisischer Freuden! Aber das gehörte ja gänzlich einer unvordenklichen Vergangenheit an, in die man nur gelegentlich hinabsteigt, mit einem gedruckten Klassiker vor den Augen, wenn man einmal auf Stunden loskommen will von seiner eigenen fatalen Neuzeitlichkeit. Gab es wirklich außerhalb dieses Phantasielands noch ein gegenständliches, geographisches Gelände dieses Namens? Eine dem Reisenden von heute erreichbare Insel Zypern? Schwer vorstellbar. Die räumliche Entfernung ließ sich ja überbrücken, und wer dort archäologisch zu tun hat, der fährt eben hin; fährt in ein Land verwitterter Ruinen; läßt schaufeln und graben, stößt auf Mauerfragment und Säulenstumpf. Oder doch vielleicht auf mehr als traurige Reste; am Ende gar auf eindrucksvolle Monumente, die den ideellen Zusammenhang wiederherstellen . . .
»Sage, Xaver, was ist eigentlich der Hauptzweck dieser Unternehmungen? Aber sprich ohne den Überschwang eines Forschers, der mit gieriger Hand nach Schätzen gräbt und froh ist, wenn er Regenwürmer findet. Und erzähle mir nichts von Museumsgerümpel, sondern von wirklichen Bauwerken.«
– Es handelt sich in der Hauptsache um einen Tempel.
»Also natürlich um einen Venus-Tempel. Das wäre ja ein ganz lohnendes Objekt. Und wie weit seid ihr mit der Ausgrabung?«
– Weit genug, um mich und den Professor in der Taxe auseinanderzubringen. Er ist nämlich tief davon durchdrungen, daß dieses Heiligtum wirklich der Venus gehörte, während ich eine ganz andere Ansicht vertrete. Ich behaupte und glaube es beweisen zu können: es ist ein Minerva-Tempel.
»Das müßte sich doch durch den Augenschein feststellen lassen?«
– So denkt der Laie, der sich da eine fertige Sache vorstellt, eine völlige Wiederherstellung der alten Baugestalt. Aber die Grabungen sind doch kaum aus dem Rohesten heraus, und der Augenschein entscheidet da garnichts. Hier hat die Deutung mitzusprechen, und die verliert sich in so viele archäologische Knifflichkeiten, daß man dem Nichtfachmann gar keinen Begriff davon geben kann. Ich freue mich aber schon auf den Moment, wo Professor Borretius selber . . .
»Halt mal einen Augenblick!« Ich unterbrach mit Wort und Handbewegung, indem ich aus meiner Rocktasche einen Brief hervorzog, einen unter mehreren, die ich kurz vor meinem Ausgang erhalten hatte. Ich entfaltete das Schreiben, das in eine ziemlich unleserliche Unterschrift auslief, und zeigte es dem andern: »Du bist doch so stark im Entziffern, ist das am Ende dein Chef?«
– Wie seltsam! Eben reden wir lang und breit von ihm, und du weißt nicht einmal, daß er dir geschrieben hat. Darf man lesen?
Der Inhalt war nicht sonderlich aufregend. Nur eine kurze Notiz darüber, daß er sich gern mit mir über eine wissenschaftlich-künstlerische Angelegenheit unterhalten möchte, und die Bitte, ihm in diesen Nachmittagen eine Zusammenkunft zu bestimmen, bei ihm oder bei mir. Jetzt, da der Absender festgestellt war, kam mir auch die Unterschrift »Prof. Borretius« ausreichend leserlich vor.
– Was mag er bloß von dir wollen? meinte Gregory mit divinatorischen Fragefalten auf der Stirn. Bist du nicht neugierig?
»Ganz und gar nicht. Ich bekomme viel derartige Briefe, auch von Gelehrten, und weiß aus Erfahrung, daß bei solchen Unterredungen in der Regel nicht viel herauskommt. Hier nun vollends möchte ich sogar einen sachlichen Irrtum des Absenders vermuten. Wahrscheinlich setzt er bei mir irgendwelche Spezialkenntnisse auf seinem eigenen Gebiete voraus, und die Konversation darüber kann nichts anderes bringen, als eine Enttäuschung für ihn, und eine verlorene Stunde für mich.«
– Aber ein paar Minuten könntest du schon opfern. Wir befinden uns nur hundert Schritt von seiner Wohnung in der Schadowstraße, und wenn wir ihn jetzt besuchen, wissen wir doch sofort, woran wir sind.
Die Redewendung mit dem pluralisierenden »Wir« erschien mir als eine unzulässige Verallgemeinerung. Schließlich ging ihn doch meine Korrespondenz nichts an. Aber ich glitt darüber hinweg, entschloß mich zu dem kurzen Abstecher und wehrte seine Begleitung nicht ab. Nach wenigen Minuten waren wir beim Professor Borretius.
Ein Sanktuarium, wie man sich wohl die ehemaligen Arbeitsstätten eines Niebuhr oder Mommsen vorstellt. Von jenem mystischen Bücherduft durchwittert, der an die Studierräume reichdotierter Mönchsklöster gemahnt. Ein Monte-Cassino in vornehmster altberliner Gegend, freilich mit heidnischen Elementen durchsetzt, mit Trümmerstücken hellenischer Skulpturen, die wohl hier nur interimistisch aufgestellt waren, um später in ein Museum hinüberzuwandern. Die Feierlichkeit des Ortes wurde bald verweltlicht durch den Professor selbst, der zwar recht imponierend aussah – er erinnerte als Charakterkopf an Ernst Haeckel –, der es aber keineswegs darauf anlegte, den profunden Entdecker herauszubeißen. Kurzum, die Unterhaltung gestaltete sich bei einer guten Zigarre ganz gemütlich, zumal in ihren Anfängen, während späterhin allerdings aus dem erfreulichen Inhalt seiner Mitteilungen gewisse Bedenklichkeiten für mich aufstiegen.
Tatsächlich handelte es sich um Zypern, und ich erfuhr, daß Borretius vorhatte, mich zu einem längeren Aufenthalt auf dieser Insel zu veranlassen. Wie dies zusammenhing, und warum gerade ich in sein Projekt hineingeriet, das kann nur auf Umwegen erklärt werden.
Ich gehe gewiß in der Annahme nicht fehl, daß die Mehrzahl der Leser von der Neugestaltung der Insel nicht viel mehr weiß, als mir selbst vor den Erläuterungen des Professors bekannt war. Denn wir befinden uns, wie schon betont, nicht genau im Gegenwartspunkt, sondern um eine gewisse Zeitspanne vorgerückt. Was man allenfalls in den geographischen Handbüchern findet, ist in einigen Punkten überholt. Abgesehen von der auf türkischen Rückständen errichteten englischen Suprematie hat sich die Insel durch politische und gesellschaftliche Einflüsse erheblich internationalisiert; und diese Veränderung kommt besonders in Neu-Limisso zum Ausdruck, einer modernen Kolonie, die sich an der Südküste, von der alten Hafenstadt Limisso ausstrahlend, in rapidem Tempo entwickelt. Es bleibe ununtersucht, wieso sich an diesem Punkte eine Art von autonomem Gemeinwesen entfaltete. Genug, daß sich günstige Bedingungen zusammenfanden, um dem landschaftlich und klimatisch bevorzugten Ort zu einer raschen Blüte zu verhelfen. Man hatte hier eine neue, orientalische Riviera entdeckt, und aus der ursprünglich bescheidenen Siedelung war eine Ortschaft entstanden, die es an Reizen beinahe mit Nizza aufnehmen konnte.
Die von Borretius geleiteten Ausgrabungen befinden sich in unmittelbarer Nähe der Kolonie, die den Fortschritt dieser Forscherarbeit mit größter Teilnahme verfolgt. Unbeschadet ihres ganz modernen Kulturbewußtseins pflegen die Bewohner die geistigen Zusammenhänge mit der klassischen Altwelt, die mit so vielen eindrucksvollen Ruinen in ihre Gegenwart hineinragt. Wie denn überhaupt die geistigen Strebungen hier kaum eine geringere Rolle spielen, als die aus Bedürfnis nach weltlichem Genuß erfließenden. Hier versagt die Parallele mit Nizza; man könnte vielmehr feststellen, daß Neu-Limisso, das auch Neu-Amathus genannt wird, Anstalten trifft, um Perikleische Spuren aufzunehmen und sich einem athenischen Vorbild zu nähern. Es sind Ansätze zu einer Akademie vorhanden, deren Begründung auf die Initiative eines reichen Stadtbürgers zurückgeht. Kyprides, aus griechischem Geschlecht, ist heute eigentlich der ungekrönte König der Landschaft. Neben ihm amtiert zwar noch das Stadtparlament von Limisso, über ihm schwebt, ungesehen, ein britischer Resident; allein sein Krösusreichtum und seine Freigebigkeit gibt fast durchweg den Ausschlag, und in der Hauptsache geht es nach seinen Wünschen und Neigungen, von deren Ersprießlichkeit die ganze Kolonie Kunde gibt.
Bei seinem letzten Aufenthalt auf Zypern hatte der Professor von seinem intimen Gönner Kyprides den Auftrag entgegengenommen, für die aufkeimende Akademie einige neue Kräfte zu gewinnen; nicht sowohl Männer von professoralem Zuschnitt, als vielmehr Außenseiter von eigenwilligem Denktypus. Und hier ergab sich das Absonderliche, daß Borretius, der einige meiner Bücher kannte, auf den Einfall geraten war, ich könnte neben anderen, die er mir namhaft machte, für den erwähnten Zweck in Betracht kommen.
»Herr Professor,« sagte ich, »Ihr Vertrauen berührt mich selbstverständlich sehr sympathisch, allein ich weiß wirklich nicht, wie ich es verdient habe. Ich bin in meinen bescheidenen Hervorbringungen gänzlich von Papier und Tinte abhängig, ich arbeite nur in Klausur, und wenn ich vielleicht einiges aufzuschreiben vermag, was nicht auf begangener Heerstraße gefunden wird, so liegt mir doch die Tätigkeit des Dozierens recht fern; um so ferner, als ich aller Systematik abgewandt bin und in meinen Promenaden auf Grenzgebieten zwischen Wissenschaft und Schöngeisterei höchstens anregende Stoffe gefunden habe, dagegen nichts, was sich für einen zusammenhängenden Kursus eignen könnte.«
– Solche Kurse nach üblichem Schulschema wollen wir ja auch gar nicht einrichten. Uns schweben vielmehr dialogische Übungen vor, Extemporalien zur Erweiterung der Horizonte, und was Sie »auf Grenzgebieten« nennen, ist gerade das, worauf es uns ankommt. Mit Fachmagistern sind wir versehen, und es wäre uns ein Leichtes, noch viele andere aus aller Welt nach Limisso-Amathus zu locken.
»Das läßt sich denken, da das Geld für Honorare dort allem Anschein nach in Mengen bereit liegt. Ich kombiniere dies aus Ihren eigenen Mitteilungen und aus Andeutungen, die mir Gregory vor einer Stunde gemacht hat, als wir unsere alte Bekanntschaft auffrischten. Übrigens, da wäre doch eine vortreffliche Gelegenheit, um Herrn Gregory selbst auf einem Lehrstuhl in Zypern festzumachen?«
Der vormalige Privatdozent wehrte ab; er würde so etwas gar nicht annehmen . . .
– Er hat leicht verzichten, lachte der Professor, da er sehr gut weiß, daß ich ihn gar nicht freigebe. Er ist mir als Sekretär und Gehilfe in der Bibliothek und auf den Trümmerstätten weit wertvoller als in der Akademie. Aber Sie, wie gesagt, sollten hier zugreifen, und ich möchte den Angelhaken, den ich Ihnen auswerfe, gleich mit einem recht reizvollen Köder bespicken. Nämlich so: Nehmen Sie sich Zeit zur Überlegung und absolvieren Sie die Bedenkzeit auf der Insel selbst. Ich garantiere Ihnen freie Reise, freien Aufenthalt mit allem Komfort, und garantiere Ihnen vor allem herrliche Eindrücke. Das ursprünglich auf Athen, später auf Neapel gemünzte Sprichwort muß heutzutage zyprisch umgeprägt werden. Niemand darf sagen, er habe gelebt, ohne Zypern gesehen zu haben. Betrachten Sie also die Sache als eine höchst lohnende Ferienfahrt, und wenn Sie sich nach zwei Monaten mit Nein entscheiden, gut, dann soll keinerlei Verpflichtung für Sie bestehen. Erklären Sie sich nach zwei Monaten mit Ja, dann verabreden wir die weiteren Bedingungen, und es unterliegt mir keinem Zweifel, daß Sie sich als Dialogführer auf unserer Akademie ganz behaglich fühlen werden.
Hätte ich ahnen können, welche Dialoge mir auf dem zytherischen Eiland bevorstanden!!
Vorerst gelangten wir noch zu keinem Resultat, nicht einmal zu einem provisorischen. Alles blieb in der Schwebe, und ich bemühte mich, den Blick von dem verlockenden Köder abzuwenden. Ich verabschiedete mich bald mit höflichem Dank für eine mir verheißene Sensation, die sich nach aller Wahrscheinlichkeit nicht realisieren würde. Der Professor antwortete mit einem logischen Quersprung: Also dann auf Wiedersehen in Zypern!
Gregory begleitete mich bis an mein Haustor. Er schritt eine Weile stumm dahin, blieb plötzlich stehen und sagte: Du wirst sehen, ich behalte Recht! Es ist ein Minerva-Tempel!
»Das wird sich ja herausstellen,« entgegnete ich. »Nur irrst du dich in der Voraussetzung: ich werde es nicht sehen. Man entschließt sich nicht ohne zwingendes Motiv zu einer so großen und umständlichen Reise, und ich bin nicht in der Lage, meine hiesigen Arbeitsverpflichtungen durch improvisierte Ferien entzweizuschneiden. Ich hätte auch das Gefühl der Bedrückung, wenn ich mich zu einer immerhin kostspieligen Tour einladen ließe mit dem Vorgedanken: meine Gegenleistung wird ausbleiben.«
– Lieber Alex, meinte der andere, wer so ausführlich verneint, behält sich die Bejahung vor. Ich habe dich vorhin beobachtet, du sahst nicht aus wie einer, der glattweg ablehnt. Überschlafe dir die Sache ein paarmal, dann werden wir ja weitersehen.
Er pluralisierte schon wieder. Und um so eigenwilliger nahm ich mir vor, noch am selben Abend dem Professor einen bis ins Einzelne begründeten Verzichtbrief zu schreiben.
Ich verschob dies aber zu Hause auf morgen, auf übermorgen, und am dritten Vormittag meldete sich bei mir Gregory, sozusagen mit gezücktem Dolch. Unbildlich gesprochen: er kam als Borretius Beauftragter und schwenkte vor mir einige Objekte, die das Verlockungsmotiv im fortissimo wiederholten: erstens einen Fahrschein, gültig ab Berlin über Brenner, Florenz, Rom nach Brindisi; zweitens Anweisung auf eine Spezialkammer des Prachtschiffes »Velox«, das den Dienst zwischen Brindisi und Zypern vermittelt; dazu einen sehr respektablen Check, also eine Dreiheit von Elementen, die jene mündlich hingeworfene Garantie schon sehr real verkörperten. Und diese Vereinigung wurde mir mit der bündigen Formel vorgehalten: »Entweder – Oder«. Ich stand vor einem Ultimatum mit einer Befristung von fünf Minuten.
Und im Augenblick war es mir, als würde eine Menge von Gefühlswiderständen in meinem Inneren zersprengt. Nach mechanischen Grundsätzen wirkt ein Stoß unendlich mal stärker als jeder Druck, und hier stand ich unter der Wirkung eines motivischen Stoßes. Ja, ich spürte sogar, daß alle meine Bedenken und Verneinungen von vorher nur Masken waren, hinter die sich der eigentliche Wunsch verkrochen hatte. Ich vernahm einen Schicksalsruf, aus dem noch ganz anderes tönte als Reise, Losbindung vom Beruf und Sehenswürdigkeit; einen Fernruf wie aus einer anderen Welt, die tief unter der Oberfläche der Zeitlichkeit schwebend mir unwiderstehliche Antennen entgegenstreckte.
»Wann fährt dieser Dampfer Velox?« fragte ich den Xaver.
– Am dreißigsten März in aller Frühe. Du bist für die Bahnfahrt nicht an einen bestimmten Tag gebunden. Wir haben heut Montag; wenn du, sagen wir am Mittwoch die Fahrt beginnst, so kannst du in Florenz und Rom zusammengenommen eine Woche lang unterbrechen; sehr wenig an sich, sehr reichlich zum Genuß des Wiedersehens für einen, der wie du die Städte kennt.
»Und ihr beiden?«
– Wir bleiben noch einige Tage länger in Berlin; aber am dreißigsten, wie gesagt, gedenken wir von Brindisi loszusteuern.
»Bestelle deinem Auftraggeber meinen Gruß. Ich werde pünktlich zur Stelle sein. Er hat mich gefangen!«