Alexander Moszkowski
Der Venuspark
Alexander Moszkowski

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Der Weg zum Ruhm

Diese Arena hatte vierundzwanzig Eingänge. Kurz vor einem der Portale stellte mich ein Mann mit der Frage: Sie, Herr, Sie kennen mich wohl nicht mehr?

– O a, aber ich müßte lügen, wenn ich Ihnen über die Wiederbegegnung ein besonderes Entzücken aussprechen wollte. Sie sind doch der Herr Ettore Rapagna, der mir unlängst einen Nachmittag so rücksichtslos verdorben hat. Damals im Zimmer konnte ich Ihnen nicht entweichen, wohl aber hier im Freien. Geben Sie gefälligst den Weg frei.

»In zwei Minuten, die zu einer kurzen Mitteilung genügen werden . . .«

– Nein, auch noch nicht in einer halben Minute, sondern sofort. Ich muß in die Arena zu einer Schaustellung, die ich nicht versäumen will.

»Sie sind schon dabei, denn der Gegenstand dieser Schaustellung steht vor Ihnen. Ich bin es selbst.«

– Sie, Herr Rapagna? wollen Sie hier eine Vorstellung als Turner geben, oder als Voltigeur? oder was noch ärger wäre, Ihre Kompositionen vortragen?

»Keineswegs. Ich werde mich vielmehr an ein altolympisches Programm halten. Ich biete heute die Neuauflage einer Leistung, die ich bereits in der zweihundertsechsunddreißigsten Olympiade zur Sensation der Hellenen geboten habe. Es bleibt Ihnen dabei anheimgestellt, in mir den Herrn Rapagna zu erblicken, oder den alten Zyniker Peregrinus Proteus

Ich wußte nicht, wie mir geschah. Eben noch war dieser Mensch neuzeitlich gekleidet, und im Moment darauf wollte es mir scheinen, als trüge er eine ziemlich verschlissene Tunika. Auch den zynischen Mantel glaubte ich wahrzunehmen, einen Tornister auf dem Rücken und einen klobigen Knüttel in seiner Hand. Im nächsten Augenblick war er wieder ganz neu und elegant, und so flackerte es vor mir wie in kinematographischem Wirbel. Aber die Person selbst mit ihrer charakteristischen Haltung und ihren scharfmarkierten Gesichtszügen blieb erhalten als eine Invariante in allen Veränderungen, die mir die Zeit fluktuierend machten. Meine Wahrnehmung unterlag einem synkopierten Rhythmus und zeigte Intermittenzen. Aber ich hatte ja schon so viele Zeitverschiebungen durchgemacht, daß ich mich auch mit diesen schwankenden Eindrücken abfand. Und ich wunderte mich nicht sonderlich darüber, daß ich rings in der strömenden Menge alte Gewänder und Neutrachten durcheinanderfluten sah. Ich sah bauliche Zurüstungen, die nicht zur Architektur paßten, und glaubte sogar auf Augenblicke das Aufzucken einiger Bogenlampen wahrzunehmen. Als ich später Lais wiedererblickte, hätte ich sie beinahe als Fräulein Liane y Valla angesprochen, bis sich die richtige Orientierung wieder einstellte. Das waren Anomalien, zu deren Kennzeichnung man am besten ein mathematisches Bild heranzieht: es gibt Kurven, die vollkommen stetig verlaufen, aber trotzdem in keinem Punkte eine Tangente besitzen. Auch hier war ein stetiger Ablauf der Erscheinung mit überwiegend antiker Gestaltung, aber dennoch mit beständigem Oszillieren, sodaß es nicht gelang, die zitternden Punkte durch die Tangente der Wahrnehmung zu verbinden.

Ich hatte mich von Rapagna, alias Peregrinus Proteus losgemacht und fand mich in einer ungedeckten Loge der Arena neben Lukian und Gryllus. In der Nebenloge saßen Lais und eine stolze Dame, deren Schönheit faszinierend wirkte, obschon sich durch ihr Haar bereits die Silberfäden des reiferen Alters flochten. Meine Vermutung, dies könnte wohl Aspasia sein, wurde bestätigt. Beide unterhielten sich freundschaftlich, allein es war unverkennbar, daß Lais der anderen den Vorrang einräumte, etwa im Abstand einer Prinzessin zur Königin.

Es stellte sich heraus, daß wir alle zur Hauptnummer der Schaustellung viel zu früh gekommen waren, da zu dieser die technischen Vorbereitungen noch nicht beendet waren. Somit fand ich Gelegenheit, meine Nachbarn betreffs einiger Punkte zu interpellieren, für die ich bei ihnen ausreichende Sachkenntnis voraussetzen durfte. Und ich erfuhr, daß Herr Rapagna allerdings ein gewisses Anrecht darauf besäße, sich heute als den alten Zyniker Peregrinus vorzustellen. Es bliebe jedem unbenommen, die körperlichen Existenzen auseinanderzuhalten, die geistige Identität wäre zweifellos vorhanden, und er selbst sei jedenfalls fest davon überzeugt, daß er hier vor dem Publikum als der wiedererstandene Peregrinus aufträte. So wenigstens äußerte sich Lukian, während Gryllus ein gewisses Mißtrauen nicht verhehlte. Schließlich, so meinte er, können sich auch in den Vorgang der Seelenwanderung schwindelhafte Elemente einschleichen, und für mich steht es fest, daß beide Figuren, sowohl der neumodische Abenteurer Rapagna, wie der alte Philosoph Peregrinus Schwindler sind und waren. Ich halte es deshalb für möglich, daß diese ganze Vorstellung auf einen kolossalen Schwindel hinauslaufen wird.

Lukian: Warten wir das ab. Auf alle Fälle interessiert mich die Produktion, und ich bin neugierig, ob sie sich ähnlich abwickeln wird, wie in jenen Urzeiten, da ich sie selbst als Zuschauer in Olympia erlebte. Damals war die Sache allerdings schauerlich genug.

Ich: Erzählen Sie doch, Herr Lukian, wie ist das zugegangen?

Lukian: Als ich zum viertenmal in meinem Leben den Festtagen von Olympia anwohnte, hörte ich gleich am ersten Tage einen Gesinnungsgenossen dieses Mannes das Lob des Zynikers durch die Straßen brüllen. Wie! so rief dieser Schreier – er hieß Theagenes – man darf sich erfrechen, einen Heros wie diesen eitler Ruhmsucht zu beschuldigen? diesen Proteus, dessen Bedeutung unverkennbarer ist als die Sonne, man wagt es, ihm Eitelkeit vorzurücken, weil er durchs Feuer aus dem Leben gehen will? Tat etwa Herkules nicht dasselbe? Starb Äskulap nicht durch einen Wetterstrahl? und stürzte sich nicht Empedokles in den Flammenschlund des Ätna?

– Halt! unterbrach Gryllus, – das alles stimmt schon nicht, und besonders die Berufung auf Äskulap möchte ich mir verbitten! denn dem ist ja nicht im Traum eingefallen, sich selbstzumorden, ganz im Gegenteil, er hatte überhaupt nichts im Sinn, als Verlängerung des Lebens, und er war ganz gewiß nicht damit einverstanden, daß ihm Zeus sein Wirken so übel mit einem Blitzstrahl vergalt!

Lukian: Natürlich machte ich damals dem Schreier denselben Einwand, und noch mehrere dazu, denn mir kam die Reklame doch gar zu albern vor. Aber der genannte Theagenes posaunte weiter ins Publikum hinein, um dessen Affekte für das fabelhafte Ereignis zu erhitzen. Es blieb mir nichts übrig, als die erstaunlichen Hyperbeln auszukosten, die er zum Lobe des Proteus in einer Kaskade von Phrasen ausgoß. Er forderte endlich Jupiter selbst zum Konkurrenzkampf mit seinem Helden heraus und verstieg sich bis zu der wahnwitzigen Blasphemie: »Mit einem Wort, die zwei größten Wunder der Welt sind Jupiter Olympius und Proteus; jenen bildete die Kunst des Phidias, diesen aber die Natur selbst, und nun wird dieses herrliche Götterbild auf einem Feuerwagen zu den Göttern zurückkehren!«

Ich muß bei diesen Exaltationen verweilen, um es überhaupt verständlich zu machen, was sich damals ereignete. Denn wie ich die Sache heute auffasse, gab es hier ein psychologisches Unikum: Der an sich durch seine maßlose Eitelkeit schon halb verblödete Zyniker Proteus wurde durch seine Freunde vollends verrückt gemacht. Er hatte zuvor mit seinem Plan nur renommiert, wie mit so vielen andern Projekten, die in seinem Hirn irrlichtelierten. Jetzt sah er sich durch seine Anhänger beim Wort genommen, und in ihm tobte der Kampf der Angst und der Suggestion, welche die Korybanten auf ihn ausübten. Es war gar nicht mehr sein eigener Taumel, der ihn in die Flammen warf, sondern der Orgiasmus der anderen. Er flog bewußtlos ins Feuer, wie die Motte ins Licht. Nur dem Anschein nach war er Selbstmörder, nicht in der Tatsache. Zum ersten und einzigen Male begab es sich, daß ein Mensch durch andere Menschen geselbstmordet wurde.

»Und diesen grausigen Akt will er heut wiederholen?«

– Seine Vorbereitungen lassen darauf schließen. Es kann aber auch eine Tragikomödie dabei herauskommen, vielleicht sogar ein reines Possenspiel. Denn wenn sich auch in diesem Herrn der alte Peregrinus verleiblicht, so folgt daraus keineswegs, daß beider Schicksale identisch verlaufen müssen. Die Seelenwanderung überhaupt unterliegt allen erdenklichen Zufällen und Variationen; sie läßt sich in keiner Weise vereinheitlichen, und man geht fehl, wenn man annimmt, daß eine bestimmte Seele, die den Inhaber wechselt, immer an ein bestimmtes, begrenztes Obdach gebunden wird. Denn die Primärseele kann sich auch spalten, und dann leben einzelne Teile von ihr in verschiedenen Nachfolgern fort. Das läßt sich natürlich nicht im einzelnen nachweisen, wohl aber an Beispielen als Möglichkeit erörtern. Nehmen wir etwa die Seele eines Lucullus, so können deren Fragmente ebensogut in die Körper des Schlemmer-Kardinals Cornaro wie des gastronomischen Schriftstellers Brillat-Savarin gefahren sein, ohne daß diese jemals den Trieb gespürt hätten, sich in Lucullische Kriegshändel verwickeln zu lassen. Von der Seele des Krösus steckt vielleicht eine Flocke in einem Finanzmagnaten von heute, und eine andere Flocke in einem verkrachten Bankerotteur, der vom Krösus nur die Erwerbsgier übernommen hat, nicht aber das Talent, Reichtümer aufzuhäufen. Der größte Schauspieler des Altertums, Roscius Gallus, hat Splitter seines Genies auf Garrik, Kean, Iffland und Talma vererbt, aber wahrscheinlich auch auf Napoleon, in dessen Leib Platz war für cäsarische und für komödiantische Seele. Der listige und erfindungsreiche Odysseus kann sich später in einem gerissenen Diplomaten objektiviert haben, und nebenbei in einem Rabelais, Edgar Poe oder Jules Verne, der in seiner Erfindung Odysseen bis zum Monde erlebte, ohne daß er sich von seinem Schreibtisch fortrührte. Auf unseren Fall bezogen bedeutet dies, daß der Held der heutigen Veranstaltung von seinem Urbild jedenfalls die Charlatanerie, die Projektenwut und die Marktschreierei geerbt hat. Aber eine Ansage darüber, ob er mit dem Charakter des Peregrinus Proteus auch dessen ganzes Programm übernommen hat, läßt sich noch nicht aufstellen.

»Ich würde hoch dagegen halten,« meinte Gryllus, »und ich möchte den Herren mitteilen, daß sich in einem Nebenraum der Arena bereits ein Wettbureau aufgetan hat, mit der Parole Sein oder Nichtsein. Die Mehrzahl der Kenner wittert einen Bluff oder eine mit scheinbarer Lebensgefahr verknüpfte Reklame. Es hat sich herumgesprochen, daß der neue Proteus sich auch mit Erfindungen abgibt, wofür er sogar in Neapel eine Versuchswerkstatt unterhält. Da liegt der Zusammenhang nahe: Er wird hier Feuerwerk spielen, um dem Publikum das Wunder einer verblüffenden Löschmaschine anzupreisen; äußersten Falls einer feuersicheren mit Asbest durchwirkten Bekleidung, die den Kontakt mit der Flamme ein paar Sekunden lang aushält.«

Und immer noch verschob sich der Beginn der Vorstellung aus unbekannten Gründen. Die Vermutung war nicht abzuweisen, daß dem plakatierten Schausteller in letzter Stunde der Mut versagte. In ihm mochte, wenn er es ernst meinte, ein Lebensdrang stoßweise hervorgebrochen sein; und dann war es erklärlich, daß er auf alle Fälle Zeit gewinnen wollte, um seinem Dasein selbst für die äußerste Eventualität eine kurze Zeitspanne zuzusetzen. Wer könnte die letzten Wallungen in der Seele eines Selbstmörders analysieren? Der einzige, der es vermöchte, er selbst, gibt uns keine Rechenschaft. Er hinterläßt keine Kunde darüber, ob in dem Tumult seiner Seele neben der Verzweiflung auch für das Diktat der Vernunft Raum vorhanden war. Nur das eine dürfen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, daß kein Zeitmaß des allerlängsten Lebens zur Abmessung der letzten Viertelstunde ausreicht. Eine einzige Minute, dem unverbrüchlichen Vorsatz noch abgetrotzt, mag es an Länge und Inhalt mit einem ganzen Menschenleben aufnehmen.

Inzwischen gab es auf dem Boden der Arena einige kleinere Schaustücke als hinhaltende Präludien und Füller der Erwartungspause. So wie man vor dem größten englischen Rennen den Derby-dog über die Bahn laufen läßt. Aber wenn es hier auch Zirkus-Bagatellen waren im Verhältnis zur angezeigten Hauptsache, so blieben sie doch als Einzelleistungen der Geschicklichkeit und Stärke recht bemerkenswert. Der Sportsmann Sarpedon trat auf den Plan, der nämliche, der bei jener Cour d'amour im Pavillon der Lais im Wettbewerb mit den Geistigen sich so nachdrücklich auf seine Muskeltugenden berief. Die erste Produktion an diesem Tage diente nur zur Veranschaulichung einer besonderen Wurftechnik, entsprechend einem Verfahren, das die Geschichte dem Kaiser Commodus zuweist. In Sarpedons Arm befanden sich zwölf Speere, die vorn in mondsichelförmige Schneiden mündeten. Nun wurden die Gitter aufgetan, und aus ihnen wirbelten zwölf Strauße, die in angstvollem Durcheinander kreuz und quer durch die Arena fegten. Und mit zwölfmaligem Schleudern, ohne einen Fehlwurf, trennte Sarpedon die Köpfe von den Straußenleibern. Hierauf leistete er einen Ringkampf mit einem ansehnlichen Bären, der keineswegs den Eindruck machte, als stünde er unter dem Befehl irgendwelcher Dressur. Es ging vielmehr stark an stark, und der dröhnende Beifall der Galerie beglaubigte hinlänglich die athletische Meisterschaft, mit der Sarpedon die Bestie niederzwang. Er fesselte ihr mit starkem Strick die Pranken und legte die Trophäe huldigend vor die Loge der Lais, mit der nämlichen heroischen Geste, mit der einst Herakles seine spolia opima zu imposanter Wirkung brachte. Die Damen applaudierten ohne Kraftaufwand, und Lais war sorgsam darauf bedacht, ihren Beifall genau in dem nämlichen temperierten Grade herablassenden Wohlwollens zu halten wie ihre Nachbarin Aspasia.

Bald nach der Ursomachie öffnete sich in der weiten Ebene des Amphitheaters eine umfangreiche Versenkung, und aus der Tiefe stiegen, von unsichtbaren Maschinen gehoben, zwei mächtige eng zusammenhängende Gerüste: erstlich ein Scheiterhaufen aus Kienholz und dürren Reisern, dessen hochgetürmter Brennstoff ausgereicht hätte, um eine ganze Hekatombe darauf zu zelebrieren. Er zeigte Pyramidenform mit abgestumpfter Spitze und verriet im Aufbau eine gewisse Kunstabsicht; denn die Hölzer waren nicht roh geschichtet, sondern man merkte die erklügelte Konstruktion eines expressionistisch gestimmten Baumeisters. Unmittelbar daneben, noch um einige Meter erhöht, ragte eine Kanzel, deren Plattform durch eine senkrechte Leiter zu erreichen war. Außerdem zeigten sich rings um den Bau fünf niedrige Maschinen, vorläufig außer Betrieb. Es waren Schraubenventilatoren, denen später die Aufgabe zufiel, die Luft aufwärts zu pressen in den freien Raum über der Arena; weil sonst trotz des weiten Abstands den Zuschauern die Gefahr der Brandhitze gedroht hätte.

Jetzt ertönten drei Fanfarenstöße. In der weiten Bauwölbung verstummten die surrenden Stimmen der Menge. Aller Aufmerksamkeit flog zu dem Strebewerk der hohen Kanzel. Dort stand bereits Proteus-Rapagna in theatralischer Haltung, wie einer, der die Rolle eines fanatischen Mönchs zu sprechen hätte. Ich mußte an Savonarola denken. Er musterte die Scharen, und sein Blick blieb zuerst mit zuckendem Verlangen an Lais haften, die das Augensignal nicht im geringsten beachtete und gar nicht zu ahnen schien, daß zwischen ihrer Wesenheit und dem Manne dort oben die Fäden eines Verhängnisses woben. Mit dem zweiten Blick traf er auf meinen Logennachbar Lukian, und seine Hand krampfte sich zur Faust, die er wie ein Haßprojektil vor sich warf. Aber das waren blitzhafte Erscheinungen, nach wenigen Sekunden straffte sich der Mann zur Rednerpose, und weithin fluteten seine Ergüsse.

Zahlreich, ihr Menschen – so begann der Sprecher – zahlreich seid ihr meinem Anruf gefolgt, und ich hätte schon Grund zur Zufriedenheit, auch wenn ich nichts anderes beabsichtigte, als einen Vortrag vor gespannter Hörerschaft. Mein Anspruch geht weiter. Jenseits der Dreißigtausend, die mich hier sehen und hören, stehen die Unzählbaren, zu denen ich dringen will und werde. Gegen sie seid ihr die Wenigen, und ihr bildet nur die Organe einer fortpflanzenden Resonanz. Hier schlage ich an, und draußen in der Welt wird es tönen, in der Fernwelt und Nachwelt; tönen von der Kunde eines Menschen, der es verstand, die Todespforte mit eigenem Schlüssel aufzuschließen und sich im Sterben das Privileg der Unsterblichkeit zu sichern.

Die großen Rhetoren haben darüber gestritten, ob man in der Rede die besten Argumente an den Anfang oder an den Schluß zu stellen hätte. Ein sinnloser Streit. Alle Argumente müssen die besten sein, gleichviel wo sie stehen. Und mein ganzes Beginnen wäre zwecklos, wenn meine ultima oratio dieser strengen Forderung nicht entspräche.

Widerlegen will ich vor allem die schamlosen Verleumdungen, die dieser Mensch dort, der Hallunke Lukian, über mich ausgesprengt hat. Er war Zeuge der Hauptprobe zur heutigen Vorstellung, und er hat sich nicht entblödet, mich, den Peregrinus Proteus, als einen betrügerischen Prahlhans, als einen ordinären Spektakelmacher auszurufen. Weil es in seinen Querkopf nicht hineinwill, ein anderer außer ihm dürfe nach der Apotheose trachten, dürfe sie erzwingen durch eine Leistung, die dem Ruhm alles zum Opfer bringt bis zum letzten Staubkorn der Persönlichkeit, und nichts von ihm übrig läßt, als den Namen, der in Vergeistigung hinaushallt, ruhmeswürdig durch die Größe des Opfers. Denn gewiß, es gibt eine Göttin des Ruhmes, welche den erhört, der sich gänzlich ihr weiht; sie wägt die Taten und findet alle andern gering im Gewicht gegen solche Großtat.

Aber – so werfen die Leute vom Lukianischen Gelichter ein – du bist doch nicht der erste und einzige, der das unternahm? Wieviele entleiben sich und sinken unbemerkt zum Orkus! Und du selbst, Proteus, warum suchtest du nicht die Einsamkeit wie Herakles und Empedokles vor ihrem Freitod?

Worauf ich erwidere: weil ich mich nicht nur als Opfer, sondern als Priester des Freitods empfinde, und weit mehr noch als Pontifex im Amte des Ruhms, denn als bloßes Objekt der Opferung. Meine Obliegenheit ist es, den Triumph des Ruhms dadurch zu symbolisieren, daß ich den Akt mit größtem Gepränge in Szene setze, mit saturnalischem Pomp. Schlecht versteht einer die pontifikale Würde der Handlung, der den Herakles als Muster empfiehlt. Denn dieser Halbgott hat gar keinen Freitod erlitten. Ihm brannte das Nessusgewand auf dem Leibe, und er wollte nur den unerträglichen Schmerzen entfliehen, die ihn ohnedies bald zerfressen hätten. Sein Scheiterhaufen war kein Fanal des Ruhms, sondern besinnungsloser Verzweiflung. Auch den Empedokles lehne ich als Vorläufer oder Seitenstück rundweg ab. Wenn man ihn unter die Selbstmörder großen Stils rubriziert, so treibt man groben Unfug mit den Motiven. In den Falten seines Philosophenmantels hielt er längst den Ruhm geborgen, und nichts anderes trieb ihn zum Sprung in den glühenden Schlund des Ätna, als die Mißlaune, weil er die physikalische Natur der Vulkanausbrüche nicht zu ergründen vermochte. Außerdem ist auch das nur Legende. Ich habe erst kürzlich, um mir diesen Konkurrenten vom Halse zu schaffen, die Stelle genau angesehen und dort festgestellt, daß bei der Neigung der Kraterwände ein Sprung in die Tiefenglut vollkommen unmöglich ist. Was also bleibt übrig von dem aufgetakelten Drama des Mannes aus Agrigent? ein heroisches Märchen zur Verkleidung eines Absturzes, eines ganz gewöhnlichen Touristenunfalls . . .

Aus dem Publikum wurden Zurufe laut: »Hannibal!« – »Varus!« – »Seneca!«

– Bravissimo! rief Proteus entgegen. Ich danke euch, Menschen, daß ihr für mein Pronunciamento so treffliche Stichwörter liefert. Ja, prüfen wir nur die Liste der historisch berühmten Selbstmörder, um mit ihnen allesamt auf einmal abzurechnen! Dem Hannibal und dem Varus saß das Messer an der Kehle, als sie sich entleibten, und sie wurden Scharfrichter an sich selbst, als das Fallbeil des Geschickes schon über ihnen schwebte. Sie gehören mit König Saul und Kaiser Otho zu der großen Reihe derer, die nur ein gedankenloser Schulpauker als Männer des Freitodes ausrufen kann, während sie in Wahrheit gar nichts anderes erlitten, als den Zwangstod. Daraus kann man historische Dramen machen, aber keine Apologie für den erhabenen Entschluß, freiwillig ein höheres Dasein zu gewinnen; herauszutreten aus der Engnis der Lebens in das universale Vakuum, das der Strahl des Ruhms mit Lichtgeschwindigkeit durcheilt! Ja, nicht einmal der Philosoph Seneca verdient in diesem Betracht eine Sonderstellung: er war als Verschwörer zum Tode verurteilt, und da man ihm die Todesart freiließ, so wählte er die Verblutung und öffnete sich die Adern. Aber seine Zwangstat macht mich nicht blind gegen seine sonstigen Verdienste, und obschon er praktisch nur einen Henkerspruch an sich vollstreckte, gilt er mir als der große Theoretiker des Selbstmords, in dessen Worte ich mich vertiefte, um in ihnen die Substanz für meine eigene, einzig in mir selbst verkörperte Lehre zu entdecken. Hier öffnet sich eine Galerie der hohen Nekromanten, Seneca voran, in seinem Gefolge Epiktet, Marc Aurel, Baco, Hume, Swift, Rousseau, Schopenhauer; und wie sonst ein Grabredner Bibelsprüche heranholt, so schlage ich hier Thesen an diesen Holzstoß, der die Verkündigung in Flammen vollenden soll.

Der Tod ist es, dem wir es verdanken, daß es keine Strafe ist, geboren zu sein! Niemand nähme freiwillig das Menschenleben, man bekommt es unbewußt und ungefragt. Das größte Glück ist, gar nicht geboren zu werden, das nächstgrößte, bald sterben zu dürfen und wieder in den Zustand vor der Geburt zurückzukehren.

Exitus patet, die Tür ist offen. Wer nicht länger bleiben will, der kann gehen. Siehst du jenen Steilabhang? Dort hinab geht es in die Freiheit! Siehst du jenes Meer, jenen Fluß, jenen Brunnen? Auf ihrem Grunde wohnt die Freiheit! Siehst du jenen kleinen verkrüppelten Baum? An ihm hängt die Freiheit! Fragst du nach dem leichtesten Weg zur Freiheit: – Jede Ader deines Körpers ist ein solcher Weg!

Und nicht die Freiheitsdurstigen haben sich zu rechtfertigen, sondern die Sklavenseelen, die an der Galeere des Daseins festkleben und ihr Lob aufsparen für Sklavenbrüder, die wohlgefällig mit der Kette klirren, anstatt sie zu zerbrechen. Durch alle Zonen und Zeiten dröhnt das Lob dieser Heloten, das nie etwas anderes war, als »eine Hure, prostituiert und besudelt durch tausend Unwürdige« und auf deren Gunst nur die dem Leben verhafteten knechtischen Feiglinge stolz sein mögen. »Hingegen ist der Ruhm bei der Nachwelt eine stolze, spröde Schöne, die sich nur dem Würdigen hingibt, dem Sieger,« dem Helden voran, der die größte aller Schlachten gewinnt im ruhmvollen Kampf gegen die eigene lebendige Persönlichkeit.

Schön klingt es, das Exitus patet, aber mir genügt es noch nicht. Denn wichtiger als der Exitus ist mir der Introitus, der Eingang in das mysteriöse Jenseits, und nicht durch ein schmales Türchen will ich hinaus, sondern durch eine weite Pforte, die ich beim Aufklaffen mit feurigen Girlanden bekränze. Musik soll mir entgegenschlagen aus der knisternden Flamme, wie eine Gloria-Melodie der Hohen Messe – – –

»Laß dich doch selbst in Musik setzen, tragischer Bajazzo!« warf Lukian zur Kanzel hinauf. Und wenig fehlte, so hätte er seinen Anwurf auf das Publikum ausgedehnt wie damals in der verjährten Olympiade: »Lohnt es denn wirklich, einen alten Narren braten zu sehen und sich die Nase mit seinem Brandgestank vollzustopfen?«

Proteus strafte den Unterbrecher mit Verachtung. Er saß schon viel zu tief in der Berauschtheit, und nachdem er sich erst das Bild der lobsingenden Flamme vorgegaukelt hatte, exaltierte er sich noch höher bis in die Harmonie der Sphären. Er verglich sich mit einem Kometen, der in die Feierklänge der Sternsymphonie verwoben sich in die Sonne stürzt, um selbst Teil der ewig tönenden Sonne zu werden.

Er ergriff eine Fackel, entzündete sie und schwang sie in rednerischer Kunstpause mit der Rechten, während sein Blick abermals brünstig nach meiner Nachbarloge züngelte. Und hier gewahrte ich eine kurze Episode. Aspasia, ahnungsvoll dunkle Zusammenhänge erratend, beugte sich zur Lais und schien sie zu irgendetwas animieren zu wollen. Mir selbst war es kaum zweifelhaft: Lais hätte nur ein Zeichen zu geben brauchen, um in diesem Proteus sein zweites Bewußtsein als Rapagna hervorbrechen zu lassen, mit allen Stürmen der zyprischen Hetze nach der einen Hetäre, die sich ihm versagt hatte. Und ein Zeichen, ein hinaufgerufenes Wort würde vielleicht hingereicht haben, um die ganze Szene von Grund aus umzugestalten. Aus den verschwimmenden Epochen hätte sich die lebendige Neuzeit abgelöst mit der vagen Aussicht auf ein Ziel, das dem Zyniker doch noch stärkere Sensation verhieß, als ein Salto mortale.

Aber Lais-Liane blieb unerschüttert. Mit kühlem Geflüster antwortete sie der Nachbarin, offenbar um ihr anzudeuten, daß sie keine Veranlassung zum Eingriff in die Speichen des rollenden Rades verspüre. Sie mochte auch glauben, daß der Fanatiker noch in letzter Sekunde zur Besinnung kommen würde, während Aspasia sicher mit dem Gegenteil rechnete und nur darauf bedacht war, dem Drama eine gänzlich unerwartete Wendung zu verschaffen.

Proteus schloß ab, wie ein Gladiator, dem von der Kaiserloge her das ominöse Fingersignal entgegendroht. Nein, diese Frau dort hatte kein Gefühl für die Bravour. Sie würde Zuschauerin bleiben, wo das Schicksal sie aufrief, Heroine zu werden. Und jetzt handelte es sich um den Sekundenkampf, um das letzte Einsetzen der Worte gegenüber der fieberhaften Erwartung, die wie eine Sturmflut auf ihn losbrandete.

– Ruhm, komme herbei! rief er; umfasse den einzigen, der stark genug war, sich die eigene Leichenrede zu halten! der dies Amt keinem bezahlten Pfaffen überläßt, auch keinem Berufskollegen, der mit verlogenen Tränen sein bißchen Rührung fortschwemmt. Im Protest gegen die Gilde der flachen Lebenskünstler steht hier vor euch der Todeskünstler, der einzige Virtuose des Sterbens, der sich nicht bloß mit dem Ende abfindet, sondern es mit Psalmen begrüßt. Meinem Leben war der Genuß nicht fremd, es war voll davon, und ich lasse es zerspringen im Übermaß des Genusses. Hört ihr sie sausen, die Flammenklänge? das ist Götterdämmerung! Zur Glorie lockt mich die lachende Lohe! Helles Feuer das Herz mir erfaßt, sie zu umschlingen, umschlossen von ihr in mächtigster Minne vermählt ihr zu sein –

Er hatte die Fackel hinabgeworfen, dem hohen Scheiterhaufen entgegen, wo ihre Zündung sofort anfaßte und rapid hinaufleckte. Der Brand wogte. Jetzt war es deutlich zu erkennen, daß der Mann zurücktaumelte. Da gellten verhöhnende Pfiffe durch den Raum und vereinzelte Rufe: Scharlatan! Feigling! Und da war es, als ob der Dämon der Eitelkeit ihn hinten am Genick griffe und vorwärts stieße in die lodernde Hölle. Mit dem Kopf voran flog er in sein Krematorium.


Kurz vor dem Ausgang geriet ich wieder in die Nähe der Lais. Ich kaute an einer Ansprache herum und sagte schließlich: Ohne die geringste Sympathie für den Selbstmörder möchte ich doch bekennen: Der Tod entsühnt, und nachträglich tut er mir leid. Hatten Sie gar keine Regung, ihn zu retten?

– Nein; ich wäre jetzt untröstlich, wenn ich einem so ausgezeichneten Schauspieler den brillanten Abgang verdorben hätte. Ich denke, er wird noch im Tartarus vor Pluto und Proserpina Komödie spielen . . . Übrigens, so fügte sie ausbiegend hinzu, in einer halben Stunde erwarten wir Sie zur Fortsetzung des Platonischen »Gesprächs über die Liebe«, aber nicht bei mir, sondern bei meiner Freundin. Aspasia legt Wert auf diese Zusammenkunft in ihrer Behausung.

Und stärker noch als zuvor verwirbelten sich mir die Zeitfelder mit unerkennbaren Grenzlinien. Denn als ich die Dame nach der Lage des Hauses befragte, glaubte ich den Bescheid zu vernehmen: Sie können gar nicht fehlen, Aspasia wohnt neben dem Diana-Tempel, dreißig Stadien von hier, höchstens sieben Minuten mit dem Auto.


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