Alexander Moszkowski
Der Venuspark
Alexander Moszkowski

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Das Tempelwunder

Es ist mit den Ausgrabungen alter Trümmerstätten wie mit der Inszenierung prunkvoller Ausstattungsstücke auf der Bühne. Wer vor fertige Tatsachen gestellt wird, der sitzt vor hellbeleuchteten Szenenbildern im Kulturparkett, und in voller Wirksamkeit entfaltet sich vor ihm das mächtige Schauspiel alter Epochen, in welchem die Zeit als deklamierende Heroine auftritt. Ihre eindrucksvollen Verse erläutern Babylon und Ägypten, Hellas und Rom; Pergamon, Troja und Olympia werden lebendig, in die Seele des Empfängers zieht genießerische Leidenschaft, er berauscht sich an Wiedergeburten, am Zusammenklang der Gegenwart mit der Vorzeit. Wer aber zufällig dabei ist, wenn wirklich ausgegraben wird, wenn Schaufel und Spitzhacke im Erdreich wühlen, dessen Prospekt wird ein ganz anderer. Er sieht nicht vom Parkett auf eine kunstvolle Darstellung, sondern vom Hintergrund der Bühne auf dunkle, unscheinbare Kulissen, auf häßliche Rückseiten von Dekorationen, auf ein Gewirr illusionswidriger Veranstaltungen. Er ist von handwerksmäßiger Geschäftigkeit umgeben, in der es poltert, statt zu klingen, und wenn er den Text des Stückes nicht schon kennt, bleibt es ihm unverständlich, wie sich aus diesem Tohuwabohu ein historisches Drama entwickeln soll.

Tatsächlich, man kann mitten drin stehen in solcher Ausgraberei, ohne eine Ahnung von den Geschehnissen zu gewinnen. Das Grobmechanische des Vorgangs erdrückt alle ideale Vorstellung. Ich befand mich vor vielen Jahren in Pompeji und hatte das volle Wunder der aufgedeckten Stadt auf mich einwirken lassen. Dann geriet ich an die örtliche Grenze des Freigelegten, dort, wo der verschüttete Stadtteil im Aschenberg verschwindet, und beobachtete den Fortgang der Arbeiten. Da standen hantierende Gesellen und kratzten mit kleinlichen Instrumenten, die wie Blechlöffel aussahen, an der Berglehne herum. Es kam auch wirklich etwas Verborgenes zum Vorschein, die Ecke eines mosaikartigen Gebildes, dessen Zusammenhang mit einer Hauswand ebenso unkenntlich blieb wie die ganze Szenerie mit ihrem unauflöslichen Konglomerat von zusammengebackenem Schutt, Gestein und verkrochenem Gemäuer. Ich stellte mir vor: in diesem unendlichen, längst von der vesuvischen Landschaft verschlungenen Wust steckt noch die Hälfte von Pompeji! Und mit solchem Geschabe und Gekratze, Stäubchen auf Bröckchen, soll in Jahrhunderten vollendet werden, was die Phantasie vor uns hinstellt als das Gesamtbild einer aus steinernem Schlafe auferstehenden Stadt! Nein, das war nicht durchzudenken. Die Steine müssen erst freiliegen, wenn sie zu uns reden sollen, und die handwerklichen Gerüste müssen abgeräumt sein, bevor uns aus Hausfronten und Tempeln der Geist der Geschichte anweht.

So blieb es auch auf dem weiten Ausgrabungsfelde vor Neu-Amathus zunächst bei der Enttäuschung. Ich war nicht imstande, mir das, was ich sah, mit meiner Erwartung zusammenzureimen. Vor mir lag in Dumpfheit eine ungegliederte Trümmerstätte mit regellosen Pfeilerstümpfen, Ansätzen von Gemäuer, die an erratische Blöcke erinnerten, durchsetzt von ungeheuren Schutthaufen, in deren trostlosem Moränengeschiebe der Blick ohne Halt umherirrte. Dazwischen gab es hölzerne Baubaracken, gekrümmte Schienenstränge für holperndes Lastfuhrwerk, Lattenzäune mit Kreideaufschriften und Dienstplakaten, zur Seite eine Kantine für die Mannschaften, die hier im Auftrage des Archäologen Borretius ihr Tagewerk verrichteten. Man hätte ebensogut vermuten können, das Ganze wäre eine durch Explosion zerstörte Fabrikanlage gewesen, deren Reste beseitigt werden sollten, um einem Neubau Platz zu machen. Nur an der Nordseite widersprach der Augenschein dieser Annahme, da dort, etwa sechs Meter hoch, eine verwitterte Marmorfront emporstieg, mit Fragmenten von Pilastern und Skulpturen, bei denen sich allenfalls der Zusammenhang mit einem antiken Tempel ahnen ließ. Aber diese Einzelheit besagte viel zu wenig im Gesamtbild, dessen Ödigkeit sich mir schwer aufs Herz legte. Mich beschlich der melancholische Gedanke, daß weder die lebende noch die folgende Generation hier eine offenbarende Auferstehung erleben würde. Mochten diese Reste einmal der Venus gehört haben oder der Minerva, was lag daran? Niemals könnte doch aus ihnen eine übersichtliche, den Kunstverstand beglückende Architektonik erstehen, höchstens etliches Quellenmaterial für gelehrte Bücher, deren archäologischer Krimskrams die große Welt nicht weiter interessiert.

Nichtsdestoweniger zog es mich immer wieder nach dem Trümmerfelde, und sicher war das bewegende Motiv nicht die Neugier nach dem Fortschritt der Gräberarbeit, der mir doch ganz unmerklich bleiben mußte. Eher das Vorgefühl einer Begebenheit, die mich erwartete, und deren Anruf ich zu vernehmen glaubte. Zwischen dem Felde und der Vorstadt lag das Gehölz mit den Euphorbien, vor deren Duft mich Argelander, wie erinnerlich, gewarnt hatte. Und da ich keinen Anlaß hatte, mit mir zu experimentieren, vermied ich durchweg den direkten Weg, um in beträchtlichem Bogen außerhalb der Pflanzungsgrenze mein Ziel zu erreichen. Eines Tages jedoch, gegen Sonnenuntergang, faßte mich das Verlangen, diesen Spaziergang abzukürzen. Der Wind trug mir ein spürbares Aroma entgegen, und sogleich überfiel es mich wie eine Selbstanklage: es wäre doch eigentlich eine Feigheit, vor einem Wäldchen zu fliehen, das mich mit so lieblichem Gruß einlud. Ich hatte mich ja auch schon ein wenig an die Atmosphäre des Geländes akklimatisiert, und zudem, es war mir nicht bekannt geworden, daß irgend jemand durch die Ausdünstung der Bäume zu Schaden gekommen wäre. Wonach roch es eigentlich? Nach Ambra oder Moschus? Nein, es war etwas anderes, das mich wie eine unmittelbare Beziehung aufmunterte. Richtig, jetzt war ich auf der Spur: so hatte es mich angeweht an jenem Glückstage der Jugend, da ich zum ersten Male die Ligurische Küste berührte, und seitdem hatte ich stets eine sehnsüchtige Erinnerung an diese heliotropische Luftschwingung unter der Bewußtseinsschwelle bewahrt. Jetzt stieg sie nach oben, und ich unterlag ihr gänzlich. Wenige Minuten später war ich in dem kleinen Naturpark und sog mit vollen Lungen, ohne im geringsten Beschwerde oder Gefahr zu spüren. Im Gegenteil, mir wurde immer wohler, und ich empfand das eigene Atmen als ein gesteigertes Lebensgefühl.

Im Gehölz war es schon recht dunkel, und man hätte beim Durchwandern Schwierigkeiten gehabt, wenn nicht die Natur mit einer seltsamen Beleuchtung nachgeholfen hätte. Erstlich bemerkte ich eine matte Phosphoreszenz, die von den Baumstämmen ausging, und außerdem flatterte ein glühendes Gewürm in der Luft, eine Art von Leuchtzirpen, die beim Fluge ein intensives hellblaues Licht aussenden. Bei der Illumination der geflügelten Laternenträger fand ich eine Moosbank, auf der ich mich zu längerem Aufenthalt niederließ. Hier ausgiebige Nachtruhe halten, das mußte köstlich sein. Allein ich bezwang mich und hütete mich vor dem Einschlafen, wenigstens der Absicht nach, ohne daß ich nachträglich zu sagen wüßte, ob ich dem Vorsatz restlos treu zu bleiben vermochte.

Um die Glühstärke der Zirpen zu erproben, zog ich die Taschenuhr und blickte aufs Zifferblatt. Das trat ganz klar ins Gesichtsfeld. Dabei machte ich die Wahrnehmung, daß die Uhr stand, genauer gesagt, die Zeiger bewegten sich nicht, während das Werk funktionierte; denn ich hörte das Ticken. Also akustisch genommen ging sie, optisch blieb sie im Stillstand, in ihrer Bewegungsmechanik erhob sich ein Widerspruch, der sich bei längerer Betrachtung noch steigerte. Denn jetzt begannen die Zeiger rückwärts zu wirbeln, in immer rapiderer Drehung, so daß sie sich bald gänzlich den Blicken entzogen. Ein launischer Chronometer! Er bekundete offenbar den Willen, die vorwärts laufenden Sekunden in rückwärts fließende Minuten zu verwandeln; benahm sich ähnlich wie Argelander und hatte in seiner Weise rückschrittliche Ideen wie dieser Mensch.

Aber wie, wenn beide recht hätten und wenn eine »Zeit-Umkehrung« nicht gänzlich außer der Möglichkeit läge? Seltsam, daß mich diese Vorstellung gerade hier anwandelte, als mich die Magie der Manzanillobäume so wollüstig erregte. Vielleicht bestand hier ein Zusammenhang, ein okkultes Verweben zweier Erfreulichkeiten.

Weswegen war ich denn eigentlich nach Zypern gefahren? Um auf einer Moosbank unter Leuchtkäfern zu liegen? Um abwechselnd zwischen Trümmerblöcken und dünstenden Bäumen zu spazieren? Ich konnte mich wirklich nicht recht besinnen. Endlich dämmerte es mir: ich sollte ja mit jungen Zöglingen der Akademie Dialoge halten über freigewählte Themen, die nicht auf der Allerweltstraße liegen. Hier hatte ich gleich so ein Thema, das mußte ich festhalten: Ist ein Zeitablauf in verkehrter Richtung möglich? Kann das Gestern auf das Heute, die Vorzeit auf die Gegenwart folgen? Und wie würde ein Mensch sich hineinzufinden haben, wenn er derartiges erlebte?

Ich hörte Stimmen in den Wipfeln, geisternde Zurufe aus den Laubkronen, die mir zu sagen schienen: hier stehst du vor einer neuen Pforte der Erkenntnis. Und große Freude wird dir erblühen, wenn du nicht zurücktaumelst vor der Schwelle, vielmehr vorwärts schreitest – vorwärts in das Reich der Vergangenheit!

Und die Stimmen flüsterten weiter: Das, was ihr Menschen die »wirkliche Zeit« nennt, ist eine auf den beschränkten Alltagsverstand zugeschnittene Illusion. Was heißt »wirklich«? Ihr könnt die Zeit nur an den Ereignissen messen, die ihr durchlebt. Aber ihr kommandiert die Ereignisse nicht, sondern sie ergreifen euch. Und niemand vermag vorauszubestimmen, welchen Bewegungssinn ein Ereignis haben wird, das noch mit allen Schleiern des Nie-Erlebten bedeckt ist.

Die Uhr in der Hand ist kein Gegenbeweis gegen die Möglichkeit, sondern ein Beweis. Selbst in irdischen Verhältnissen, die ihr nachzudenken imstande seid, könnt ihr euch davon überzeugen. Versetzt euch in Gedanken, mit der richtig gehenden Uhr in der Hand, an den Nordpol oder Südpol der Erde. Schreitet im Kreise um den Pol mit der gewöhnlichen Geschwindigkeit eines lässigen Fußgängers. Da habt ihr schon ein Erlebnis, das in euer Zeitschema absolut nicht mehr hineinpaßt. Denn in wenigen Minuten, ja Sekunden könnt ihr bei diesem Kreisabschreiten ostwärts oder westwärts um einen vollen Tag vorwärts oder rückwärts kommen, um ein Jahr, um viele Jahre. Beim Überfliegen des Pols überfliegt ihr in einem Augenblick zwölf Stunden. Die Zeit hört auf. Der Pol ist ein Unstetigkeitspunkt, bei dem die große Uhr »Sonne« eurer am Chronometer orientierten Zeit fortwährend widerspricht.

Diesem unleidlichen Widerspruch wollt ihr Menschen in solcher denkbaren Lage entfliehen, indem ihr den Kalender korrigiert. Da wird nach Willkür ein Tag im Abreißkalender herausgerissen oder hineingeklebt. Ein kümmerlicher Behelf! Großzügig dagegen wird die Operation, wenn man die gesamte Zeitanschauung korrigiert; wenn man sich dazu versteht, anzuerkennen: das Jahr und die Minute sind an keine Wegrichtung gebunden; sie können vorwärts und rückwärts wandeln, und wie sie sich entscheiden, das hängt vom Erlebnis ab.

Aber der Pol zeigt den Ausnahmefall nur geometrisch. An jedem andern Punkt der Erde kann sich das Erlebnis wiederholen. Versetzt du dich als bewegte Kreatur in das Tempo der Schallschwingung, so erlebst du das nämliche Zeit-Abenteuer im Breitengrad von London oder Berlin, wiederum steht die Zeit für dich still, verwandelt sich in dauernde Gegenwart, oder sie kehrt sich um und repetiert dir die Vorzeit. Und wenn du noch niemals am heutigen Tag den gestrigen erlebtest, so liegt das nicht an einem ewigen Naturgesetz, sondern an der Gebundenheit deiner persönlichen Erfahrungen, die im engen Zirkel abrollen.

Erlebe das Unerhörte, so werden deine Wahrnehmungen das Wunder des Josua über Gibeon und Ajalon erneuern, ja übertreffen. Sonne und Mond werden aufhören, ihrem starrsinnigen Dienstreglement zu gehorchen, und in deiner Seele wird sich ein befreiender Durchbruch vollziehen: die Erlösung vom Zeitbegriff, dessen Tyrannenmacht nur darum so lange gegolten hat, weil noch Keiner sie zu bezweifeln wagte.

Ich höre euch, Wipfelstimmen, rief ich, und will euch weiter hören. Euer Zuruf sei mir eine bestimmte Ansage. Ihr versprecht mir das Unerhörte, und ich halte mich vorbereitet. Aber sagt mir, was ich zu beginnen und wie ich mich zu verhalten habe.

Alles blieb stumm. Sollte ich zuvor nur die Laute meines fiebernden Blutes gehört haben? Aber ich fieberte ja gar nicht. Mein Puls – darüber vergewisserte ich mich durch Befühlen – ging ganz ruhig. Aber auch das war ja ein Fehlschluß! Da meine Uhr versagte, an welchem Metronom sollte ich wohl das Tempo des Pulses feststellen können? Der prüfende Finger müßte ja als Meßwerkzeug derselben Pulsaktion unterliegen, und das Tempo des Atems hätte sich in dem nämlichen Grade beschleunigt. Da fehlte also jede Kontrolle über das Eigenbefinden. Übrigens fühlte ich nicht die geringste Benommenheit im Kopfe, ich war ganz klar im Denken und sagte mir mit aller Besinnung: Alter Knabe, du bist kein Siegfried, dem das Waldweben bevorstehende Erlebnisse zurauscht; du hast einfach einen Monolog gehalten und dein Selbstgespräch in die säuselnden Blätter projiziert. Also brich den Aufenthalt in diesem Wäldchen ab und mache dich auf den Heimweg.

Denn zum Besuch des Gräberterrains war es sicherlich schon zu spät. Ich konnte froh sein, wenn ich hier gut hinausfand nach der Vorstadt von Neu-Limisso, auf dem geraden Wege zu meiner Herberge. Leider waren die Glühkäfer sämtlich verglommen, die Baumrinden starrten in Schwärze, und ich hatte rechte Mühe, um mich zwischen den pflanzlichen Hindernissen hindurchzuwinden. Kein Wunder, daß ich von der richtigen Linie abkam. Als ich aus dem Park heraustrat, lag nicht die Vorstadt-Promenade vor mir, die sonst abendlich im Glanz der Bogenlampen strahlte, sondern das Trümmerfeld, der Tageszeit zum Trotz, lange nach Sonnenuntergang, in unbegreiflicher Helle, wie im Erguß von hundert Vollmondscheiben. Allein der Nachthimmel zeigte keinen Mond, kein Sterngewimmel, nur der Planet Venus, der Stellung nach kenntlich und in Dimensionen nicht größer als sonst, flimmerte hernieder in phantastischer Strahlungsstärke und übergoß die Fläche mit einer märchenhaften Lichtflut. Aber war denn das vor mir wirklich das Trümmerfeld mit dem wirren Durcheinander des Geländes? Nein, das Chaos hatte sich gelöst, die Schutthalden, die Baracken, die Schienensträhnen waren verschwunden, und der Umriß eines weiten Prachtbaus trat deutlich zum Vorschein. Dort im Norden die mir wohlbekannte marmorne Mauer war gewachsen, hatte ihre Pilaster ergänzt, wuchs noch immer, und gleichzeitig mit ihr rangen sich an allen Seiten Quadern über Quadern aus der Tiefe, Säulen mit voller Bekrönung strebten aufwärts, vervollständigten von Minute zu Minute das beinahe zum Abschluß gediehene Bild eines gewaltigen Heiligtums. Da gab es nichts mehr zu erraten, mit Spürsinn zu vermuten, nein, frei und licht, wie sich ein Tempel vor das innere Auge stellt, wenn wir in alten Darstellungen vom Ritualgepränge lesen, unverwittert, mit dem vollen Bestand der edelmetallischen Zierden, erhob sich hier, dem Gesetz der Schwere wie dem Zeitbegriff widersprechend, das monumentale Zeichen einer olympischen Gottheit, aere perennius.

Ich schritt die flache Böschung hinab und brauchte nicht erst die offne Vorhalle zu gewinnen, um hineinzuschreiten; denn in der vielgliedrigen Umfassung befanden sich noch Lücken, die den Eintritt ermöglichten. Allein kaum befand ich mich im Innern, als sich der Bau gänzlich abschloß, in senkrechtem Wachstum, in horizontaler Schiebung und Schichtung, über die mächtigen Architrave hinweg, die zu fließen und dann zu erstarren schienen, um das obere Gebälk aufzunehmen. Wie sich das Dach bildete, das war gleichsam ein kristallinischer Vorgang, in Konvergenz massiger Strahlen, die von den Seiten herbeischossen, um sich zu vereinigen und zu festigen. Ein gelernter Architekt hätte hier gestutzt, sogar bei Annahme des Mirakels als einer gegebenen Tatsache. Denn auch das Wunder muß in seiner Art logisch verfahren und darf mit keinem Kunstfehler operieren. Aber hier fehlte ja im Dache das »Opaion«, die Lichtöffnung, das Himmelsfenster, ohne das der Tempel in ewiger Nacht hätte liegen müssen. Nicht die geringste Luke war zu entdecken, und kein Sonnen- oder Sternenstrahl wäre jemals ins Innere gedrungen. Und dennoch wogte ein Licht durch den Raum, eine mystisch verklärende Helligkeit, die alle Flächen und Vorsprünge mit sanftem Geflimmer überspielte. Sie nahm ihren Ausgang von der Apsis an der östlichen Schmalseite, ging von einer persönlichen Quelle aus, denn dort in der Altarnische stand die leuchtende Monumentalfigur einer Göttin. Aber das war keine Athene Polias, keine Pallas Parthenos mit Panzer und Lanze, sondern bei allem Riesenmaß des Körpers eine milde Frau, und es bedurfte keiner angestrengten Einbildung, um sich diesen steinernen Leib als warmblütig, dieses Antlitz als zum Lächeln befähigt vorzustellen. Und sie erstrahlte wie der Abendstern draußen, dem sie, die Venus, ihren Namen geliehen hat.

Ich versuchte die Erscheinung mit den mir sonst bekannten Standbildern in künstlerische Beziehung zu setzen; fand auch Anhaltspunkte, um sie mit der Milonischen, Knidischen, Kapitolinischen Venus zu vergleichen. In der Haltung mit der charakteristischen Rechtsbiegung der Lende erinnerte sie wohl am meisten an das Bild von Melos, in der Weichheit des Ausdrucks an die Capuanische Göttin, am wenigsten an die Mediceische mit deren stilisierter Pose des verschämten Jungmädchens. Ich kam nicht ganz darüber ins Reine, ob hier das weltlich Anmutige oder die Würde überwog, ob ich vor einer Vertreterin sinnlichen Begehrens oder huldvollen Gewährens stand. Ganz deutlich spürte ich nur das eine, daß von der Gestalt ein Fluidum ausging wie von keiner anderen Versinnbildlichung der Aphrodite. Und je länger ich sie betrachtete, desto mehr verflüchtigte sich in mir das Mythologische zugunsten einer Wirklichkeit. Es erschien mir gar nicht abenteuerlich, zu denken: diese Venus Lucifera, Urania, mußte gelebt haben, mußte solchen Reiz ausgesandt haben, als sie hier in Zypern am paphischen Gestade als Anadyomene das Land beschritt, und es kann kein Zufall sein, daß sich gerade hier der Tempel wölbt, in dem sie fortlebt.

Ich hörte ein Geräusch, und als ich mich umwandte, bemerkte ich eine schlürfende Gestalt, die sich über den Boden bewegte, an einem Säulenfuß hinkauerte und sich mit allerhand Gerät, Wassereimer, Wedel, Wischtuch dort zu schaffen machte, wie um abzustauben und sauber zu fegen. Ich rief den Menschen an: Xaver Gregory! und dachte mir die selbstverständliche Ergänzung: daß diese Fülle der Gesichte der trockne Schleicher stören muß!

Xaver erhob sich und war über die Begegnung sehr erfreut: Na, was sagst du dazu? Wie haben wir das geschafft? das ging doch über alle Erwartung!

– Wer hat geschafft, und was wollt ihr geschafft haben? Diesen Venusbau? Mach' dich nicht lächerlich! du weißt so gut wie ich, daß euer Geschaufel bloß die Anfangsspuren bloßgelegt hat. Alles übrige kommt auf Rechnung eines unerhörten Erlebnisses, das mir versprochen wurde von jenseitigen Stimmen. Ihr mögt ja jetzt Zuschauer sein, dagegen will ich nichts einwenden, aber streng genommen gehört ihr da gar nicht hinein, du am wenigsten, Gregory, denn du hattest ja nicht die blasse Ahnung von der Sache. Einen Minervatempel wolltest du aus der Erde herausholen, du Antiquar mit deiner geschwollenen Gelehrsamkeit. Und dort steht das corpus probandi. Ist das eine Minerva?

»Nein, ich muß meinen Irrtum zugeben, und nachträglich ist mir das sogar ganz angenehm. Denn weißt du, Freund, mir ist inzwischen etwas höchst Eigentümliches zu Bewußtsein gekommen. Ich war nämlich schon vor mehr als zweitausend Jahren hier und habe an derselben Stelle bescheidene Dienste verrichtet, als Kustos, Tempeldiener oder Famulus bei einem Oberpriester der Venus, dessen Name mir entfallen ist. Jetzt eben, als ich an der Säule herumputzte, stieg mir das auf wie ein uraltes Gedenken an ein früheres Leben, als hier noch die Reste der Phönizier hausten und der idalische Wald der Lieblingsaufenthalt dieser Aphrodite wurde. Mein Professor Borretius ist ein Lumen, er hat weiter in die Urzeit geschaut als ich, und als er den Tempel freilegte, hat er mir den Urgrund meiner Seele gleichzeitig aufgedeckt.«

– Gregory, du berührst hier ein Problem, das mich seit einiger Zeit aufs lebhafteste beschäftigt. Aber deine Andeutungen genügen mir nicht. Äußere dich genauer: glaubst du in allem Ernst an eine Seelenwanderung?

»Muß wohl. Und ich hätte das Thema längst mit dir erörtert, aber du warst ja beständig in den Fängen des Herrn Argelander, dieses Lust-Gentleman mit dem gräzisierenden Anflug und hattest kaum eine Minute für mich übrig. Weißt du, ich trete nicht gern in Konkurrenz mit solch einem Genüßling, der sich als Arbiter Elegantarium aufspielt, als ein Gemisch von Antinous und Lovelace, obschon er nach meinem Geschmack . . .«

– Lieber Xaver, dein Geschmack reicht wohl nicht aus, um diese Person richtig zu taxieren. Gleichviel; ebenderselbe Argelander hat mir das Problem nahegebracht, und nun kommst du, ein Mensch von ganz anderer, ja, entgegengesetzter Struktur und ziehst dasselbe Register. Das ist doch im höchsten Grade auffällig. Also heraus mit deinen Geheimnissen. Hast du irgendwelche Beweise? dort steht ein Altar, den fasse an mit der Rechten und sprich, daß ich dir glauben kann.

»Gott, beschwören läßt sich da nichts. Das alles ist Gefühlssache, Sache eines Gefühls, das sich mit dem Gegenwärtigen nicht beruhigt. Dafür ist man ja eben Historiker, mit der Aufgabe, die Zeiten zu überbrücken. Im Grunde genommen ist es mit der Seelenwanderung wie mit dem Beweise für das Dasein Gottes. In der heißen Sehnsucht nach einem gütigen Allvater liegt die Beweiskraft, da wir uns nicht vorzustellen vermögen, dieses grenzenlose Verlangen könnte bestehen ohne Gottes Existenz als bewirkende Ursache. Und ebenso treibt uns auch der unbesiegliche Wunsch nach Fortdauer zur Überzeugung von der Unsterblichkeit, die ja die Seelenwanderung in sich schließt. Denn wenn die Seele ewig fortdauert, so muß sie doch ewig anfanglos sein, muß sie sich also schon in zahllosen Vorexistenzen objektiviert haben . . .«

– Das ist möglich, Gregory, wunschweise möglich, – aber wir rennen doch unausgesetzt gegen die harte Wirklichkeit, die uns nur das Gegenwärtige als unbedingt glaublich hinstellt; du und ich, wie wir hier stehen, und der Tempel um uns, das ist die Wirklichkeit!

»Nein, Alex, das ist nur ein Anschein, die Außenseite der Wirklichkeit, so wie ein Regenbogen nur optisch, nicht sachlich als Tatsache dasteht. Sachlich ist nur die ewige Sonne und der ewige Kreislauf der Elemente, der diese fallenden Tropfen für diesen Augenblick als Strahlträger bestimmt, um den Reflex sofort den nächsten Tropfen zu überweisen. Du und ich und wir alle sind nur die fallenden Tropfen und wenn ein Weltauge unsere Strahlungen zum Regenbogen verbindet, so sieht es die Reflexe unserer Vorgänger und Nachfolger.«

– Wie kommst du bloß auf solche Vergleiche? schöpfst du das alles aus dir selbst? ich denke, du bist Philologe und Historiker?

»Ach, glaube mir nur, wer die Sprache und die Geschichte richtig erfaßt, der umspannt alles. Worauf wollen wir denn mit jeder Forschung hinaus? Auf die Universalwissenschaft der Weltweisheit, und Philosophie hat nur Bestand als sprachkritisch betriebene Geschichte der Philosophie. Das wird der Weisheit letzter Schluß; und um auf unsere Seelenwanderung zurückzukommen, so wird uns eben nichts anderes übrig bleiben, als die Zuflucht zur Geschichte der Denkvorgänge seit alters her, mit der Sprachanalyse als Wegweiser. Sie ist das einzige Mittel, um in wachem Bewußtsein die Seelenwanderung zu erleben, die wir sonst nur schattenhaft in Traumdämmerung wahrnehmen; als eine dauerhafte Wirklichkeit, in der sich Milliarden von flüchtigen Sekunden zur ewigen Zeitlosigkeit verdichten.«

Ich blieb ihm die Gegenrede schuldig, während er sein Handgerät wieder zusammenpackte und mit Eimer und Schrubberzeug beladen über die Steindiele schurrend in die Vorhalle verschwand.

Er hatte mir neue Erregungen zugeführt, zugleich neue Bedenken und darüber hinaus das brennende Verlangen, endlich aus der Zone der Zweifel hinauszukommen. Aber ich befand mich ja im Angesicht einer Autorität, die mit göttlicher Leibhaftigkeit in alle Zeiten hinausragte, und ich spürte den Impuls, sie zu befragen. Wenn die Wahrheit ein Weib ist – so beginnt Nietzsche seine Jenseits-Betrachtung, und niemals gelangen wir zu einer Gewißheit ohne solches präludierende »Wenn«. Wagen wir die Fortsetzung: wenn die Wahrheit dieses Weib ist, diese Aphrodite, – vielleicht war die Annahme gar nicht so exzentrisch. Ich hatte ja auf meiner kurzen Wanderung schon soviel Regelwidriges erlebt, das Herauswachsen des Gebäudes, unerklärliche Lichtstrahlen, Gedankenschwünge eines Bücherwälzers, den ich nur in den Trockenheiten des Schulwissens beheimatet glaubte, – an einem solchen Tage war es auch möglich, daß mir ein Standbild Rede gewährte. Ich erwartete nicht, daß sie den Mund öffnete und sich in hörbarem Schall äußerte; nur daß ein Kontakt einträte, der mir eine wortlose Botschaft vermittelte. Die Schönheit, so fiel mir ein, braucht nicht zu sprechen um verständlich zu werden; als Hyperides die Schönheit vor den Richtern enthüllte, hielt der Busen der Phryne eine Verteidigungsrede, während der Mund schwieg, und es liegt kein Grund vor, der Venus geringere Beredsamkeit zuzutrauen, als ihrer Dienerin. Auf alle Fälle rüstete ich mich zu einer Ansprache, denn mein Gemüt war voll und mußte sich entladen:

Göttin! Wenn du sonst die Weihesprüche der Priester vernahmst, so flogen sie dir zu als Laute des Glaubens, der kein Symbol war, keine Verkleidung, sondern unmittelbare Natur. Hier aber steht ein Mensch vor dir, der dir zwar Anbetung entgegenbringt, doch kein Gebet. Er betet dich an, in künstlerischer Entzückung, als Erscheinung, aber er erfleht von dir keine Liebeshilfe. Nichts gewähren sollst du ihm, noch versprechen nach Art der Begünstigungen, wie du sie dem Hirten auf dem Berge Ida gespendet hast, sondern einen Zweifel sollst du ihm lösen und seine Erkenntnis aufrichten.

Du bist hierzu befugt, denn du gebietest über dieses Haus, das eine steinerne Brücke darstellt über dem Abgrund zwischen den Zeiten. Diese Pfeiler und Quadern führen hinüber, und ich wäre versucht, mich selbst dem Viadukt anzuvertrauen, wenn ich nicht zittern müßte vor dem Gedanken: drüben, auf dem anderen Zeit-Ufer trete ich ins Leere! Und deshalb frage ich dich, Göttin, werde ich einen Halt finden, wenn ich meine Wanderung fortsetze, die mich in das steinerne Altertum führte? Werde ich Boden unter mir fühlen und Umgebung eines menschlichen Altertums?

Nichts regte sich. Sie stand wie zuvor, in unveränderter Haltung, mit der einen Hand ihr fallendes Gewand raffend, mit der andern einen schlanken Blütenzweig haltend, und es war sicher nur eine Augentäuschung, daß ich in ihrem Blick eine kurze Vibration wahrzunehmen glaubte.

– Du antwortest nicht, Göttin, und vielleicht soll die Verweigerung eines begreiflichen Zeichens mir zum Signal dienen: daß du mir zwar den Eintritt in den Vorhof gönnen wolltest, nicht aber in das Reich. Und siehe, da überkommt mich der Drang nach einer Bitte. Und was ich vermeiden wollte, wird mir unausweichlich. Sei wie du willst, Diva, eins vermagst du nicht zu sein: gnadenlos. Momus ging zugrunde in Wut darüber, daß er an dir keinen Fehler finden konnte, aber er hätte gewonnen, wenn er jetzt hier stände und entdeckte, daß du den Fehler der Halbheit trägst; daß du eine Gnade nur zur Hälfte austeilst und nicht erfüllst, was du verheißen hast. Aber das ist nicht Art der Venus, die ihr beglückendes Vermächtnis dem Eros des Plato und Euripides überwies. Deutlich genug hast du mir versprochen, was ich nun ausgewirkt zu sehen begehre: das Heraussteigen des Menschentums aus der Zeitverschüttung, so wie ich das Herauswachsen deines Bildes und deines Hauses aus Schutt und Moder erlebt habe. Vollende, was du begonnen hast! Gib Wiedergeburt denen, die da lebten – als man deine Tempel noch bekränzte, Venus Amathusia!!

Und jetzt, – nein, das war keine Sinnestäuschung, das war deutliches Erkennen eines göttlich-menschlichen Vorgangs: aus ihren Augen glitt ein Schimmer der Einwilligung, und langsam neigte sie das Haupt, um es ebenso sanft wieder aufzurichten zu seiner marmornen Hoheit. Sie ergänzte die Geberde durch eine Bewegung ihrer Rechten, indem sie für wenige Augenblicke mit dem Blütenstab auf eine bestimmte Stelle am Grunde der Tempelmauer wies. Dann hörte die Bewegung auf, und sie verharrte in feierlicher Ruhe, deren nochmalige Störung mir tempelschänderisch erschienen wäre. Das Zeichen genügte, es wäre in seiner Eindringlichkeit ausreichend gewesen, um eine stärkere Skepsis als die meine zu entwurzeln. Und ich hatte doch nichts dringender gewünscht, als daß sie vertilgt werden möchte.

Jenes Orakel zerfiel, wie so manche andere Prophetien aus Delphi und Dodona, in zwei Teile: einen klaren und einen unklaren. Die Weisung mit dem Blütenstab sollte mir erst viel später erklärlich werden, obschon ich in den nächsten Tagen wiederholt dahin zurückkehrte, um die Stelle abzusuchen. Sie lag nordwärts an der Wandfläche, die schon vor dem Tempelwunder durch Ausgrabung ans Licht getreten war; als die einzige, die Verwitterung aufwies und zudem Reste einer unleserlichen Stein-Inschrift.

Da mir hier zuvörderst keine Aufklärung winkte, so begab ich mich in Erwartung der kommenden Dinge nach dem Ausgang. Halbwegs wandte ich mich noch einmal zur Venusfigur, deren stumme Magie auf mich gewirkt hatte wie der Ausdruck des Zeus von Phidias auf die Alten. Damals galt ein Erlösungsdogma: unerlöst und unglücklich stürbe der Mensch, wenn er nie den Mysterien nahegekommen sei und niemals das Bild des Phidias erblickt habe; und ich fing an, das Wesen dieses Glaubens zu begreifen. Ob Zeus, ob Aphrodite, das machte wenig Unterschied: auf das Mysterium kam es an.

Draußen am Portal lehnte Gregory. Er stand in antiker Gewandung, die ziemlich salopp umgehängt und im Stoff von etwas ungepflegter Beschaffenheit war. Allein, er trug sie nicht etwa wie Bestandteile einer Maskerade, sondern ganz natürlich, als ob er sich nie in anderem Aufzuge gezeigt hätte. Nichtsdestoweniger war meine Verblüffung wohl erklärlich, und ebenso mein Ausruf:

»Mensch, Gregory, wie kommst du in diese Tracht?«

Er streckte mir die Hand entgegen und sagte auf gut klassisch: »Chaire!« was im Griechischen einen freundlichen Heilsgruß bedeutet. Dann ergänzte er: Es wird dir wohl lieber sein, wenn ich in deiner Muttersprache fortfahre. Mir macht das bißchen Differenz im Idiom nicht viel aus, während du als verspäteter Fremdling hier hereingeschneit kommst, darauf muß man schon Rücksicht nehmen. Aber einige Korrekturen möchte ich mir doch erlauben: nenne mich nicht Gregory, sondern mit meinem richtigen Namen »Gryllus« und erinnere dich gefälligst, daß ich hier als Tempelwächter angestellt bin, wohlbestallt von meinem Oberpriester Strepsiades, in dessen Dienst ich mich seit der dreiundneunzigsten Olympiade befinde, was ungefähr dem vierten Jahrhundert der alten Zeitrechnung entspricht.

»Halt, halt, Gregory, oder Herr Gryllus, wenn Sie das lieber hören, das geht durcheinander und kann im Kalender nicht stimmen. Wenn Sie Altgrieche sind, müßte ich Ihnen persönlich ebenso unbekannt sein wie meine Sprache, während Sie deutlich genug auf unsere neuzeitliche Bekanntschaft anspielen. Diese Vermengung von Vorher und Nachher ist unstatthaft.«

Thaumasta legeis, Alexandre! Erstaunliches sprichst du, Freund! Wolltest du nicht aus der bürgerlichen Datumsrechnung hinaus ins Zeitlose? Und nun, da sich dir der Wunsch erfüllt, klammerst du dich weiter an die kurzatmige kalendarische Regel? Laß diese Vorurteile endlich fallen. Hier ist eine andere Welt, in der das blöde Vorher und Nacher nicht mehr gilt. Ich, Gryllus aus den neunziger Olympiaden, ich weiß sehr wohl, daß meine Seele auch in einer anderen Körperbehausung wohnte, und daß ich mich mit dir auf einem Schiff und anderswo verschiedentlich unterhalten habe; auch ist mir der Inhalt vieler Bücher bekannt, die der sogenannten »Folgezeit« angehören, sogenannt, weil die Sprache an denselben Engnissen klebt, wie der Mensch, dem das Prinzip vom ewigen Wandel der Zeit und der Seele noch nicht aufgegangen ist. Sie wie er haften an den beschränkten Einteilungen Früher–Später, die in einem höheren Sinne gar keinen Bestand haben.

»Aber Gryllus, hier ist doch – mir zwar unbegreiflich, aber doch gegenständlich – Vergangenheit, Perfectum, Praeteritum!«

– Einheitlich verschmolzen mit dem Futurum. Den Augustinus mußt du studieren und den Thomas von Aquino mit seiner Lehre vom »Nunc stans« von der stehenden Zeit, die trotzdem dem Leben alle Entfaltung gestattet. Nur von der Unverbrüchlichkeit des Datum-Zeigers muß man loskommen, denn sie ist eine Fiktion des armen Verstandes, die der freie Geist überwindet. Dich werden hier bald außer mir noch andere ansprechen, hellenische Menschen, in denen vorzeitliches Bewußtsein mit nachzeitlichem zusammenfließt. Vielleicht begegnest du dem Aristarch aus Samos, der von dir aus gesehen vor zweiundzwanzig Jahrhunderten gelebt hat. Der kann dir erzählen, daß er schon immer gewußt und gelehrt hat, was angeblich Kopernikus soviel später entdeckte. Wie ging das zu? Seelenwandlerisch, beide waren ein- und dieselbe Person! und man darf ebensogut sagen: Kopernikus besann sich auf Aristarch, als Aristarch auf Kopernikus. Übrigens muß ich dich bitten, mich jetzt zu verlassen, denn ich schreibe grade an einem großen Werke, das mir der Oberpriester zugewiesen hat, ein sehr ehrenvoller Auftrag . . .

»Wie, Gryllus, du schreibst? in deiner Haltung machst du nicht den Eindruck . . .«

– Ich meinte das bildlich. Mit der Niederschrift kann ich noch warten, denn es sollen sieben starke Bände werden und die Einleitung brauche ich erst in zweihundert Jahren abzuliefern. Es wird eine Geschichte des Venus-Kultus, und ich entwerfe jetzt den Text in Gedanken. Das Thema liegt mir deswegen sehr gut, weil ich lange zuvor – um mich dieses Hilfsworts zu bedienen – auch in Tempeln der Isis und der Astarte gedient habe, und weil ich beweisen kann, daß diese Gottheiten mit Einschluß dar paphischen Venus Identitäten vorstellen. Ägypten, Syrien, Zypern, das ergibt bloß örtliche Unterschiede, und ich werde natürlich auch die Babylonische Göttin Mylitta in den Kreis meiner Betrachtungen ziehen.

»Mylitta, die urälteste Aphrodite von Babel, – warst du bei der auch amtlich beschäftigt?«

– Nur vorübergehend; denn ich war mit dem dortigen Kultus nicht ganz einverstanden; kennst du den Herodot?

»Zufällig besinne ich mich auf die Stelle: Mylitta verlangte, daß jede Babylonierin sich einmal im Leben irgendeinem Wildfremden zur Umarmung preisgäbe, wenn er sie im Namen der Göttin verlangte.«

– Ganz recht, und eben hieran nahm ich Anstoß; denn stelle dir vor, ich hatte doch die Sache zu beaufsichtigen und mußte im Tempelregister den Vollzug des Ritus bescheinigen. Trotzdem werde ich auch diese Barbarei in aller Ausführlichkeit behandeln, schon um darzustellen, wie sehr sich seitdem unsere liebe Frau Cythere abgeklärt hat.

»Ich möchte dir prophezeien, Gryllus, daß gerade diese Stellen in deiner Abhandlung beim Lesepublikum beträchtlichen Erfolg haben werden. Man wird sie fleißiger lesen als das meiste vom Herodot! Aber ich will dich wirklich nicht weiter aufhalten, – Chaire!«

* * *

Vor mir lag unbekanntes Gelände im wolkenlosen Sonnenlicht des Vormittags. Gehörte das zur Vorstadt Neu-Amathus? Erdgeometrisch vielleicht, allein im Anblick war es grundverschieden von dem Bilde, das ich in mich aufgenommen hatte. Eine neue Welt, heraufgekommen aus einer alten, eine anschaulich gewordene Phantasie, in die freie Landschaft geworfen von einem Künstler, der ein attisches Paradies verwirklichen wollte. Ich ließ den Tempelbau im Rücken und schritt in das Neuland. Aus der Luft klang es entgegen:

»Und die Sonne Homers, siehe sie leuchtet auch uns!«


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