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In diesem Gefühlsfrühling hatte Lais ihren neuen Park noch nicht für die Menge derer geöffnet, die Einlaß begehrten. Draußen tobten die Ägineten vor den Mauern, Jünglinge und Männer von Rang und Ansehen, und begriffen es nicht, daß man entgegen allen Traditionen die Tore verschlossen hielt. Sollte die Herrin im Banne klösterlicher Anwandlungen stehen? Oder sollte sich gar ein Begünstigter angefunden haben, der hier eine Odysseische Parodie mit der Spitze gegen die Freier aufzuführen beabsichtigte? Dem würde man das Handwerk schon legen kraft des Rechtes der Majorität. Die Besonneneren mahnten zur Geduld. Lais besäße keine Anlage, weder zu einer vermählten noch zu einer ledigen Penelope. Unterläge sie selbst zeitweiligen Hemmnissen, so hätte sie doch mit vielzuvielen Reizen der Freiheit ihre Jugend vergoldet, als daß sie imstande wäre, das Grau in Grau der einsiedlerischen oder zweisiedlerischen Abgeschiedenheit auf die Dauer zu ertragen.
Ehe diese Vertröster Recht oder Unrecht behielten, sorgte Lais auf ihre Weise für Zerstreuung. Sie lud schon in der ersten Woche ihres Aufenthalts die drei Herren zu einer frugalen Gartenpartie, und so finden wir sie mit Aristipp, Demokrit und Agenor an einem blumenbekränzten Tisch, an dem leichtfüßige Dienerinnen Früchte reichten und Wein krendenzten. Agenor hatte anfänglich in sich selbst etliche Bedenklichkeit verspürt. Er gab sich indeß einen weltmännischen Ruck und nahm sich vor, der Dame mit all der Freundlichkeit zu begegnen, die sie als Gutsnachbarin beanspruchen durfte.
Lais begann mit einer Entschuldigung. Die Tafel wäre doch wohl etwas zu ländlich ausgefallen; allein sie sei mit der Hauseinrichtung noch im Rückstand und könne an reichere Bewirtung erst denken, wenn ihr neuer aus Thurioi stammender Koch hier eintreffen würde.
Demokrit, der sich über eine enorme sizilische Ananas hergemacht hatte, meinte, dies hieße für die Zukunft Vortreffliches erhoffen. Zwar sei auch die Gegenwart appetitlich genug bedacht, allein von einem Koch aus Thurioi, dem vormaligen Sybaris, dürfe man mit Recht kulinarische Wunderdinge erwarten.
Nach meinem Geschmack, Dame Lais, – äußerte Agenor – zeigt schon dieses Gastmahl, das du frugal zu nennen beliebst, einen Anflug von Verschwendung. Und was deinen sybaritischen Koch anbetrifft, so gestehe ich, daß meine Sehnsucht nach ihm äußerst gering ist. Meines Erachtens müßte eine tüchtige Magd am Küchenherd, unter sorglicher Aufsicht der Hausherrin, völlig ausreichen, um alles Erforderliche zu leisten.
Ach Agenor, lachte Lais, da traust du mir Fähigkeiten zu, die ich ganz und gar nicht besitze. Sorgliche Aufsicht der Hausfrau – wie käme ich dazu, da ich ein Tier ebenso wenig schlachten, als auf der Pfanne braten sehen kann. Seit fünfzehn Jahren habe ich keine Küche betreten; und ich wüßte dir eher ein Rezept zur Bereitung einer Sapphischen Ode zu nennen als zur Herstellung einer Suppe.
– Es liegt aber im Beruf der Frau, sich darum zu kümmern. Schließlich, Lais, kann dich auch einmal das Verlangen anwandeln, aus dem Lärm des Tages zu den Penaten zu flüchten, in einen stillen Hausfrieden, vielleicht sogar an der Seite eines braven Mannes, falls der vorurteilslos genug ist, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. Es soll ja solche geben, obschon ich mich – ganz persönlich gesprochen – in dessen Rolle nicht hineinzudenken vermag.
Spare die Argumente, Agenor, rief Aristipp; man glaubt dir ohne weiteres, daß du dich nie entschließen könntest, eine Lais zu ehelichen, und du magst ihr glauben, daß sie sich mit dem Verzicht abfindet. Denn sie wandelt auf des Lebens Höhen wie eine Fürstin, und hat gar keine Veranlassung, sich an die Kette legen zu lassen. Das betrifft natürlich nicht deinen persönlichen Wert, den sie zweifellos so hoch einschätzt wie wir Männer. Aber nimm an, daß der oberste der Archonten von Athen sich um ihre Hand bewürbe, so stünden seine Aussichten nicht um ein Haar besser. Ja selbst ein Perikles dürfte sich keine Hoffnung machen. Aspasia ließ sich von dem Glanz des Gewaltigen blenden und heiratete ihn, nachdem er seine erste Gattin verstoßen hatte. Lais würde auch der Verlockung des Perikles widerstehen. Nimm die Beispiele woher du willst, sie ragt darüber hinweg. Die Hetäre Thargelia hat gewiß eine schöne Karriere gemacht: sie wurde durch Heirat Königin von Thessalien. Aber nicht einmal um den Preis eines königlichen Diadems wäre unsere freundliche Wirtin in das Schlafgemach eines Gebieters zu zwingen, auf dessen Thron sie nicht erhöhter stehen würde als in ihrer selbstherrlichen Unabhängigkeit.
Hier widersprach Lais: Es handle sich wohl nicht darum, absonderliche Fälle zu konstruieren, sondern die näherliegenden Möglichkeiten zu betrachten. Sie wolle gar nicht leugnen, daß der Gedanke einer dauernden Bindung ihr keineswegs völlig absurd erschien, und sie schon wiederholt, wenn auch nur in flüchtigem Vorübergleiten beschäftigt habe. Schließlich bliebe man doch nicht in alle Ewigkeit begehrenswert, und es zieme sich, auch die Tage ins Auge zu fassen, da sich die Zahl der Bewunderer lichten könnte.
Demokrit wiegte in scheinbarem Erstaunen das Haupt: Nur noch einen Schritt weiter, dann könnte ja der Kochmeister aus Sybaris kommen, um ein Hochzeitsmahl anzurichten. Nur würde meine Festrede, falls ich sie etwa als Alterspräsident halten sollte, etwas elegisch ausfallen. Ich stünde vor einer Tatsache, die es mir unmöglich machte, die Heiterkeit meiner Weltauffassung aufrecht zu erhalten.
Höre, Demokrit, man könnte zweifeln, ob dies ein Kompliment vorstellt oder eine Geringschätzung. Schließlich gibt es glückliche Ehen wie unglückliche, und ich möchte wissen, warum ich nicht imstande sein sollte, mit festem Willen einen einzelnen Mann, dem ich mich angelobte, glücklich zu machen.
– Liebe Lais, in dir regt sich der Wille, die Gesichtspunkte zu verschieben. Nicht darauf kommt es an, was der einzelne von dir zu erwarten hätte und du von ihm, denn das wäre eine ganz nebensächliche Angelegenheit gegen die weitaus größere, ob du dich als Bekennerin des freien Umgangs deinem Stande erhalten sollst. Das Hetärentum, wie du es vor uns verkörperst, wird nur sehr schwach, sehr unzureichend taxiert, wenn man es lediglich als eine vergnügliche, laxe Sittenform betrachtet. Es ist vielmehr eine Kulturerscheinung, die nach ihrem vollen Wert erst von der Zukunft erkannt werden wird. Du selbst, Lais, bist im Sinne der Kultur nur Trägerin eines Unbewußten. Das Bewußte wird die Erkenntnis sein, daß unsere Kunst, unsere Wissenschaft, unser Hellenentum in seinen feinsten Ausstrahlungen dich und deinesgleichen zur Voraussetzung hatten. Denn von der Geschlechtlichkeit hängt das Leben ab, und ohne die Besonderheit des Hetärenkultes hätten sich zahllose geistige Keime dieses Zeitalters gar nicht entwickeln können. Gibt man aber zu, daß die Hetäre eine Mission zu erfüllen hat, so gelangt man unvermutet an den Begriff einer Pflicht, an die Obliegenheit, nicht verkümmern zu lassen, was aus Besonderheiten des Reizes befruchtend für Geistigkeiten geworden ist. Eine Hetäre wie du, Lais, deren Person schon die Klasse symbolisiert, wird fahnenflüchtig, wenn sie ihren Stand verläßt. Sie begeht Verrat an einer Kultur, die auf Freiheit und Schönheit gegründet ist, die freie und schöne Standespriesterinnen verlangt, um die Möglichkeiten zu schaffen zur Geisteshöhe eines Protagoras, zur Kunsthöhe eines Praxiteles. Taucht sie in der Massengilde der Matronen unter, so gewinnt sie allerdings an Ehrbarkeit im Blicke der Stadtbüttel und der Verordner papierner Gesetze, nicht aber im Blicke der Erleuchteten, die den Zusammenhang der Erscheinungen überschauen und die wissen, daß mit der letzten Hetäre großen Stils auch der letzte Geistesglanz dieses Volkes dahingehen wird. Du wirst einräumen, daß solche Betrachtungen nicht geeignet wären, das Gerüst zu einer freudigen Festrede aus Anlaß deiner Hochzeit zu liefern. Ein Glück, daß ich sie nicht zu halten brauche, und daß du selbst, Lais, als Hohepriesterin deines Standes von der Unmöglichkeit dieses Anlasses genau so durchdrungen bist, wie ich.
Agenor geriet über diesen Erguß außer sich. Er wurde ganz irre an den elementarsten Dingen der Sitte und des Anstandes, und seine Stimme überkugelte sich im Ansturm der Widersprüche, die ihm massenweise über die Zunge sprudelten. Als das schlimmste empfand er, daß diesen Frauen so etwas wie besondere Würde, Ehre und Tugend zugewiesen wurde, gleichsam im Gegensatz zu den Matronen, die in dieser Abschätzung mit einer geringeren Stufe vorlieb nehmen sollten. Er wandte sich an Aristipp, wie er denn darüber prinzipiell dächte.
Ich vermute, sagte Aristipp, daß uns Demokrit über das Prinzip noch einige Lichter aufstecken wird, und ich möchte seiner Weisheit nicht vorgreifen; denn man könnte auf Rechnung meiner genußgierigen Jugend setzen, mir also schief auslegen, was in seinem Munde solcher Mißdeutung entrückt sein wird. Unser Anfangsthema, ob die Ehe für Lais überhaupt in Betracht kommt, halte ich für eine Frage ohne Substanz. Ich könnte dazu auch keine richtige Stellung nehmen, denn ich bin als ihr augenblicklich bevorzugter Freund Partei, und es wäre leeres Getue, wollte ich vor euch verbergen, was sie selbst nicht im geringsten verheimlicht. Sollte aber die Frage den Nebensinn haben, wie ich angesichts der Ungebundenheit ihres Standes mit meinem Herzen fertig werde, so kann ich nur wiederholen, was ich stets denke, wenn ich sie ansehe: Sei was du willst, nur bleibe wie du bist. Sei wie der Zephyr, an den ich nie das Ansinnen stelle, er solle für mich allein wehen. Wie freudlos wäre die Welt, wenn die Natur dem Einen vorbehielte, was als natürliche Wohltat für so Viele ausreicht! Auf den Lippen einer schönen Frau blühen Myriaden Küsse, eine Ernte von Küssen, die ein Reich versorgen könnten . . .
Nur daß der Kuß entwertet wird, wenn die Spenderin ihn verallgemeinert, – schaltete Agenor ein; und gegen diese Entwertung gibt es nur eine Hilfe: das Sittengesetz, das den Mund der Frau ausschließlich dem berechtigten Gatten öffnet und für jeden andern versiegelt.
Ich zweifle sehr, sagte Demokrit, ob dieses Gesetz von der Natur verordnet worden ist. Denn die Natur ist eine Poetin, sie dichtet in Reizesfülle und wehrt sich gegen die Prosa der Reizverkümmerung. Für ihre poetischen Zwecke braucht sie den Wettbewerb, zeichnet sie im Großen das Prinzip vor, das Homer und Sophokles im Kleinen nachschaffen, braucht sie den Eroberungsdrang von Sekunde zu Sekunde, – und wie sollte man erobern, was man schon besitzt, was man als der legitime Herr eingesperrt hält? Was der Praktiker Staat verordnet ist allemal unpoetisch, hart wie der Stein, in den er seine Statuten eingräbt, und das Poetische kann sich erst entfalten, wo die starre Satzung durchbrochen wird. Diese will Oberherrschaft des Mannes und verstößt damit gegen die Grundnorm der Schönheit, gegen die Symmetrie, denn die Kategorien Mann und Frau sind im Plan der Schöpfung nicht nach Oben und Unten, nicht als Last und Stütze vorgesehen, sondern als symmetrische Teile des Bauwerks Anthropos gedacht. Aber nachdem wir einmal aus Staatsräson den Schwerpunkt verschoben haben, hilft sich die dichtende Natur, indem sie einen zweiten Schwerpunkt hinzuerfindet, um die zerstörte Symmetrie wiederherzustellen. Sie entwirft neben dem Männerstaat ein Zauberreich mit der Suprematie der Frau, mit einer illusionären Verfassung, in der die Frau vergöttlicht wird. Hier finden wir lebendig dargestellt, was uns sonst nur die Phantasie erleben läßt. Es ist keine grammatische Laune, kein bildnerisches Ungefähr, daß uns die Schönheit, die Freiheit, die Glückseligkeit, die Gerechtigkeit, ja sogar die Tugend und die Tapferkeit als Frauenfiguren vorschweben. Im Femininum selbst steckt das vergöttlichende Symbol, und so gewährt es uns eine Lust ohne Gleichen, in dieses magische Reich zu blicken, uns darin zu betätigen und in ihm unsere Wettkämpfe zu bestehen, um von Frauenhuld gekrönt zu werden. Es ist ein Reich olympischer Spiele, ohne Anfang und Ende, ohne vorgezeichnetes Programm, und jeder olympische Sieg, den der Mann hier erstreitet, ist zugleich ein Sieg über das Vorurteil der staatlichen Satzung; denn er empfängt den Preis aus der Hand einer Frau, die außerhalb der Ehe steht. Eng ist das Gebiet dieses Reiches, aber inhaltsvoll, und der Mann, der es betritt, muß dauernd sein Vorzüglichstes aufbieten, um auch nur seine Aufenthaltsberechtigung nachzuweisen. Der Vorsatz »Aien aristeuein«, »Immer der Beste sein und den Vorrang zu haben vor anderen« gewährt ihm die Möglichkeit, noch lange nicht die Gewißheit des Verweilens. Im Grunde genommen geht es hier strenger zu als in der ordnungstüchtigen auf Sittenstrenge errichteten Republik, ja in gewissem Betracht überragt die kraft ihrer Schönheit regierende Frau sogar den Despoten. Denn der herrschende Mann braucht immer noch eine sichtbare Macht hinter sich, er stützt sich auf Waffen in den Händen anderer. Bei der herrschenden Frau erfließt die Macht aus ihr selber, sie ist Trägerin einer Naturgewalt, gegen die es keine Berufung und keinen Widerspruch gibt. Ich sagte eben »außerhalb der Ehe« und bezeichne damit ein Gebiet, das nicht wie das Ehegemach von wohlbehüteten, undurchsichtigen Mauern umgrenzt wird, sondern in freier Sonne liegt, zugänglich allen Buntstrahlungen aus prismatischen Wünschen und Begierden. Die Bewohnerin des Gynäceums, die Matrone, lebt im Besitz gesicherter Privilegien, empfängt in spärlicher Berührung mit der Außenwelt nur Zeichen der Achtung, ist staatserhaltendes Element und muß diese Vorzüge mit schwerem Tribut an das andere Gebiet bezahlen. Sie ist die Hüterin einer unverbrüchlichen Statik, drüben waltet im freien Spiel der Kräfte die Dynamik. In ihrem Raum wird ein von Natur auf Sekunden gestellter Trieb pedantisch zu Schlafnächten verlängert, und es ereignet sich nicht selten, daß dabei das Fluidum Liebe käsig gerinnt. Drüben bleibt es in stetem beweglichen Fluß, und allen Staatsmoralisten zum Trotz bevorzugen sogar die klassischen Dichter das bedenklich romantische Gelände. Homer rühmt Andromache als Frau, als Mutter, als Trägerin eines Staatsgedankens, allein seine Farben geraten üppiger, wenn er Kalypso malt. Es bleibt immer der Abstand wie von Stube zu Grotte, wie von Bürgerlichkeit zur Naturpoesie. Und bei aller Sehnsucht nach der sinnigen Penelopeia weiß doch Odysseus das Transzendente in der Umarmung der göttlichen Nymphe vollauf zu würdigen. Ja selbst die Sehnsucht nach der Legitimen betäubt sich in den Freudennächten bei der Circe bis zu dem Grade, daß ihn erst die Gefährten nach einem Lustjahr mahnen müssen, sich doch endlich des Vaterlandes zu erinnern . . .
Da sind wir beim Kernpunkt, bemerkte Agenor bitter; schon die Fabel liefert da das kritische Stichwort, denn Circe verwandelte eben die Menschen in Schweine, und so unterlag auch Odysseus einem viehischen Zauber.
– Es bleibt dir unbenommen, das Sinnliche so zu bezeichnen. Nur besteht die Tatsache, daß bei den Nachfolgerinnen der Circe das Sinnliche sich immer mehr vergeistigte, und daß ihre Verführung mit Kunstmitteln operieren lernte, die geradezu eine Abkehr vom rein Animalischen darstellen. Wie mag es wohl kommen, daß wir gerade die geistreichsten Philosophen und Künstler in ihrem Gehege finden? Wollen wir im Ernst annehmen, daß bei ihnen der materielle Lustdrang alle anderen Triebe überwucherte? Das liefe auf einen verhängnisvollen Sprachschnitzer hinaus, denn es hieße den Hedoniker einfach dem Lüstling gleichsetzen. Die Hedone aber, die freudige Stimmung, ist an sich sehr verschieden von der voluptas und libido, und wer das nicht auseinanderzuhalten vermag, der entbehrt des Urteils sowohl über den Hedoniker wie über die Frau, der er seine hedonischen Anregungen verdankt. Erst damit gelangen wir an den Kernpunkt der Sache. Unsere neuen Circen, die großen Zauberinnen und Verführerinnen, haben nämlich eine Sendung, die sie weit heraushebt über die feile Zunft der Venuspriesterin.
Es sind da mehrere Schichten übereinander gewachsen, und man könnte annehmen, daß jede den Humusboden bereitet für das Aufsprießen einer veredelten Klasse. Das Element der untersten Schicht, die in Scharen umherschweifende Dirne, die Porne, macht auf künstlerische Wertung keinen Anspruch. Sie ist einfach eine soziale Notwendigkeit, den Kausalitäten des Lebens unterworfen, und ihre zuständigen Gottheiten sind Äskulap und Hygiea, während der Hofstaat der Venus kaum für sie in Betracht kommt. Hier wird nicht gezaubert, sondern gehandelt nach den Grundsätzen von Nachfrage und Angebot, und keinem Vernünftigen wird es einfallen, an einen Liebesgarten zu denken, wo sich nichts anderes öffnet, als ein Markt. Aber selbst die Porne, sofern sie gesund ist und das Verlangte leistet, kann sich noch auf einen Charaktervorzug berufen, denn sie handelt ehrlich, nach einfacher Arithmetik, während die ehrbare Geschlechtsschwester, die geheiratet sein will, oft genug nach einer höheren Algebra verfährt, die den Spekulationsvorteil künstlich verschleiert. Gerade weil der Zauber, die Illusion bei der Porne keine Rolle spielt, tritt bei ihr ein Zug wie von Zunft-Anständigkeit hervor, sie operiert nicht mit den Giften der Liebe, mit Hinterhalt, List, Vorspiegelung, Betrug, und erspart dem Partner fast durchweg die Enttäuschung, die Reue, kurz die Seelenbeklemmungen, die sonst vom Erotischen unabtrennbar auftreten. Jedenfalls schließt ihre Rechnung bei der Ethik mit einem Guthaben. Denn so tief man sie auch klassifizieren mag, bestehen bleibt, daß die Masse der Unreinen einen Schutzdamm bildet gegen animalische Brandung, die sonst manche Reine überspülen und umreißen würde. Eine Schicht darüber beginnt der Anschein des Zaubers: das Dirnentum beginnt Blüten anzusetzen, wächst in die Klasse des niederen Hetärentums. Hier regen sich Ansprüche, mit dem ehelichen Haus in Wettbewerb zu treten und dieses an Reizungen zu überflügeln. Allein obschon hier an die Stelle des Marktpreises der Affektionswert tritt, erscheint es doch fraglich, ob der Ausdruck »Hetäre« hier schon an richtiger Stelle steht. Der Sprachgebrauch verfährt da ungenau, und man sollte noch einige Zwischentitel einschalten, etwa Phile, Eromene, Helix, Sympaistria – Geliebte, Gespielin –, um das große Prädikat auch wirklich für die Großmeisterinnen des Faches aufzusparen. Denn diese werden in der vorbereitenden Schicht noch nicht angetroffen, wohl aber Individuen, die sich über das Handwerksmäßige erheben und auf dem Wege zur Kunst wenigstens das Kunsthandwerk erreichen. Sie sagen sich von der wahllosen Nächstenliebe los, sie wählen selbst, sie individualisieren und schaffen sich eine Bühne, auf der sie Eigenrollen zu verkörpern haben. Hier werden sie Fachmänninnen der Erotik, die mit heiterer Maske ernsthaft ergründen, was zur Sache gehört, und die aus den Variationsmöglichkeiten des Faches ein Studium machen. Die zahllosen Fehler und Stümpereien, wie sie im matrimonialen Verkehr an der Tages- und Nachtordnung sind, kommen bei ihnen nicht mehr vor. Sie verfügen über ein großes Register negativer Eigenschaften, deren positive Gegenbilder sie den ehrbaren Dilettantinnen überlassen. Die Helix oder Sympaistria läßt sich nicht gehen, wird nicht salopp, sie gähnt und schnarcht nicht, sie übermüdet den Gefährten nicht, und hütet sich ängstlich vor der Grenzlinie, jenseits deren der vertrauliche Reiz degoutant wird. Im positiven Sinne betreibt sie eine Inszenierungstechnik ihrer Persönlichkeit, die nur unter Mitwirkung besonderer, von den Grazien eingegebener Instinkte möglich wird. In Haltung und Gang, in Kopfbewegung, Augenspiel, Atem, im ganzen Muskelmechanismus zeigen sich melodiöse Züge, die sich zwar von der Natürlichkeit ein wenig entfernen – wie ein Virtuosenvortrag von Amselschlag und Quellenrauschen – die aber doch eine reichere Skala von Lockungen umfassen, als die des Naturkindes; zumal sie auch die Note der Naivität auf dem Wege verfeinerter Kunst zu treffen wissen. Die Pflege des Körpers und der Kleidung, die Absicht und Absichtslosigkeit im Tragen des Zierats, der Eifer, in Äußerlichkeiten immer die gegenwärtige Sekunde des Lebensfestes zu betonen und dabei doch den Anschein des Geflissentlichen zu vermeiden, diese ganze Disziplin im Großen und noch mehr im Kleinen läßt darauf schließen, daß ihnen die Kenntnis von den Differentialwirkungen im Blute sitzt; von den unfaßbaren Kleinwirkungen, deren Summe ein mächtiges und wirkliche Leidenschaft erregendes Liebesintegral liefern kann.
In ihrer Kunst vollends, zwischen Verhüllen und Entschleiern alle Lichter spielen zu lassen, mit einem Minimum anscheinend zufälliger Entblößung ein Maximum der Begierden zu entzünden, zeigen sie sich als Hellseherinnen, die Hesiods Lehre begriffen haben: »die Hälfte ist mehr als das Ganze«; ja sie verstehen es, schon ein Hundertstel zum übervollen Wirkungsbetrag zu steigern, eine Fähigkeit, die in den Pflanzstätten der keuschen Tugend niemals erworben werden kann.
»Weil es die keusche Tugend verschmäht, mit derlei Lupanar-Künsten zu arbeiten,« rief Agenor dazwischen, »und weil ein Zug der keuschen Tugend wertvoller ist als alle Zweideutigkeiten in Gebärden und Worten, mit denen diese raffinierte Gilde ihre Erfolge bewerkstelligt.«
– Du hättest recht, lieber Freund, wenn in deiner Äußerung ebensoviel Wahrheit steckte als Pathos. Allein pathetisch vorgetragene Sentenzen treffen nur selten das Richtige. Zu einer richtigen Abwägung gelangen wir vielmehr nur dann, wenn wir uns ganz unparteiisch die Frage vorlegen, ob denn das Bildungsniveau durchschnittlich hüben oder drüben höher liegt. Und da muß ich zu meinem Leidwesen bekennen, daß mir die Geschlechtstugend als Nährboden für Bildung recht unzulänglich erscheint. Dies ist vielleicht eine Folge des Energiesatzes im Naturganzen. Der Tugend wird ein so überlastendes Gewicht von Würde und Ansehen zugemessen, daß sie zur Erhaltung des Gleichgewichts mit einer entsprechenden Abgabe herangezogen werden muß. Und je höher wir sie ins Niveau der Verehrung rücken, desto stärker offenbart sie ihre eigene Unbeweglichkeit, die Oberstufen der Bildung zu erklimmen. Jene Abgabe wird vom Geist und vom Interesse eingezogen, mit der Folge, daß das geistig Interessante fast ausschließlich auf der Gegenseite der Tugend angetroffen wird. Im gesellschaftlichen Verkehr hat die Unschuld eine schwere Zunge, und ihr würden auch geläufigere Sprechorgane nicht viel helfen, da ihr nichts Interessantes einfällt. Die Probe auf das Exempel liefern schon die Platonischen Dialoge, in denen es von Tugendbetrachtungen wimmelt und die immer da am langweiligsten werden, wo sich die blanke Tugend ohne Nebenklang vernehmen läßt; weil nämlich ihr reiner Klang ohne die gefälligen Schwebungen und Obertöne des Lasters ganz monoton und farblos ausfällt. Man könnte einwenden, daß ja bei Plato nur die Männer reden, daß nur gelegentlich wie aus weiter Ferne die Stimme einer Diotima dazwischenklingt, und daß die Sache bei einer bunten Reihe der Redenden interessanter werden könnte. Weit gefehlt! Man denke sich disputierende Weiber hineingesetzt, dann würde die Debatte noch weit trostloser verlaufen, ja gänzlich versanden, weil unsere griechischen Frauen von der ehrbaren Kaste nicht einmal imstande wären, zu verstehen, wovon dort überhaupt die Rede ist. Ihre Erziehung ist so ausschließlich auf den Ehezweck gestellt, so einseitig auf das Kindererzeugen, Mägdebeaufsichtigen, Webstuhl- und Spinnrockenbesorgen, daß dieses Höchstmaß der Hausfrauengüte deren Inhaberin notwendig auf dem Nullpunkt der Geistigkeit festhält. Wie hat sich nun diesem Mißstand gegenüber der junge Mann zu verhalten, der strebende, in dessen Gehirn fortwährend organische Substanz zu Intellekt verbrennt? der mit jedem geistigen Atemzuge das Bedürfnis verspürt, einen Austausch von männlicher und weiblicher Denkseele herbeizuführen? Im Kreise der Ehrbaren kann er dies nicht einmal versuchen, denn diese schleppen ihr Gemach wie die Schnecke ihr Haus auf dem Rücken herum und verschwinden im Gynäceum bei der bloßen Annäherung. Zum Glück für den Strebenden, denn wäre es diesem vergönnt, miteinzutreten, so würde er darin vor langer Weile ersticken. Also: Flucht in die Öffentlichkeit, Flucht in den Garten, wo die reizende, im Männerumgang geschulte und in erweiterte Horizonte blickende Genossin seiner wartet; wo hundert Themen angeschlagen werden können, die ins Funkeln geraten, wenn sie im Doppelschliff zwischen Mann und Weib leuchtende Fassetten gewinnen. Und hier steigen wir in die Oberschicht der auserwählten Freundinnen, der Edelhetären, die noch mehr verstehen, als nur anmutig zu plaudern. Sie stellen eine Klasse für sich dar, äußerst schwach an Kopfzahl, an den Fingern einer Hand herzuzählen, aber jede einzelne eine Potenz in unserem Geistesleben, ein Kristallisationspunkt, dessen Wichtigkeit man nicht überschätzt, wenn man ihn als Kulturwert erster Ordnung ausruft.
»Höre, Demokrit, ich möchte mich doch mit dir verständigen. Denn jetzt sprichst du ja von Angelegenheiten der Bildung, und ich habe gar nichts dagegen, daß eine Dame, die sich in Ungebundenheit bewegt, einen Teil ihres Schlaraffenlebens auf die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft verwendet, anstatt es ausschließlich mit Frivolitäten auszufüllen. Also zugegeben, sie soll sich soweit entwickeln können, daß sie einer anständigen Unterhaltung zu folgen vermag. Soweit komme ich dir entgegen, ich verlange aber dafür, daß du von der schwindelhaften Höhe deiner Taxe herabsteigst.«
– Nein, Agenor, du mußt ganz zu mir heraufkommen. Ich beabsichtige nämlich auszuführen, daß eine solche Dame im geistreichen Gespräch nicht nur als gleichwertige Partnerin auftritt, sondern als die eigentliche Betrachterin sublimer Gedanken; so zu verstehen, daß viele der besten Eingebungen ohne sie gar nicht ans Licht treten würden . . .
»Du redest von ihnen wie von Präsidentinnen einer Akademie.«
– Das wäre mir zu wenig. Denn der akademische Magister kann nur überfließen lassen, was in ihm bereits vorhanden. Die Edelhetäre aber besitzt die wunderbare Eigenschaft, den Besitzstand des Kreises zu mehren. Sie weckt latente Kräfte, ohne sich in lehrhaften Vorträgen zu verausgaben, die man ja auch vernünftigerweise garnicht von ihr erwartet. Ihr Genre ist von besonderer Art: sie erfindet nicht, entdeckt nicht, produziert nicht aus Eigenem, aber ihre Anwesenheit holt aus der Umwelt das Sublime hervor; sie wirkt – wie ein »Katalysator«.
»Weißt du, Argelander,« – unterbrach ich – »beinahe hätte ich Lust, dem Gesprächsgegner Agenor Hilfe zu bringen, denn dein Demokrit kommt ihm mit Argumenten, deren Inhalt ihm ganz fremd sein müssen. »Katalysator«! das ist doch ein Begriff der neuzeitlichen Chemie, und ich vermute, daß du dem Philosophen etwas in den Mund legst, woran er selber im Garten der Lais noch gar nicht gedacht haben kann.«
– Bist du wieder einmal bei der kalendarischen Einstellung? sagte Aristipp; muß ich wiederholen, daß die Erleuchteten in der Zeit vorausfühlen? und daß Kenntnisse, die du späteren Epochen zuweist, schon in der Urzeit vorhanden waren? In den geistigen Errungenschaften herrscht ein ewiger Turnus, für dessen Aufdeckung uns Demokrit in mancher Hinsicht das Beispiel bietet. Nicht vergebens hatte er in Ägypten geforscht, und dort, in Memphis bei den weisen Priestern des Ptah, hatte er bereits den Anstoß empfangen, der ihn zum Begriff der Katalyse führte. Er nannte ihn freilich anders, er gebrauchte den Ausdruck »Synapsis«, aber er meinte in der Sache dasselbe, und seine Erläuterung ließ darüber keinen Zweifel. Vergegenwärtigen wir uns den Vorgang: Wir verstehen unter »Katalyse« die wunderbare Tatsache, daß ein Körper lediglich durch seine Gegenwart in seiner Umgebung auffällige chemische Aktionen hervorbringt. Verbindungen, aufflammende Gluten, Explosionen, ohne sich sozusagen persönlich daran zu beteiligen. Die Vorbedingungen hierzu sind in andern Substanzen vorhanden, als ob sie in heimlicher Liebe zu einander strebten; aber die Verbindung, der chemische Effekt, kann nur erfolgen, wenn der Katalysator als Überbringer eines stummen Segens auftritt. So etwa wirkt poröses Platina auf die Entzündung eines Gases, das den Zündwillen schon in sich trägt, ihn aber nicht betätigen könnte ohne die Hilfe des Platins, dessen bloße Gegenwart die flammende Möglichkeit zur flammenden Wirklichkeit verdichtet. Der Katalysator braucht nicht einmal eine Substanz zu sein, nur ein Etwas mit auslösender Wirkung. Der Finger, der eine Abziehvorrichtung leise berührt, ist Katalysator für einen Schuß, dessen Kraftwirkung den Anfangsdruck unendlich übertrifft. In Stahl und Stein steckt Feuer; aber es bleibt darin tot und verborgen, bis ein Schlag es lebendig macht. Die Analogie liegt nahe und läßt sich vom Physikalischen zum Psychologischen leicht vollziehen: jede gedankliche Anregung, die sich im Effekt weit über das vorauszusehende Maß auswirkt, ist ein Katalysator. Es kommt nicht darauf an, ob die Anregung an sich gewaltige Züge trägt und aus einem ungewöhnlichen Gehirn ausströmt; nur darauf, daß sie auf Ideen trifft, die ringsum dämmern und auf Erregung warten. Alles gedanklich Bedeutsame kann hierdurch heraufgeholt werden, denn das Sublime ergibt sich immer aus mehreren Ideen, die zuerst isoliert lagen und ihrer Affinität nicht bewußt waren. Da weckt plötzlich der Anstoß die Verwandtschaft, und in glühender Reaktion wandelt sich das dämmernde Nebeneinander zum offenbarenden Funkenspiel. Fast alle Geisteserrungenschaften, mathematische, physikalische, philosophische Erkenntnisse, selbst künstlerische Neuschöpfungen sind durch solche Akte überspringender Ideen entstanden, und eine genaue Analyse würde dies in jedem Fall erweisen, selbst bei denkerischen Großtaten, wie Atomlehre, Sphärenharmonie und Himmelsmechanik . . .
»Immer mit dem Vorbehalt,« – ergänzte ich, – »daß das eigene Denken dabei die Hauptrolle spielt, daß also der Forscher oder Künstler den auslösenden Katalysator schon in sich selbst trägt.«
– Gewiß, bestätigte Aristipp. Allein, was unser Demokrit damals ausführte, gründete sich auf die Wahrnehmung, daß eine Menge schöner Gedankenerzeugnisse nur im Wechselstrom zustande kommen, bei denen der Mann die Energien bereitstellt, die sich in Gegenwart der Frau entladen. Das Auge der Frau muß den Vorgang sonnenhaft bestrahlen, damit sich die Ideenkelche öffnen. Auch dieses Gleichnis läßt sich verfolgen: die Sonne selbst geht garnicht mit organischen Ideen schwanger, allein ihr Blick ist nötig, damit aus vorgebildeter Substanz eine Zeder, Palme oder Rose hervorkeime. Nur daß sich zu dieser Befruchtung die tugendsame Frau aus Attika, Böotien und Elea ganz und gar nicht eignet. Diese vermag nur ihre eigene Brut aus persönlichem Schoß hervorzubringen, aber nichts, was an männlichen Gebäraktus erinnert, an eine Pallas, die aus dem Manneskopf hervorsteigt. Aber die Hetäre höchster Klasse ist hierzu befähigt, vermöge der Spannung, die ihre Gegenwart dem Verkehrkreise erteilt; und je weniger sie darauf bedacht ist, ihre Körperlichkeit fortzupflanzen, desto zahlreicher wird ihre Nachkommenschaft an Intellektwerten.
»Merkwürdige Wochenstuben sind das, mit trächtigen Männern und mit jungferschlanken Kurtisanen als Hebeammen und Gevatterinnen! Vielleicht haben eure geistreichen Huldinnen die Technik von Sokrates gelernt, der doch mit seiner sogenannten ›Maieutik‹ auch den Geburtshelfer spielte.«
– Spielen wollte, wäre richtiger. Denn was Sokrates mit seiner »Hebeammenkunst« vorhatte, das Herausholen richtiger Begriffe aus der Seele seiner Schüler, das ist ihm nicht gelungen; konnte ihm nicht gelingen, da die Schüler, die er mit peinlichen Frage-Zangen bearbeitete, gar nicht entbindungsreif waren. Seine Methode beschränkte sich also darauf, taube Nüsse und Nullitäten aus den Zöglingen hervorzuziehen, falls er nicht in die Wochenbetten allerlei holzige Knollen praktizierte, die auf seinem eigenen Beete gewachsen waren und ihm als saftige Früchte erschienen. Nein wirklich, in allen Unterhaltungen um Lais habe ich niemals etwas vernommen, was auch nur einen Anklang an die pedantische Quälerei des Sokrates aufwies. Dagegen bewährte sie sich als Meisterin in der Kunst, Probleme zu stellen, wie absichtslos, durch diskrete Wendungen in der Konversation, denen man zuerst garnicht anmerkte, daß sie in problematische Gebiete führten. Ja, ich bin sogar davon durchdrungen, daß sie selbst nur durch ihr instinktiv-geniales Gefühl für Takt, für den Rhythmus der Unterhaltung an solche Wendungen gelangte, und daß sie ebenso überrascht war wie wir Männer, wenn sich im kürzesten Anschluß plötzlich ein Problem erhob. Dann verstand sie zu schweigen, während unter uns die Debatte züngelte, in Lösungsversuchen, die ganz abgesehen von ihren Ergebnissen immer wieder neue Prospekte erschlossen. Wir bewegten uns dann auf einem Felde, auf dem man allenfalls einen Fehlschluß wagen durfte, aber ganz gewiß keine Dummheit, keine wortschwülstig aufgedonnerte Tautologie nach Sokratischem Rezept. Und mancher Intellektuelle mag später in stiller Beschaulichkeit weiter ausgearbeitet, in Schriften vervollständigt haben, was er im Anfang dem katalysatorischen Anstoß der Hetäre verdankte.
»Wenn du mir nur ein Beispiel nennen könntest, wo die freie Dame über die bloße, halb unbewußte Anregung hinausging, eine Probe besonderen Scharfsinnes, aus dem zu entnehmen wäre: sie witterte nicht nur die Denkaufgabe, sie vermochte sie auch zu bewältigen?«
– Damit kann ich dir dienen, – belehrte mich Aristipp – und hier schaltete er eine Erinnerung ein, um mir klarzumachen, daß sogar vom Lorbeer des Perikles ein stattlicher Zweig zugunsten der Hetäre abgetrennt werden müßte. Die Aufgabe war keine geringere als: die Begründung der Rhetorik als Kunst der Argumentation, die großartige und elegante Architektur der Rede, welche zugleich in die Tiefe der Wissenschaft und zur Höhe freier Kunst strebt. Was erfährt man darüber aus den Lehrbüchern der Kulturgeschichte? Man hört die Männernamen Lysias, Gorgias, Isokrates, Perikles, Demosthenes. Ich aber sage dir: eine Frau hat diese Herrlichkeit begründet, die Hetäre Aspasia aus Milet; und so genial ausgebaut, daß sie als die klassische Lehrmeisterin des Faches aufzutreten vermochte. Daß sie eine Akademie der Liebe hielt, tritt zurück gegen die Tatsache, daß sie eine Schule der Beredsamkeit eröffnete mit ihren eigenen Vorlesungen, bei denen wir Sokrates und Perikles als ihre Schüler erblicken. Ja, es hat nicht an Stimmen gefehlt, die behaupteten, Perikles habe seine berühmtesten Reden, so das peloponnesische Meisterwerk, das Thukydides der Nachwelt überliefert, direkt von der Aspasia empfangen.
»Verzeih, Aristipp, wenn ich dagegen einen Zweifel äußere. Du wirst dich vermutlich auf einen Dialog des Plato berufen, der allen rhetorischen Ruhm von Perikles abstreift, um ihn auf jene Dame zu häufen, wobei denn grotesker Weise herauskommt, daß diese ganze hellenische Blütezeit eigentlich die Aspasische genannt werden müßte. Die Buhlerin würde dadurch nicht nur gereinigt, sondern direkt an die Spitze der intelligenten Menschheit gestellt werden. Aber vielleicht hat Plato nur einen intriganten Zweck verfolgt. Die von ihm mitgeteilte Rede der Aspasia könnte eigentlich eine Rede des Plato sein, schmugglerisch erfunden, um der Welt hinterlistig zu beweisen, daß er, Plato, es besser zu machen verstehe als Jupiter Perikles; und dann wäre es erklärlich, daß er die Juno Aspasia zu einem literarischen Kunststück mißbrauchte. Außerdem entsinne ich mich, daß dieser ganze, an sich wunderschöne Platonische Dialog von Schleiermacher als unecht erklärt worden ist.«
– Dieses Zeugnis kommt reichlich verspätet und schlägt nicht durch. Wenn nicht Plato, sondern ein namenloser Irgendwer jene Rede entworfen hätte, so ist gar nicht abzusehen, warum er seine Genialität hinter den Deckmantel der Anonymität versteckte. Durchschlagend ist vielmehr, daß Autoritäten wie Athenäus und Plutarch, die doch den Dingen etwas näher standen, an die geistige Überlegenheit der Aspasia geglaubt haben; und daß wir selbst, ihre unmittelbaren Zeitgenossen, aus allen Wahrnehmungen die Überzeugung gewannen: Aspasia war das große Lumen, an dem sich die Athenischen Lichter entzündeten.
»Aristipp, das sind Gedankengänge, bei denen schließlich deine Lais etwas verdunkelt werden könnte.«
– Sie ist unparteiisch genug, um sich dagegen nicht zu wehren, denn niemand anerkennt williger als sie selbst die Hegemonie der einzigen Aspasia. Übrigens gibt es da auch eine Gegenrechnung, denn wenn die Diva von Milet wie die Sonne leuchtet, so zeigt sie auch Flecken wie die Sonne. Sie ist nicht nur Philosophin und Rednerin, sondern auch hochgradig Politikerin, als solche vom Machthunger besessen, und sie läßt sich von allen Mitteln, sogar der Intrige und des Lasters bedienen, um ihre Macht zu befestigen und zu erweitern. Es war bei uns offenes Geheimnis, daß sie zu dem Zwecke, ihren Magnetismus zu verstärken, junge, reizende Dirnen unterhielt und anlernte, zur Lust für einflußreiche Männer, welche die gefällige Sünde als eine schätzbare Ergänzung zur Weisheit der Hausdame erachteten.
»Das kann Verleumdung sein, Aristipp!«
– Genug, daß man ihr solche Kanaillerie zutraute, im strikten Gegensatz zu der Tatsache, daß die vornehmsten Athener kein Bedenken trugen, ihre eigenen Gemahlinnen zur Aspasia zu führen, damit sie von den Gesprächen dieser außerordentlichen Frau profitieren möchten. Ich gebe zu, daß hier unauflösliche Punkte vorliegen. Jedenfalls hätte ich selbst mich nie entschließen können, meine Bewunderung für Aspasia zur Liebe umschlagen zu lassen. Ich war froh, daß mir das Schicksal die etwas minder glänzende Lais zugewiesen hatte, die mir als Anregerin genau so viel bot, wie ich vertragen konnte, und in deren heiterer Durchsonntheit ich wohl alle hedonischen Freuden des leichten Lebens, aber keinen Anflug des Lasters erblickte. Und hierfür zeigte auch Demokrit in jenem Gartengespräch das rechte Verständnis. Denn während er noch eben dabei war, seine Meinung über Aspasia vorzutragen und sie als Ausnahmeerscheinung zu feiern, hob er den Pokal, um uns zuzutrinken mit dem stillen aber beredten Ausdruck: Trotz alledem! hier in euch beiden hat Freundschaft, Geistigkeit und Hetärentum ihre schönste menschliche Blüte gewonnen! Ich begriff den ungesprochenen Kommentar seines Zutrunks, und durch mein Blut zog eine Welle des Glücks mit dem Vorgefühl: dieses Glück steht außerhalb der Gefahr; es kann niemals durch Untreue gefährdet werden, denn es gründet sich nicht auf Eidestreue, es erfließt der Seelenkunst, die Ewigkeit in der Sekunde zu erschöpfen und mit der freudigen Sekunde der Ewigkeit zuvorzukommen!