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Man könnte die Frage aufwerfen, ob »die Liebe« ein geeignetes Thema für Liebende sei; und dann zu der Antwort gelangen, daß diese weder befähigt noch aufgelegt sind, über Liebe zu sprechen. Ebensowenig, wie ein betrunkener Alkoholiker imstande wäre, über die molekulare Struktur und die Chemie des Alkohols nachzudenken und Aufschluß zu geben. Der Liebende ist in so hohem Grade Objekt seiner Leidenschaft, so vollkommen darin eingesponnen, daß seinem Verstande keine Möglichkeit bleibt, sich aus dem Gefühl herauszuwickeln und nun seinerseits die Leidenschaft zum Objekt der Betrachtung zu nehmen. Der Dichter, der den Vers zuwege brachte: »und laß uns wieder von der Liebe reden«, war sicher ein Gefühlsfremdling, und aus seiner Strophe weht uns nicht die Mailuft duftender Reseden an, sondern der Schreibtischdunst einer papiernen Lyrik; denn wenn sein Sprecher das Bedürfnis spürt, ein Gerede von der Liebe, über die Liebe anzufangen, so ist er längst ernüchtert und gehört gar nicht mehr zu seinem früheren Selbst; ja, er hat schon vergessen, wie ihm damals zumute war, einst im Mai, als er in Liebe lebte, aber nicht in Redebeziehung zur Liebe. Woraus denn zu folgen scheint, daß ein Mensch, der die Liebe zu erörtern versteht, der wohl gar über erotische Motive zu neuen Aufschlüssen gelangt, nicht im Kreise der mailich Verliebten gesucht werden darf.
So war auch schon unser erstes Symposion kein lyrisches Geschwärm; und wenn die jugendliche Gastgeberin noch allenfalls aufgelegt gewesen wäre, einen Exkurs in den Empfindungsäther mitzumachen, so fanden wir jetzt in der gereiften Aspasia eine Gesprächsleiterin, in deren Gegenwart ein Gefühlsüberschwang kaum noch aufkommen durfte. Die Gesellschaft hatte sich wesentlich verändert; einige der früheren Koryphäen waren verschwunden, andere tauchten auf, und auch die neuen sahen nicht aus wie Teilnehmer eines lyrischen Kränzchens.
Aspasia betonte in begrüßender Ansprache, daß das Thema »Eros« sehr wohl fortbestehen könnte. Denn man habe sich ja gesellig vereinigt, um die Platonischen Anfänge mit erweiterten Methoden in Behandlung zu nehmen. Ich möchte nunmehr vorschlagen, sagte sie, gewisse Erscheinungen der Liebe in ihren natürlichen Gründen aufzusuchen, um da irgendwelche noch verschleierte Zusammenhänge menschlicher und tierischer Liebe aufzudecken. Ich will damit nur die allgemeine Anregung geben, ohne bestimmtes Programm, denn wir sind keine Akademie und beabsichtigen keinen Lehrkursus. Und da wir schon an dieser Tafel wegen der Überzahl der Herren keine bunte Reihe herstellen können, so wollen wir wenigstens unseren Gesprächsmotiven die bunte Reihe verstatten. Daß es uns an Stoff nicht fehlen wird, dafür bürgen die Namen meiner berühmten Gäste. Euch beide vor allen, Aristoteles und Plinius Sekundus, euch bitte ich meinem Wunsche Gehör zu schenken, in aller Willkür der Themenwahl, ich meine, nicht in vorbedachter Anordnung, sondern in der reizvollen Unordnung eines zwanglosen Gespräches. Viri doctissimi wart ihr ja schon von jeher, und man müßte diesen Superlativ noch überbieten, um eurer Gelehrsamkeit von heute gerecht zu werden, da ihr eure alten Wissensschätze noch durch die Zutaten aus letzter Forschung bereichert habt. Eure Studien begannen in entlegener Vorzeit und reichen bis zu Huxley, Wallace, Haeckel und Bölsche. Ich möchte es aussprechen, daß sich euer Altwissen mit dem Neuwissen in eurem Geiste nicht nur addiert, sondern multipliziert hat zu einer höheren Einheit, derengleichen bei einem Modernen gar nicht angetroffen werden dürfte. Und ich bin stolz darauf, heute Männer bei mir zu bewirten, die sogar auch ein Erotiker, sofern er sein Fach in der Tiefe erfaßt, als Vertreter einer universalen Wissenschaft anerkennen wird.
Aristoteles: Dein Lob, Herrin, hat für mich einen elegischen Beigeschmack. Zwei Jahrtausende lang hätte es selbstverständlich geklungen, heut verhallt es als Nachklang überwundener Zeiten und wird vom Widerspruch der Neunmalweisen erstickt, denen meine vormalige Weltherrschaft nur noch als ein grandioser Welt-Irrtum gilt. Als ich unlängst in die Bücherstapel der benachbarten Kolonie eindrang, als Redivivus, da fand ich zu meinem Schrecken eine ganze Literatur, die auf jeder Seite das Zeichen trägt: Fort mit Aristoteles! Herunter mit ihm von dem ungeheuren Piedestal, das ihm die mittelalterliche Scholastik getürmt hat! Bis auf die Spur soll es ausgetilgt werden, daß man mich vordem als Vorläufer Jesu Christi ausrief, meine Denkweise als die logica ipsius dei, Gottes selbst. Und woher dieser krasse Umschwung? Weil die Schnüffler herausbrachten, ich hätte als Naturforscher falsch beobachtet, als Logiker falsch gedacht. Zugegeben, mir sind mehrfach Irrtümer untergelaufen. Ich habe bei flüchtigem Zählen festgestellt, daß die Fliege vier Beine besitze, und habe verbreitet, daß das Rebhuhnweibchen nicht durch Substanz befruchtet werde, sondern durch den Wind und die Stimme des Männchens. Noch schlimmer wurden mir meine sogenannten Anthropomorphismen verdacht, wonach ich durchweg den menschlichen Nutzen voranstellte und die ganze Wissenschaft vermenschte. Das tat ich freilich damals, als Mensch meiner Zeit, als Zeitgenosse Alexanders. Heute aber in erweitertem Horizont sehe ich die Dinge anders an und behaupte: Ihr seid stecken geblieben im alten Wust der Vermenschung, ihr Modernen, und wenn euch einer aus der anthropomorphen Misere heraushelfen kann, so bin ich es, weil ich vielseitiger bin, als ihr alle zusammengenommen. Ihr habt eure neuen eigenen Disziplinen nicht verdaut, während ich sie bloß zu berühren brauchte, um zu erkennen, daß ihr vor lauter Tatsachen zu keiner Erklärung gelangt.
Plinius: Du drückst das noch sehr zahm aus. Unsere vormalige Denkweise war entschuldbar, weil wir die logischen Fallstricke der Natur noch nicht bemerken konnten, während die Heutigen ganz genau wissen, wo sie liegen, und wie absichtlich in die Schlingen treten. Der Anthropomorphismus wuchert stärker denn je, und wir werden wohl bei Erörterung der erotischen Motive Gelegenheit haben, uns mit diesem Unkraut zu beschäftigen.
Aristoteles: Einstweilen möchte ich an einem vorläufigen Beispiele aufzeigen, wie die mit Tatsachen vollgepfropfte Neuzeit mit ihrer vorgeschrittenen Logik umspringt. Also der moderne Zoologe, der sich für die Sexualität der Tiere interessiert, beobachtet Hunderte von nistenden, brütenden Vögeln und sammelt unzählige Beobachtungsdaten, um daraus Schlüsse zu ziehen. Der Hauptschluß lautet: Vögel sind dumm. Und das beweist man im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert mit der nämlichen Sicherheit, wie einen mathematischen Satz. Man argumentiert etwa: »es ist eine Eigentümlichkeit der meisten Vögel, daß sie sich nicht weiter um ihr Nest bekümmern, wenn sie sich nicht darauf befinden; das ist also jedenfalls ein Zeichen recht geringer Intelligenz« – denn der Mensch, das sapiente Tier, so ergänzt das logische Zwischenglied, gibt doch Haus und Wohnung nicht preis, auch wenn er spazieren geht oder verreist. Der Zoologe redet weiter: »Offenbrüter werden durch gelegentliche Störungen, durch Fremdkörper im Nest, wie hereingefallene Taxusblätter oder Tannennadeln dauernd daraus vertrieben. Die Vögel kommen dann nicht auf den doch so nahe liegenden Gedanken, derartige fremde Gegenstände aus dem Nest zu entfernen – ein deutliches Zeichen, wie gering ihre geistigen Fähigkeiten sind.« Glänzend beobachtet! Aber jetzt kommt der Vogel, der kehrt die Betrachtungen um und erlaubt sich, genau so ornithomorph den Menschen zu beurteilen, wie dieser anthropomorph den Vogel. Er sieht die Leute auf einem Schiff im Ozean untergehen und ertrinken, ohne daß nur einer den Versuch macht, fortzufliegen; wie dumm! Ein Storch schließt: Der Mensch ist doch Äronaut wie wir, aber er fliegt nicht im Winter nach Süden, sondern klebt an der nordischen Scholle und trägt alle Unbilden des Frostes, – wie dumm! Nun ist der Mensch wieder an der Reihe. Er besitzt seit Humboldt, Dove und Helmholtz eine Wissenschaft, die er Meteorologie benamst, Witterungskunde, und von deren Unzuverlässigkeit ihm jeder Tag traurige Proben liefert. Dagegen stellt er zuverlässig fest: Zugvögel fühlen das Wetter sicher voraus; findet trotz klarer Witterung des Morgens kein Vogelzug statt, so erfolgt bestimmt im Laufe des Tages ein Wettersturz; und er ergänzt: da muß wohl beim Zugvogel die unbewußte erdkundliche Erfahrung vieler tausend Generationen mitspielen. Aber er vermag sich nicht zu dem Hauptschluß aufzuschwingen: Folglich verstehen die Vögel mehr von der Meteorologie als wir Forscher. Denn vermöchte er es, so müßte er weiter schließen: der von mir als dumm erklärte Vogel überragt mich in einer Wissenschaft, folglich bin ich noch dümmer als er; und das kommt dabei heraus, wenn man die ganz anthropozentrischen Begriffe Höher–Nieder in irgendwelche biologische Betrachtung hineinträgt.
Lukian: Verehrter Aristoteles, du warst einer der ersten, der das getan!
Aristoteles: Und nun will ich der erste sein, der sich davon losringt. Muß man gerade ein Saulus sein, um seinen Tag von Damaskus zu erreichen? und muß man am Dogma festkleben, bloß deswegen, weil man es selbst einmal aufgestellt hat? Ich halte mich nicht an einem Gerüst fest, zu dem ich das Bauholz geliefert habe, wenn ich erkenne, daß es baufällig und sturzreif ist. Heute sehe ich alle Tierkunde im Dogma erstarrt, und ich bin sicher, auch in der Geschlechtskunde werden wir genug Dogmatisches aufspüren.
Aspasia: Also darauf willst du hinaus. Du möchtest unserem Programm zufolge die menschliche Sexualität in Beziehung setzen zur tierischen, und hast vorläufig mit deinem Exkurs auf Klug und Dumm nur die Richtlinie bezeichnet. Gleichviel, wenn nur schließlich für das Erotische etwas Belehrsames herauskommt.
Aristoteles: Richtig erkennst du das Ziel, und indem du mich ermunterst, die Richtlinie fortzusetzen, verheißt du mir auch Nachsicht. Denn es wird hier nicht so einfach und harmlos zugehen, wie in den alten Phrygischen Tierlegenden, die unsere Jugend erheiterten . . .
Eine Stimme aus dem Hintergrund meldete sich zu dem Zwischenruf: Gut, dann wird man eben neue Tierfabeln erfinden! Öffne nur den neuen Weg, entdecke uns neue Beziehungen von Tier zu Mensch, und dann wollen wir zusehn, ob wir nicht auch in die Tiersprache einen neuen lustigen Sinn hineinlegen können. Der Zuruf ging von einem schiefgewachsenen Greise aus, sicher dem ältesten Mitgliede dieser Runde; aus seinen Augen blitzte der Schalk, und man brauchte seine Divination nicht anzustrengen, um die Person nach Namen und Herkunft zu erraten.
Lieber Äsop, sagte Aristoteles, du würdest heute als neuer Fabulist einen schweren Stand haben, denn mit deinen niedlichen Vorstellungen von Tugend und Ehre im Tierreich ist hier nicht durchzukommen. Wenn die Fabel ein Spiegel sein soll, worin der Mensch sich selbst erkennt, so müsste er heut ganz anders geschliffen werden, als vormals. Denn die Optik des Planspiegels wird unzulänglich für alle geschlechtlichen Reflexe, und diese lagen dir ja ganz fern. Für dich war die Kreatur ein Verzehrer, Räuber, Opfer, Held, Narr, oder was immer, aber kein Samenträger, und deine Kreatur lebte eine persönliche Existenz außerhalb der Art und Begattung. Deine Bestie war zum Beispiel eifersüchtig auf eine andere, die ihm einen Freßknochen oder Käse abjagte, aber nicht auf den Rivalen, der ihm zum Verdruß ein Weibchen bespringen will. Diese Eifersucht interessiert uns augenblicklich mehr, und wir hätten also den Spiegel so umzuschleifen, daß er uns die menschliche Eifersucht, sexuell genommen, im Reflex der tierischen zeigt.
Äsop: Wozu erst die Umstände? das liegt doch ganz einfach. Das Tier haßt seinen Liebesgegner, tötet ihn, verstümmelt ihn, und der Mensch tut ganz dasselbe, möchte es wenigstens ebenso machen. Ich sehe da kaum einen Unterschied.
Plinius: Ich sehe einen, oder vorsichtiger gesagt, ich fühle ihn. Beim Übergang vom Tier zum Menschen, wo sich soviel verändert hat, müßte sich doch auch in der Eifersucht eine Wandlung vollzogen haben.
Aristoteles: Das sollte man annehmen. Und da nach der Meinung sämtlicher Entwickelungslehrer vom Typus Darwin die bestialischen Überlieferungen immer mehr verschwinden, um dem geistig-moralischen Platz zu machen, so könnte vielleicht auch die Eifersucht, als ein bestialischer Grundtrieb der Evolution unterliegen. Sie hat entweder ihre Metamorphose schon durchgemacht, oder sie erwartet sie noch.
Äsop: Beides höchst unwahrscheinlich. Denn die Liebe hat vor dem Hunger keinen Vorsprung, und ich kann mir eine eifersuchtslose Menschenwelt ebensowenig vorstellen, wie eine, die nicht frißt.
Aristoteles: Der Vergleich hinkt. Denn die Eifersucht ist nicht äquivalent dem Nahrungstrieb, sondern der Raubgier, mit der Wolf und Affe dem Nachbarn den Knochen oder Käse vom Munde reißen. Nun zeigt aber die Entwickelungsgeschichte, daß diese raubwütige Freßgier zwar als eine sehr verbreitete, aber nicht als die alleinige Form des Nahrungswillens auftritt, und daß sie durch friedliche Übereinkunft auf sozialem Wege ausgeschaltet werden kann. Es wäre mithin auch denkbar, daß ihr Gegenstück, die sexuelle Eifersucht, nicht unbedingt mit der Gewalt eines Naturgesetzes aufzutreten braucht. Wir gelangen hier an parallele Erscheinungen, die ein Grenzgebiet zwischen Morphologie und Psychologie bezeichnen. Der Mensch will die Distanz zwischen sich und dem Tier vergrößern, will den Vorgang durch eigenen Eingriff beschleunigen, über die Maßnahmen der Natur hinaus. Die Eingeborenen am oberen Nil wissen nichts von Oken und Darwin, aber sie wünschen Evolution; sie schlagen sich alle Schneidezähne aus mit dem alleinigen Motiv, daß sie sich vom gezahnten Tier möglichst auffällig unterscheiden wollen. Auf dem malayischen Archipel glaubt man sich schämen zu müssen, wenn man weiße Zähne »wie ein Hund« hat, und tüncht sie deshalb mit allen Farben. Ich vermute, daß du, Plinius, aus deinen jüngsten Studien ähnliche Beispiele zur Hand hast . . .
Plinius: Soviel du willst: gewisse Indianerstämme reißen sich die Gesichtshaare, Augenbrauen und Augenwimpern aus, indem sie sagen, sie wünschen nicht »wie Pferde« auszusehen. Das Streben, sich dem Tier zu verunähnlichen, ist sicher allgemein, und ich denke, der größte Teil aller Modenarreteien wird darauf zurückgeführt werden können.
Aristoteles: Nun, Äsop, fabuliere! wie müßte ein Tier, das von diesen Dingen Kenntnis erhält, zum Menschen sprechen?
Äsop: Das ließe sich ausmalen, wohlverstanden in deinem Gedankengange, der mir immer noch nicht ganz einleuchtet. Aber ich bin ja hier, um mich und meine Fabeltiere auf aristotelisch umzuschulen. Also dann nehme ich etwa einen Pavian und lasse ihn reden: Mensch, was treibst du für Torheit! Du willst anders aussehn als wir, bleibst aber im Wesen unseresgleichen. Deine Arbeit ist Pfuscherei. Willst du von uns abstechen, so wirf die Eigenschaften der Tierseele von dir. Reiße dir nicht die Haare und Zähne aus, sondern die Eifersucht, dann wirst du anders sein, nicht bloß scheinen.
Aristoteles: Das läßt sich hören. Und dein gescheiter Pavian liefert zugleich einen wirkungsvollen Grund gegen die ganze Evolutionslehre, die nichts anderes ist, als ein unverbundenes Gemenge von Beobachtungen, die nur Tatsachen beschreibt, ohne sie zu erklären. Denn wenn die Eifersuchtslosigkeit der höhere Zustand sein soll . . .
Aristipp: Sie ist es! und die praktische Vernunft wird es allmählig begreifen, daß eine wahre Glückseligkeit gar nicht zusammenbestehen kann mit der Eifersucht, welche die Liebe vergiftet.
Aristoteles: Das heißt doch, die Natur hätte ihre ganze geschlechtliche Zuchtwahl, den ganzen Sexualkampf nur provisorisch eingesetzt, und behielte sich vor, ihn später wieder abzuschaffen. Aber damit fällt doch die Evolutionstheorie überhaupt. Denn wie wollte die Natur ein »Höher« erzielen, ohne die Sexualmethode, die nur die Besten, die Kampflustigsten und Eifervollsten zur Fortpflanzung ausliest und übrigläßt?
Aristipp: Das ist eben ein unbewiesenes, haltloses Dogma, und du selbst hast doch erklärt, daß man sich vom Dogmatischen befreien muß. Gäbe es in den Effekten der Liebesauslese ein »Höher«, so hätte der Höchststand doch schon längst erreicht sein müssen in den Jahrmillionen der Emporzüchtung, und wo ist er anzutreffen? Beim Brunfthirsch, beim Othello, der seine Frau erwürgt, oder beim Werther, der lieber auf alle Fortpflanzung verzichtet und sich meuchelt, weil er es nicht ertragen kann, daß seine Lotte zu einem andern ins Brautbett steigt? Nein, es gibt kein Höher und Nieder, die ganze Emporzüchtung ist ein Schwindel, jede Kreatur ist niederst und höchst zugleich, jeder Mensch ein Wurm, jeder Wurm ein Gott, je nachdem man den Betrachtungsapparat so oder so einstellt. Keine natürliche, keine sexuelle Auslese verbessert etwas, sie variiert nur immerfort kaleidoskopisch, und sie kann gar nichts verbessern, da die Qualitäten Gut und Ungut gar nicht in ihr vorkommen. Und wenn ich selbst vor einer Minute eine höhere Glückseligkeit in Anspruch nahm, so unterlag ich einem der tausend Sprachschnitzer, die man durchschaut, ohne ihnen entfliehen zu können; ich wollte damit nur sagen: unter den Geistesvariationen der Zukunft wird sich eine befinden, welche die wutfreie Liebe als angenehmer empfinden wird, als die von allen Affekten der Eifersucht gepeitschte. Und ich füge hinzu: auch das braucht nur ein Übergang zu sein, und wieder ein paar tausend Jahre später kann sich vielleicht aus einer Vereinigung von Liebe und Kannibalismus eine neue Freude ergeben. Denn wir alle leben in unabsehbaren Atavismen, die Evolution ist nichts als ein Drehzirkel, und es liegt nur an der Beschränktheit des Alltagsverstandes, wenn er den jeweils erreichten Zirkelpunkt als den obersten betrachtet.
Aristoteles: Da hätten wir also etwas sehr Unplatonisches angerichtet. Uns wurde aufgegeben, ein erotisches Thema anzuschlagen, und beim ersten Exkurs stehen wir an den Trümmern einer Wissenschaft, vor den Ruinen wissenschaftlicher Deutung . . .
Aspasia: Du sagst das beinah mit elegischer Betonung, und das scheint mir übertrieben, denn für die pietätvolle Trauer ist diese Disziplin doch wohl zu jung; ich meine damit die Theorie der geschlechtlichen Zuchtwahl, deren Folgen als Hinaufzüchtung ihr bestreitet. Wenn ihr Recht habt, so liegt doch nur eine Episode modernen Denkens vor, die auf Ehrwürdigkeit noch keinen Anspruch zu machen hätte.
Aristoteles: Nicht richtig, Dame Aspasia. Der Begriff dieser Zuchtwahl ist uralt, er stammt von unserem Dichter Theognis, der fünfhundert Jahre vor der jetzigen Zeitrechnung lebte, lange bevor die berühmte Tafelrunde über den Eros philosophierte.
Aspasia: Ich verdiente den Verweis, aber mein Einwand sproß aus keiner Bildungslücke. In dem Augenblick, da du den Namen des Mannes nanntest, fiel mir auch schon seine Dichtung ein, und ich glaube, ich könnte sie hersagen. Wirklich, Theognis trat auf, um in schwungvollen Distichen die Bedeutung einer sorgsam geleiteten Zuchtwahl zu preisen. Aber zugegeben, die Vorstellung der Zuchtwahlwirkung im Geschäft der Paarung ist sehr alt, und die damit versippten Denkfehler blicken auf eine lange Geschichte zurück. Bist du noch weiteren auf der Spur?
Aristoteles: Prüfen wir doch mit vereinten Kräften. Das Wort Denkfehler greift nicht überall durch, wo wir in der Liebeswelt zu neuen Erkenntnissen vorstoßen wollen; denn wir geraten da an so dichte Wirrnisse, daß wir schon froh sein müssen, wenn wir nur überhaupt aus dem Allerweltsdenken hin und wieder herauskommen; wenn es uns gelingt, die Auffälligkeiten von irgendeinem neuen Standort anzusehen. Nehmen wir etwa das Rezept der Monogamie. Die Bürger unserer Kulturwelt mögen sie verschieden beurteilen, der eine betrachtet sie als eine staatliche Verordnung, der zweite als eine sittliche Notwendigkeit, der dritte als eine Fiktion, die dem polygam veranlagten Manne viele Auswege läßt; aber die große Mehrzahl wird sich doch in der Beurteilung zusammenfinden, daß die Einehe die beste Garantie für die Veredelung, zum mindesten für die Bewahrung der organischen Güte in den Folgegenerationen gewährt. Die Einehe wird also zweifellos als die wertvollste, weil nützlichste Form der Ehe angesprochen.
Äsop: Wollt' ich mir auch ausgebeten haben. Oder hältst du schon wieder eine Finte im Hinterhalt? Nein, hier könntest du mich nicht verlocken. Gegen jeden Widersacher der Einehe ließe ich meine berühmte Tugendlöwin los, die ihr Kind herausstreicht, »nur eines, aber ein Löwe!« monogam gezeugt mit einem legitim verbundenen Löwenvater.
Plinius: Leider stimmt dies ganz und gar nicht. Denn der Wirklichkeitslöwe weiß nichts von der Tugend des Fabellöwens, er hält vielmehr als Pascha einen Harem bis zu fünf Weibchen, und vielleicht verdankt er die Pracht seines Nachwuchses nur seinen polygamen Instinkten.
Aristoteles: Nicht nur vielleicht, sondern bestimmt. Denn hier spricht die Selektionslehre ausnahmsweise ganz klar und einleuchtend: wenn das Männchen sich mehrere Weibchen verschafft, so werden viele männliche Individuen nicht imstande sein, zur Paarung zu gelangen, nämlich diejenigen, die an Kraft und Glanz der Erscheinung den Bevorzugten nicht erreichen. Sonach muß die Polygamie sich als besonders günstig für die geschlechtliche Zuchtwahl erweisen, durch Hervorbringung vorzüglicher Sexualcharaktere, die im Sinne der Entwickelung den Wert des Typus steigern. Der Löwe beweist dies zur Genüge. Er ist nach Darwins Zeugnis der einzige Polygamist in der ganzen Gruppe der landbewohnenden Carnivoren, und er allein bietet wohlausgesprochene Sexualcharaktere, in deren Summe wir die Leonitas, die Schönheit, Stärke und Majestät erblicken. Die künstlerische Phantasie des Menschen könnte ohne den Löwen gar nicht auskommen, und indem der Poet und Bildner ihn immer wieder als Sinnbild der Trefflichkeit hinstellt, singt die Kunst zugleich seit Urzeiten das Loblied der Polygamie.
Stellen wir einen Zoologen vor eine Spezies von noch unbekannter Lebensweise. Sobald er daran glänzende Eigenschaften wahrnimmt, wird er zunächst schließen: dieses Tier lebt polygam; und er wird sich damit selten irren. Die Züchter durchbrechen mit dieser Einsicht sogar die natürliche Verordnung und sie erzielen damit vortreffliche Ergebnisse. Das Perlhuhn lebt von Natur aus in strenger Monogamie. Zwingt man es aber zur polygamen Paarung, so fördert man sein Gedeihen. Und man braucht das Tier oft gar nicht zu zwingen, es nimmt – wie zum Beispiel die wilde Ente – in der Berührung mit der Hauskultur von selbst den polygamen Instinkt an, zum Vorteil der Brut. Liegt in alledem keine Belehrung? Müßte nicht ein Zarathustra, der die Hinaufpflanzung fordert bis zum Übermenschen, zuerst beim Zoologen in die Schule gehen und dann erklären: Auf dem monogamen Strang ist das Ziel nicht zu erreichen; der höhere Typ kann, wenn überhaupt, nur in der Vielehe hergestellt werden, der »lachende Löwe« in Menschenfigur ist polygames Erzeugnis!
Aspasia: Und das würdest du befürworten?
Aristoteles: Verehrte Gastgeberin, verschiebe mir nicht das Programm. Du hast mir aufgegeben, Erotisches zu behandeln, um Prospekte aufzufinden, nicht aber um Propaganda zu treiben. Ich stelle Vergleiche an und sehe zu, was wohl dabei vergleichsweise eben herauskommen mag. Und wenn es dir beliebt, so wollen wir damit fortfahren, ohne uns bestimmte Vorsätze aufzubürden und besonders auch, ohne vor Seltsamkeiten zurückzuschrecken, die uns möglicherweise in Widersprüche verwickeln. Denn das kontradiktatorisch Unauflösliche ist das Wesen der erotischen Materie.
Wir werden nicht umhin können, den Oberbegriff der Liebe an sich zu modifizieren, denn die anscheinend so sichere Formel »der Mann liebt das Weib – das Weib liebt den Mann« wird im Tierreich brüchig; und in manchen Fällen wird die Polarität der Geschlechter zu einer Polarität der Gefühle. Daß das Weibchen im allgemeinen spröde ist und Werbung verlangt, ja sogar vielfach dem liebenden Angreifer zu entrinnen versucht, das erkennt ja schon die oberflächlichste Betrachtung. Dabei bleibt indes die Annahme bestehen, daß es seine Liebe aufspart für dasjenige Maskulinum, das ihm am besten gefallen und seinen Paarungstrieb am kräftigsten aufregen wird. Genügt diese Voraussetzung? Mir genügt sie nicht, und ich erwähne, daß sie auch von neueren Forschern sehr skeptisch aufgenommen wird.
In vielen Fällen muß nämlich die Ansage lauten: das Weibchen wählt zur Begattung nicht dasjenige Männchen, das ihm am meisten gefällt, sondern dasjenige, das ihm am wenigsten zuwider ist. Abgestoßen wird es von allen! Es liebt keinen einzigen, steckt jedesmal in der Zwangslage und entscheidet sich für das geringste Übel, für dasjenige Individuum, das es weniger abstößt als die übrigen. Der Grund hierfür liegt, wie ich glaube, in der urlangen Gattungserfahrung. Dem Weibchen sind durch instinktives Wissen die Folgen der Befruchtung bekannt, die ihm Mühsal bringen, während das Männchen nur mit sinnlichen Freuden daran beteiligt ist. Und dieses Vorauswissen organisiert sich im Weibchen zu einem Abscheu vor dem Akt und vor dessen Vollstrecker. Schließlich zerreißt die Natur die Schranke des Abscheus und zwingt das Weibchen sogar nicht selten in eine gewisse Anhänglichkeit. Aber diese ist kein Ausdruck der Liebe, wie wir sie verstehen, sondern eine peinliche Umschreibung, mit der das Weibchen bekennt: diesem einen Gräßlichen bleibe ich treu, denn er behütet mich davor, in die Liebesfänge eines noch Gräßlicheren zu fallen!
Aspasia: Das alles ließe sich zu hübschen Albumblättern für menschliche Freite und Heirat verarbeiten.
Aristoteles: Und noch mehr. Denn hier zerbricht die Hauptformel, und wir merken, es muß auf dem Liebesregister der Kreaturen noch etwas geben, wofür wir gar kein Wort besitzen; weil wir in unserer sprachlichen Sudelküche viel zu unsauber arbeiten. Auf unserer Kategorientafel finden wir: Liebe, Haß, Lust, Unlust, Begierde, Widerwillen, und ich selbst sprach soeben von Abscheu, obschon ich es hindurchfühle, daß auch dieser Ausdruck nicht genau paßt. Denn das Weibchen bleibt doch immer Geschlechtstier, und wenn es sich unter irgendwelcher Bedingung ergibt, so geht in seinen Organzellen Erotisches vor. Wie sollen wir nun den Trieb benennen, der sich hartnäckig der Definition entzieht? in dem das Spröde und die Repulsion vorwaltet, ohne daß die Willfährigkeit und Attraktion gänzlich verschwinden? diese Empfindungsqualität, die ersichtlich auch beim Menschen eine große Rolle spielt mit Ekelgefühlen mitten in der Lust? Ich schlage als Wort ein Surrogat vor: die Liebe mit entgegengesetztem Vorzeichen . . .
Aspasia: Das wäre doch gleichbedeutend mit Haß.
Aristoteles: Keineswegs. Denn zum Haß gehört ein gesondertes Motiv außerhalb der Liebesfunktionen. Man haßt einen Feind, der nach dem Leben, aber nicht einen Bewerber, der nach der Gunst trachtet. Wir müssen also eine Negativ-Liebe annehmen, die sich in Sprödigkeit zu erkennen gibt, aber sozusagen rechnerisch für Begattung und Fortpflanzung verwendbar bleibt. Und ich habe Ursache zu der Annahme, daß diese Liebe mit entgegengesetztem Vorzeichen in der belebten Natur eine ungeheure Rolle spielt; vielleicht eine so große wie die negative Elektrizität gegenüber der positiven in allen mechanischen Vorgängen. In der gesamten Welt-Erotik gibt es nach Quantum genau so viel positive wie negative Liebe, sie gleichen einander aus, und ergeben in Plus und Minus vereinigt das Fazit Null; das heißt, ein positiver Effekt der gesamten Liebestätigkeit auf Erden wird niemals nachzuweisen sein.
Aspasia: Ein reizendes Resultat! Ich fürchte, Aristoteles, du wirst damit deine Weltstellung, deren Erschütterung du selbst beklagtest, nicht sonderlich befestigen. Du forderst nicht mehr und nicht weniger als die Verwirklichung des Paradoxon: Eros hat aus der Erotik zu verschwinden.
Plinius: Mit Verlaub, Dame, das hat er nicht gesagt. Er behauptet nur, daß Eros, soviel er auch im Einzelnen schafft, nicht das geringste zuwege bringt, wenn man sämtliche erotische Erscheinungen zusammenzieht und gegeneinander aufrechnet. Das klingt ja auch noch recht paradox, steht aber in guter Übereinstimmung mit dem Naturgesetz von der Erhaltung der Kraft, wonach sich trotz aller Varietät der Kraftbetätigungen im Gesamtbestand nichts ändert. Gewiß, Eros schaltet, wirtschaftet und hat alle Hände voll zu tun. Wenn er aber am Ende seine Bilanz zieht, so wird er kein Saldo an Verbesserung antreffen, und die gesamte Entwickelung in Art und Individuum wird sich lediglich als eine Verschiebung herausrechnen; wie sich die Tropfen im Ozean verschieben, ohne daß eine andere Meeresform aufgezüchtet wird.
Aristoteles: Und wenn wir mit den alten auch die neuen Vorurteile verbrennen, so brauchen wir nicht zu klagen, daß auch die Moral zum Schlot hinausfliegt. Die ist das fadenscheinige Mäntelchen, mit dem sich die sexuale Evolutionistik umhüllt, um ihre klappernden Gelenke zu verbergen; ja vielleicht wird sie ohne den Moralmantel eher aufgelegt sein, diese Glieder in Behandlung zu nehmen um sie von ihrer Klapprigkeit zu kurieren. Ich halte meine »Liebe mit entgegengesetztem Vorzeichen« für ein ganz brauchbares Medikament; natürlich nur in Hinsicht einzelner Fälle. So wird berichtet, daß viele männliche Hechte von den weiblichen verschlungen werden »infolge ihrer geringeren Größe«. »Infolge« ist eine klapprige Vokabel. Sie verwechselt die mechanische Möglichkeit mit dem Motiv, das durchaus nicht bloß Freßgier zu sein braucht. Der weibliche Hecht kann vielmehr auch ein Paradigma sein für die Identität von Liebe und Fressen, der wir im Tierreich so oft begegnen, und die auch der Mensch in Resten aufbewahrt; denn der Beiß-Kuß und derlei verliebte Blutrünstigkeiten, selbst bis zum verfeinerten sanftesten Lippen-Kuß sind die letzten Spuren dieser Identität »Lieben gleich Fressen«. Nur daß sie beim Hecht als Liebe mit negativem Vorzeichen deutlicher herauskommt. Der Hecht-Mann kann sich übrigens mit dem Schicksal vieler Geschlechtsgenossen trösten; sie feiern auch in anderen Spezies fleischfressender Fische oft genug ihre Hochzeit im Magen der Gattin. Wie beurteilt nun der moderne Forscher solche Vorgänge? Er regt sich auf und fällt Moral-Urteile, weil ihn die Wissenschaft zur Anthropozentrie erzieht. So einer sieht ein Spinnenmännchen, das mitten in seinen vorbereitenden Liebkosungen von dem Gegenstand seiner Aufmerksamkeit ergriffen, in das Gewebe eingewickelt und dann verzehrt wird; ein Anblick, der den Beobachter, wie er ausdrücklich hinzufügt, mit Schrecken und Indignation erfüllt. Sehr moralisch empfunden und ebenso töricht; aber wie soll er anders empfinden, da er selbst als armer Spinnerich im Moralgewebe der Entwickelungslehre festsitzt? Nicht einmal das fällt ihm ein, daß die Beobachtung bei den Spinnen überhaupt zwischen Nahrungsfresserei und Liebesfresserei nur schwer unterscheidet; und daß unter der Decke des fettgedeckten Nahrungstisches sich etwas ganz anderes verbergen kann, eine negative Liebe, die mit Beißen und Schlingen ein erotisches Fest begeht. Der Mann wird dabei je nachdem Zuträger der Speise, oder die Mahlzeit selbst. Im Normalfall verabreicht er der künftigen Spinnenmutter ein Nahrungsklystier, indem er die samenbeladenen Tastspitzen seines eigenen Freßkiefers in die Scheide des Weibchens stößt. Im Sonderfall verwandelt die Spinne den Hochzeiter in einen Braten, unbekümmert um den moralischen Weheruf des betrachtenden Forschers. Eine Seiten-Illustration zu vielen menschlichen Begebenheiten, in denen die Dichtersentenz variiert wird: Es stirbt der Mann am Weibe!
* * *
Plinius: Deine Methode, Kollege, verspricht insofern Erfolg, als sie auf neue Begriffe lossteuert. Wonach zuerst die Philosophie große Arbeit zu leisten hätte, um der notleidenden Biologie auf die Beine zu helfen. Ich will dir nun Beispiele vorlegen, an denen du solche Hilfe versuchsweise gedankenexperimentell erproben magst. Beispiele, deren Tatsächlichkeit verbürgt ist, und von denen ich einige sogar in eigener Beobachtungspraxis bewahrheitet fand: obschon ich gestehen muß, daß sie in meinem Verstandeshorizont absolut nicht unterzubringen sind. So ist die Begattung des Tintenfisches für mich schlechterdings unverständlich, und mit menschlichen Augen angesehen, bleibt das Faktum selbst eine Unmöglichkeit. Man möchte es leugnen, selbst wenn man es sieht.
Äsop: Heraus damit! Wenn's was Fabelhaftes ist, schlägt es ja in mein Fach.
Plinius: Nein, Äsop, mache dir keine Hoffnung. Denn keine menschliche Fabulierkunst reicht an dieses Mirakel heran. Um eine Hauptsache vorwegzunehmen: der Tintenfisch, der verliebte Kraken, kastriert sich, wenn er befruchten will! er entmannt sich, um seine Mannesfunktion auszuüben.
Äsop: Aber das ist doch ein Widerspruch in sich selbst! Genau so, als wenn man sich einen Adler vorstellt, der sich seine Flügel ausreißt, um besser fliegen zu können. Besinne dich, Plinius, und erzähle uns keine Dinge, die allen Menschenverstand auf den Kopf stellen!
Plinius: Ich bleibe streng bei der Wahrheit. Zuerst besitzt der Tintenfisch sehr merkwürdige Leibesglieder, Arme von ungleichem Wert, denn ein Arm dient ihm zugleich als Liebesorgan und ist mit seiner Sexualsubstanz gefüllt. Und jetzt, im Moment der höchsten Brunsttollheit, begibt sich etwas Katastrophales: Dieser Arm, das Geschlechtsglied, wird wie ein Speer abgeschleudert, mit jähem Ruck vom Kraken losgerissen und begeht am Weibchen den Begattungsakt, ohne daß sein Besitzer, der Tintenkerl, überhaupt dabei ist. Er wirtschaftet unabhängig vom Gesamtkörper im Innern der Tintenfrau mit explodierenden Streukegeln von Samen, so selbstständig, so zusammenhangslos, daß er von einigen Beobachtern als ein ganz besonderes Tier beschrieben worden ist, als ein Eingeweidewurm, während er in Wirklichkeit nichts anderes ist, als ein losgesprengter Phallus; ein abgeschlossenes Genitalwesen, das für sich einen wild erotischen Roman erlebt. Und hier erhebt sich die abenteuerliche Frage: wer begattet eigentlich? wer genießt die Wollust? in wessen Empfindung kombiniert sich der Liebesdrang mit der Triebstillung? Ich weiß keine Antwort.
Aristoteles: Sicher ist das eine: hier liegt der Kern des ganzen Liebesproblems. Die Natur hat uns den Kraken, den Kopffüßer hingestellt als ein lebendes Modell, dessen Konstruktion das tiefste Geheimnis der Erotik andeutet. Denn hier sehen wir, daß die Frage der Liebe aufs innigste zusammenhängt mit einem weit allgemeineren Problem. Wie weit reicht das »Ich« einer Kreatur? ist es da zu Ende, wo der Körper in räumlicher Begrenzung aufhört? Dann bliebe dieser Begattungsakt völlig rätselhaft und unsinnig. Entschließt man sich aber zu der verwegenen Annahme: das »Ich« reicht weiter, zwischen dem brünstigen Kraken und seinem abgerissenen Tentakel bleibt die Einheit des Ich-Bewußtseins bestehen, so gewahrt man einen Lichtschimmer. Und dieser Schimmer kann heller werden, kann über alle Kreatur bis in die Menschenseele hineinleuchten und ihr zu einer Offenbarung verhelfen.
Ich behaupte jetzt allen Ernstes: die geometrische Trennung zwischen Kraken und Krakenglied zerreißt den Ich-Zusammenhang der Teile keineswegs. Es ist dieselbe scheinbare Zerreißung wie zwischen dem liebenden Menschenmann und seinem Samenfaden, der sich von ihm fortsprengt, um in die Eizelle des Weibes zu dringen. Wenn die Nerven des Mannes dabei Wollust empfinden und in seinem Hirn Glücksgefühl tobt, so ist dies nur das Rückbild einer Lust, die örtlich, sogar zeitlich von ihm getrennt in einem ganz anderen Raume aufflammt. Danach würde jedes Tier und jeder Mensch den Kraken-Vorgang wiederholen; und wenn sich unser Denken gegen diese Vorstellung aufbäumt, so liegt dies daran, daß wir über unser eigenes Ich, über die Grenzen unserer Persönlichkeit in einem Wahn leben. Gelingt es uns aber, jene Vorstellung denkerisch zu bemeistern, so gelangen wir von einem erotischen Ausgangspunkt an ein Hauptziel der Weltweisheit, an eine Erweiterung der Grunderkenntnis. Denn das Problem des Seins und Werdens hängt aufs engste zusammen mit der Frage: Ist das »Ich«, das abgegrenzte Individuum, eine Wirklichkeit oder vielleicht nur eine Fiktion?
Zunächst erscheint es fürchterlich, wenn es ausgesprochen wird: das »Ich« ist nicht zu retten, es ist eine Täuschung, die uns mit ungeheurer Überredung und Gewalt durchs Leben begleitet. Es hat sich in uns gebildet als Reflex einer uns gänzlich unbekannten kosmischen Einheit, aus dem mystischen Gefühl heraus, dieser erträumten Einheit müsse eine subjektive, persönliche Einheit gegenüberstehen; Reflex irgendwelcher Tatsachen da draußen, die an sich nur Bewegungen sind, Schwingungen, quantitative Strukturdinge, die von den Sinnen aufgenommen zu qualitativen Empfindungen umgetäuscht werden. Hierauf baut die Identitätsphilosophie ihr Doppelspiel: Einheit der Welt – Einheit des logischen Bewußtseins, zwei Imaginärgrößen, aus deren Vereinigung wiederum etwas Imaginäres entspringt: Einheit des Subjekts. So arbeitet jeder Mensch als Identitätsphilosoph, und nur der denkkräftigste vermag zu erahnen, daß das »Ich«, die begrenzte Persönlichkeit, in der Welt der Realitäten gar keine Stätte findet.Leise Spuren dieser Gedankenwege lassen sich tatsächlich bis zum ursprünglichen Aristoteles zurückverfolgen. Wie er hier vorgestellt wird, verarbeitet er auch Ergebnisse der Neuzeit und gelangt damit an die hier dargelegten Folgerungen. Diese dringen in biologische Gründe, wären aber kaum möglich gewesen ohne die Vorarbeiten der Denker Fechner, Avenarius, Mach, Mauthner, Vaihinger u. a., die nicht von der Zoologie herkamen, sondern von der Philosophie.
Ist aber das Bewußtsein keine Einheit, sondern mannigfaltig wie die Welt da draußen, so ist zu denken, daß das Selbst hinübergreift in die Nachbarschaft, dergestalt, daß ein ganzer Komplex von Organismen, eine Art, Gattung, die Tierheit, die Menschheit, ein stärkeres Recht hätten, von ihrem Ich zu reden als das Einzelwesen. Und hieraus ergäbe sich eine schöne und trostvolle Gefühlsproportion. Was lehrte uns der liebende Kraken? – die Distanz wird bedeutungslos vor dem Gefühl; das abgelöste Genital hat das Tier über sich, dieses die Spezies bis zur Klasse und weiter hinauf, und so verschwindet das enge Ich nur, um einem erhöhten Über-Ich Platz zu machen. Also ist auch das einzelne erotische Menschentier nur eine Vorstufe zur Gesamtheit, die sämtliche Liebesakte zugleich mit einem unvorstellbaren, aber sicher vorhandenen Liebesbewußtsein aufnimmt. Wie sich das Atmen des Meeres in Flut und Ebbe zu einer einzigen Atmung einer Lunge verhält, so dieses erotische Bewußtsein der Gesamt-Ichs zu den kleinlichen Wollüsten des Einzelwesens. Wir sind damit noch sehr weit entfernt von einem Begreifen, aber dem Erkenntnistheoretiker muß es genügen, die Vorurteile abzuschütteln, die den Suchenden mit Sicherheit in eine falsche Richtung drängen. Solch ein Vorurteil ist der Wahn, ein Geschöpf müsse unbedingt den Liebesakt mit den unserer Vorstellung geläufigen Mitteln einer Injektion ausführen, mit einem besonderen, fest an ihm haftenden Instrument. Es geht eben auch anders, und je größeren Spielraum wir dem Begriff »Individuum« gewähren, desto leichter gewinnen wir allgemeine Gesichtspunkte, wo der schulmeisterliche Beobachter am Kuriosum und an der Schrulle der Natur hängen bleibt, ratlos staunt, sich entrüstet, oder zum Gelächter Veranlassung findet. Und so auch umgekehrt: je mehr wir uns im Felde erotischer Seltsamkeiten tummeln, desto deutlicher wird uns die Einsicht, daß mit dem blanken Individual-Begriff der Natur gegenüber nicht auszukommen ist.
Plinius: Vielleicht wäre es förderlich, ihn überhaupt dehnbar zu machen. Nehmen wir ein Kleinwesen, das Wassertierchen Amöbe, das sich durch einfache Teilung fortpflanzt. Die Amöbe besitzt keine differenzierten Organe, sie frißt, atmet, sondert ab und zeugt, mit dem ganzen bißchen Substanz ihres Körperchens. Man könnte sagen, so groß oder so klein sie besteht, ist sie ganz Mund, ganz Magen, ganz After, ganz Geschlechtsorgan. Psychisch mit uns verglichen ist ihr Bewußtsein gewiß minimal, aber wenn sie sich spaltet, wenn sie zeugt – und das tut sie unaufhörlich – ist ihr ganzes kleines Ich ein Stückchen verkörperte Liebe, auf der Stufe schwacher Bewußtheit restlos etwas Erotisches. Ohne Begrenzung fließen Vater-Mutter-Kindschaft ineinander, und jedes dämmernde Einzel-Ich der Amöbe mag schon von den erotischen Süßigkeiten aller Folgegeschlechter erfüllt sein, denn ihre stetige Teilung zu lebendiger unabsehbarer Progression umschließt die Unsterblichkeits-Idee, die den metaphysischen Grund aller Liebe bildet. Wie stellt sich nun hier die Persönlichkeit des einzelnen Tierchens dar? als unendlich klein, wenn man es herausfischt oder seinen Wassertropfen verdampfen läßt; als unermeßlich, wenn man ihm die Bedingungen seines Gedeihens nicht verkümmert. Anderer Fall: Bei der Arachnidensorte Nephila sind die Männchen so klein, daß sie wie Parasiten, wie Läuse auf ihren Gattinnen leben. Nichts läge im Wege, das Nephilapärchen als ein einziges Individuum von überwiegender Weiblichkeit aufzufassen, da Er räumlich und dynamisch gegen Sie gar nicht in Betracht kommt. Man könnte aber auch sagen, dieses Individuum sei überwiegend männlich, da Er sich trotz seiner Kleinheit in seinen Mannesrechten behauptet, und Sie trotz ihrer Größe gegen seine Gelüste wehrlos ist. Noch dehnbarer und zugleich verschrumpfter wird der Individualbegriff bei der Wurmsorte Bonellia, bei der man eigentlich sagen müßte: ihr Ich-tum hat das seinige moralisch aufgefressen, nicht physisch; sie hat ihn erotisch verschlungen, und er lebt in seiner männlichen Erbärmlichkeit in ihr fort, mit einer Existenz, gegen die ein Parasitendasein noch erhaben wirkt. Den Herrn Nephilus hätte man noch mit einem würdelosen Menschenmann vergleichen können, der nichts ist, nichts hat und auf dem Reichtum seiner Eheliebsten schmarotzt. Das fällt hier fort. Die Wurmfrau Bonellia viridis, im Adriatischen Meer beheimatet, übertrifft ihren Gemahl in der Länge um das Siebzigfache, mithin an Körperlichkeit und Gewicht um mehr als das dreihunderttausendfache, und Bonellius, der sich teils in ihrer Speiseröhre, teils in ihrer Geschlechtsöffnung aufhält, verschwindet vollkommen in ihr. Damit erlischt aber auch die Möglichkeit einer Orientierung, alle Maßstäbe versagen, dieses Verhältnis von männlicher zu weiblicher Individualität bleibt – für mich wenigstens – gänzlich unfaßbar.
Aristoteles: Versuchen wir trotzdem, eine Lichtluke zu öffnen, und zwar dadurch, daß wir abermals einen Fehlbegriff von der Kategorientafel fortwischen. Wir sagen: Männchen–Weibchen und kleben an dieser unverbrüchlichen Zweiteilung fest, während die Natur weit darüber hinausgeht. Denn ihr ist das Individuum gleichgiltig und nur die Gattung wichtig. Nichts zwingt mich, jenen winzigen Wurm als ein geschlossenes Mannessystem anzuerkennen; ich erinnere mich des Krakenproblems und sage: dieser Wurm ist ein abgesprengtes Tentakel, ein Samensplitter, das die Gattung zum Zweck der Befruchtung ausschleudert und das seine Sendung erfüllt wie ein Spermafaden im Weibeskörper. Ihr wollt dieses Fädchen ein »Tier« nennen? damit befriedigt ihr nur ein Sprachbedürfnis, denn das »Tier« ist undefinierbar. Man braucht sich bloß von der Worttyrannei loszumachen, und die Monstrosität verwandelt sich in eine anschauliche Analogie. Jenes Wurmweib ist gar keine Riesin, sie ist so wenig mit dem eingesperrten Zwerg verheiratet, wie eine Frau mit dem Zoosperm, das sie herumträgt und dessen Selbst in ihrem Eigenwesen aufgeht. Wiederum ein Modell, das uns aufzeigt: wir setzen Definitionen hin und geraten an den Punkt, wo sie nicht passen; woraus folgt, daß sie von Anfang an falsch waren; denn sobald wir sie nur im leisesten korrigieren wollen, passen sie wieder nicht an den andern Modellen. Jedes Problem, so auch jedes erotische, ist im Grunde ein Definitions-Problem. Und da wir mit Ausnahme rein mathematischer Dinge überhaupt nichts definieren können, so lehrt unsere erotische Erörterung: die Lichtluken, die wir allenfalls öffnen können, geben den Blick nicht frei auf Begreiflichkeiten, sondern auf funktionale Zusammenhänge. Der Wissenschaft fällt letzten Endes die Aufgabe zu, diese Zusammenhänge so herauszuarbeiten, daß möglich viele Beziehungspunkte zwischen Weltlogik und Menschenlogik kenntlich werden. Das ist das Ziel einer Philosophie, welche Einsichten zu lehren und Verzichte zu lernen haben wird. Aus keiner Quelle aber fließen ihr die Tatsachen, die ihrer Arbeit den Rohstoff liefern, so reichlich zu, wie aus dem Born der animalischen Liebe.
* * *
Und das Künstlerische?
Es ist doch vom Erotischen gar nicht abzutrennen, wir alle sind davon durchdrungen, daß Schönheit und Künstlertraum als Derivate aus Liebesprozessen fließen. Aber vorläufig führten die Naturforscher das Thema am metaphysischen Zügel, und es bedurfte des Eingriffs der Aspasia, um im Gelände der Untersuchung einen freundlicheren Weg freizumachen. Sie widersprach nicht direkt, aber gab zu erkennen, daß ihr nach soviel Verzichts-Philosophie freudigere Ausdeutungen der erotischen Dinge willkommen wären. Es kam von ihr wie der Mahnruf in der Chorsymphonie: O Freunde, nicht diese Töne, sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere! Und sie selbst machte sich anheischig, den andern Ton anzuschlagen, wenn man ihr eine kleine Vorbereitungsfrist gestatte. Es entstand eine Pause, die von ihr zweckdienlich verwertet wurde. Wie mir schien, ließ sie sich in einem Seitengespräch von den Forschern einige Positivitäten mitteilen oder bestätigen, die sie brauchte, um von der Sexualität zur Kunst überzuleiten. Da ich der Zeit entrückt war, so kann ich nicht angeben, ob sich diese Pause über Minuten, Stunden oder Tage erstreckte.
– Werte Genossen, begann die Rednerin, unser Symposion geht zu Ende, und ich habe Anstalten getroffen, um es mit einer kleinen Schaustellung künstlerischer Art zu beschließen. Denn ich glaube, daß sich hier Gedankenbrücken spannen, die zuvor noch nie betreten wurden. Von diesen wollen wir einige wenige aufsuchen, mit dem Vorsatz, stetig zurückzublicken auf die Tiefen der Tierwelt und uns dabei fragen, ob nicht die Niederungen bisweilen Gipfel darstellen.
Unsere Ästhetik, sofern sie sich mit derlei Dingen beschäftigt, verfährt immer noch sehr herablassend. Sie erklärt gnädig den singenden Vogel für den Vater der Musik, den bunten Pfau oder Schmetterling, der im Sexualbewerb seine Hochzeitsfarben gewann, für die ersten Andeuter des künstlerisch gestalteten Gemäldekolorits; immer mit dem Vorbehalt: dort liegen nur die Uranfänge, die sich zur eigentlichen Kunst verhalten wie ein Windgeflüster in Baumblättern zu einer sechzehnstimmigen Messe. Wir haben indeß Ursache, die Wertdistanz zu verkleinern, und wenn die Schulästhetik bei ihrem Hochmut verharrt, so ist unsere antike Korona mit modernem Einschlag berufen, das wesentlich andere Urteil der Zukunft vorwegzunehmen.
Wir machen eine flüchtige Koloritstudie am Argusfasan. Die Augenflecke auf den Schwungfedern sind so schattiert, daß sie wie lose in Aushöhlungen liegende Ornamente erscheinen, sehr hübsch, aber flach oder konkav; die geometrische Anordnung verdient Lob, der Farbeffekt läßt zu wünschen übrig. Jetzt aber streckt der Vogel die Federn aufrecht in die natürliche durch die Brautwahl bedingte Stellung. Sobald nun das Tageslicht von oben auf sie fällt, begibt sich eine Verwandlung. Jeder Augenfleck wird konvex und gleicht dann sofort jenem ornamentalen Motiv, das man Kugel- oder Sockelverzierung nennt. Zeigt man die Verwandlung einem Künstler, so gerät er in Ekstase über den unvergleichlichen Effekt, und er hat auch alle Ursache dazu, denn in dieser Hinsicht verfährt die Natur erfindungsreicher als alle Künstler zusammengenommen; aber er nimmt die Pracht als etwas Gegebenes, als einen Schmuck, der dem Tier so anwuchs, anstatt zu erklären: dieser Vogel ist ein großer Künstler! denn wie sollte ein abgezogener Begriff, das Abstraktum Zuchtwahl, derartiges zuwege bringen, wenn nicht in dem Fasan die geniale Tendenz obwaltete, solche Herrlichkeit aus sich herauszubilden? Gar nicht zu reden von der unglaublichen Kunststruktur jedes opalisierenden Federstrahls, die um so glänzender wird, je stärker man vergrößert, und die doch im Ingenium des Vogels als Vorstellung gelebt haben muß, bevor er sie als Erscheinung an die Oberfläche warf.
Skopas: Immer noch nicht genug, Aspasia: dieser Fasan gefällt nicht nur seiner Geliebten, sondern auch uns, während der Mensch nicht das Geringste von Natur aus trägt, wovon er mit einiger Sicherheit annehmen könnte, es gefiele irgendwem außerhalb des in parteilicher Selbstgefälligkeit befangenen Menschenkreises. Das beweist er sich ja selbst andauernd, indem er sich mit lauter Tiersubstanzen schmückt, mit Federn, Pelz und Seide, ohne inne zu werden, daß er damit dem Tier-Ingenium ein Kunstvermögen zuweist, das dem menschlichen Organismus versagt bleibt. Nur daß der Ästhetiker sich wieder auf den Biologen stützt, der ihm zuraunt: Ja, beim Tier ist das alles bloß zweckvoll, lediglich Nutzeffekt, nicht wie bei uns von künstlerischer Absicht betont . . .
Aspasia: Bis sich auch hier das menschliche Eitelkeits-Dogma herausstellt. Sage, Plinius: gibt es beim Tier die Kunst um der Kunst willen?
Plinius: Das ist klar aufzuzeigen. Denn eine Menge von Schönheitswirkungen sind dem Tier gar nicht nützlich. Vielfach opfert sich das Tier für seine Farben und hervorragenden Zeichnungen, da es durch diese seinen Feinden verraten wird und diesen zur Beute fällt. Ein glanzloser Vogel, Fisch, Schmetterling hätte im Kampf ums Dasein oft weit bessere Aussichten der Lebenserhaltung als ein prächtiger, der sich selbst durch seine Buntheit allen Räubern denunziert. Er leidet an seiner Brillanz, aber er nimmt die Gefahr der Zerstörung auf sich, um das Motiv der Schönheit durchzusetzen. Welche optische Herrlichkeiten gewahren wir bei den Polypen und Medusenglocken, die mit wehenden Schleiern einherziehen, und deren prismatische Färbungen von der Natur gewiß nicht als Schutzmittel erdacht sind. Da sind Stickereibehänge wie aus dem Toilettenschatz einer Märchenprinzessin, Bezauberungen zweckloser Art, wenn man nicht als einzigen Zweck den Schönheitszauber selbst betrachtet. Und wirklich! man muß in die Regionen hinabsteigen, die der Zoologe die niedersten nennt, um in den Anfängen zugleich Höhepunkte zweckfreier Kunst zu entdecken.
Aspasia: Wenn wir sonach auch daran festhalten, daß Eros die Grundwurzeln der Kunst einpflanzt, so befreien wir uns doch von dem Wahn, sie bliebe brünstig, bis der Mensch sie zum Übersinnlichen erlöst. Das ist ästhetische Schulweisheit. Der Laubenvogel zum Beispiel betreibt eine Kunst, die gar nicht mehr an der werbenden Person haftet. Er verfährt wie ein Künstler, der eine Idee mit fremdem Material verwirklicht; er entwirft, baut, malt, dekoriert, zimmert eine Arena voller Schmuck für reizende Pantomimen, die den Begattungsakt nur noch szenisch umschreiben. Er dramatisiert seine Zärtlichkeiten. Seine Requisiten sind Muschelschalen, Federn, Knochen, Blätter, und er bietet die größte Anstrengung auf, um in seinem Theater das Gerät einer richtigen Feerie hinzustellen. Die besten Sänger wiederum sind fast nie farbig geschmückt, und in ihrer bescheidenen Federtracht scheinen sie uns anzusagen: der reine Musiker soll nie über die Wirkungssphäre der akustischen hinauswollen; er fühle nicht koloristisch, nicht pomphaft theatralisch, sondern lasse alle Empfindung in Klängen ausströmen.
Wir aber, Freunde, wollen uns jetzt den Gegenständlichkeiten der Menschenkunst zuwenden, von denen wir nun nicht mehr behaupten werden, sie seien uns durch eine besondere Gnade des Himmels zugefallen. Einige symbolische Darstellungen mögen uns zeigen, daß die alten Kräfte noch immer fortwirken, und daß wir in aller Kunst nur umformen und vervielfältigen können, was schon in ihrer erotischen Urstufe beschlossen lag. –
Plötzlich tat sich zur Seite eine weite Bühne auf, und auf ihr entwickelte sich in rascher Folge eine Reihe von Festspielen, denen man auch an anderem Ort der Aufführung die Aspasische Autorschaft angemerkt hätte. Ihr rhetorischer, geflissentlich dozierender Grundton war nicht zu verkennen, und von Gryllus wurde mir zugeflüstert, daß Aspasia schon in ihrem Alt-Athener Haus, da sie als Lehrmeisterin der Rhetorik auftrat, ähnliche Spiele inszeniert habe.
Als szenisches Vorspiel erblickten wir ein Schönheitsfest im alten Syrakus. Ein Ballett ohne Balletteusen. Denn die weiblichen Figuren, deren Wogen die Bühne erfüllte, waren vollkommen frei von zünftiger Dressur. Lose Züge von jungen Mädchen in transparenten Gewändern verschlangen sich wie aus eigenem improvisierten Antrieb zu reizenden Gebilden, die von Sekunde zu Sekunde wechselnd ein inneres rhythmisches Erleben entfalteten. Diese Reigen hätten getönt, auch wenn sie nicht von instrumentaler Musik umspielt gewesen wären; klingende Figuren, die sich nicht aus dem abgemessenen Befehl eines Spielleiters entwickelten, sondern aus dem Bewegungswunsch der Darstellenden. Zeigte sich die erste Phase beziehungslos, in freier Willkür, so gewann die zweite eine symbolische Bedeutung. Die städtische Dekoration verschwand, und auf blauem Hintergrunde entwickelte sich eine Pythagorische Phantasie: der Planetentanz, der das Kreisen der Gestirne durch menschlichen Gliederreigen nachahmt. Die Verse eines unsichtbaren Chorgesangs boten eine Umschreibung des Lukianischen Dialogs über die Tanzkunst, wo erklärt wird: der Tanz habe mit dem Weltall einerlei Ursprung und sei mit dem uralten Amor des Orpheus zugleich zum Vorschein gekommen; denn was sei die regelmäßige Verflechtung der Gestirne, ihre gemeinschaftliche Mensur und Harmonie anderes als Proben jenes uranfänglichen Tanzes?
Die Szene veränderte sich und zeigte das Paphische Gestade, den uns allen so wohlbekannten Zyprischen Strand als Örtlichkeit eines mimischen Vorgangs. Die Schaumgeborene stieg aus den Fluten, und die verzückten Ureinwohner sanken anbetend in die Knie. Aber die Göttin verschwand in die Lüfte und hinterließ den Menschen die Sehnsucht als die erste Form eines künstlerischen Wunsches. Würde es je gelingen, diese Vision wiederzubeschwören, festzuhalten, in bildnerischer Gestaltung zu verewigen? Die ersten Versuche bleiben vergeblich, der Wille und die Vorstellung reichen nicht aus, und die primitiven Kunstanfänge verraten unbeholfene, barbarische Züge. Da unternimmt es ein Menschenweib, Phryne, den göttlichen Vorgang zum Neptunsfeste zu wiederholen, als die zweite Anadyomene und als das erste Modell, vor dem die nachschaffende Kunst ihre Technik zu erhöhen vermag.
Apelles der Maler und Praxiteles lösen an diesem Modell die Aufgabe, aus Formen einer irdischen Schönen das Übersinnliche zu entwickeln. Kein Zweifel mischt sich ein, ob denn eine käufliche Dirne solcher Ehre würdig sein mag. Nur die reine Anschauung, losgetrennt von Sprödigkeiten der Ethik, bestimmt den Kunstwillen, gibt ihm das Motiv. Zweimal wird die Hetäre zur Venus unter den Händen der Meister. Und in feierlichem Zuge bewegt sich das Volk zum Tempel, in dem auf Geheiß des Praxiteles die Bildsäule der Phryne aufgestellt und priesterlich geweiht wird.
Ein Zwischenspiel zeigte mythologische Episoden, in deren Gestaltung eine gewisse Ironie merklich wurde. Wir sahen Romane der Minerva und Vesta, der vermeintlich ganz Unnahbaren, die ihrer umpanzerten Keuschheit zum Trotz schwache Stunden hatten und die erotische Gewalt kennen lernten. Als dritte in dieser Gesellschaft erschien Diana in ihrer Variante als Luna, die mit dem Jäger Endymion ihr silberbeglänztes, mit fünfzigfacher Mutterschaft gekröntes Abenteuer erlebt. Sie war mit einem flatternden Wolkenmantel umhüllt, aus dessen Wallungen sich nach und nach die Töchter lösten; zum lebendigen Zeugnis dafür, daß auch die in stillen Mondnächten keimende platonische Lyrik sich dem Weltgesetz der Zeugung unterordnet.
Den letzten Spielen war es vorbehalten, den Einfluß aphrodisischer Mächte auf die Wissenschaft darzustellen. Sie begannen mit einer Atelierszene, wo man Sokrates nicht als ehrwürdigen Philosophen, sondern als jugendlichen Bildhauer erblickte; und es entsprach der historischen Überlieferung, wenn er als Former einer Gruppe gezeigt wurde, welche die Begleiterinnen der Venus, die drei Grazien, zum Gegenstand hatte. Offenbar war Sokrates hier nicht als Vertreter einer Richtung vorgestellt, eher als ein Berühmter, der von der Kunst ausging, um bei der Denkübung zu landen. Die Beispiele sind selten, um so beredtsamer wirkt das eine mit seiner Mahnung: Denker, ladet die Grazien an die Wiege eurer Geisteskinder. Auch die strengste Wissenschaft wird sich diesem Ruf nicht entziehen, und es kann dereinst ein Wechselspiel stattfinden zwischen dem auf mathematische Begriffe zurückführbaren Schönheitskult und der Wissenschaft, die sich mit Schönheit durchtränken will. Verheißungen zeigen sich überall: man rühmt den künstlerischen Schwung abstrakter Darstellungen, und die »Eleganz« algebraisch-geometrischer Beweise. Auf Bereichen, die sonst im Frost erstarrten, keimen liebliche Blüten, die dem Betrachter anzeigen: neben den schönen Künsten ist Platz für die schönen Wissenschaften.
Die gemeißelten Grazien auf der Bühne waren lebendig geworden und führten in elysischer Landschaft den letzten Chor-Reigen, worin Frauen und Männer die Zweige und Prinzipien der Forschung allegorisierten. Man sah in geschmeidigen Figuren, die durch Attribute kenntlich gemacht waren, die personifizierten Begriffe des Experiments, des Magnetismus, der Strahlenbrechung, der Astrophysik und viele andere, die gemeinsam eine gebietende Gestalt umschwebten. Es entging mir nicht, daß die Veranstalterin der Festspiele für diesen Reigen auch einige Personen aus der Runde des Symposien herangezogen hatte, und ich glaubte, in einer Hauptgruppe Lais und Aristipp bestimmt herauszufinden. Das Standbild aber in der Mitte bedeutete das Gegenstück der erdwärts gewandten Aphrodite: Venus Urania, die bis zur Vollkommenheit idealisierte Göttin, die nur noch Seele zu Seele paart und die Geister zeugungsfähig macht. –
* * *
Möglich, daß ich hier etwas ungenau berichte; ja ich darf nicht verhehlen, daß ich für das Finale der Aspasischen Spiele mit meiner Deutung der Vorgänge nicht mehr vollgiltig in Betracht komme. Ich spürte Beklemmungen, Wirrnisse, und jetzt zum erstenmal bedrängte mich das Bewußtsein der verschobenen Zeiten bis zur Entfachung des Wunsches, wieder in einem positiven Gegenwartspunkt Halt zu gewinnen. Aber diesen Wunsch vermochte ich nicht zu realisieren. Im Gegenteil, ich verlor jetzt auch im Räumlichen die Orientierung, der Boden unter meinen Füßen schien mir flüssig oder gasig zu werden, und vor meinen Augen gerieten die Gegenstände ins Gleiten. Noch einige Sekunden später waren die Bühne, die Zuschauer, aller Inhalt der gastlichen Räume verblasen und verdampft. Nur eine Krone von Ampeln pendelte noch leise in der Luft, ohne erkennbaren Aufhängungspunkt. Jetzt stob auch die Beleuchtung auseinander in Funken, die sich durch die Finsternis zerteilten. Wo hatte ich dergleichen schon gesehen? ja, in dem duftbeladenen Naturpark nahe dem Ausgrabungsfelde, als mich die Glühzirpen umgaukelten, bevor ich das Tempelwunder erlebte und die Auferstehung der hellenischen Welt. Nun stand ich urplötzlich wieder vor dem Gehölz mit seinen Haschischdünsten und besann mich auf den Heimweg. Wollte mich besinnen, aber ich fand die Richtung nicht, und es war mir überhaupt unklar, wohin ich eigentlich wollte. Dazu kam, daß mir die Füße den Dienst zu versagen anfingen. Mühsam schleppte ich mich bis zu der Moosbank, die mir damals zur Rast gedient hatte, dort glitt ich nieder. Nur ausruhen nach soviel Anstrengung! Vor mir stand ein Mensch, der mich in meiner Sprache anredete: Kommen Sie heim, ich werde Sie stützen, hier ist kein Aufenthalt für Sie. – Sehr freundlich entgegnete ich, aber nehmen Sie Rücksicht auf meine Müdigkeit und lassen Sie mich erst ein paar Stunden schlafen. – Das eben will ich verhüten – meinte der andere – aus ärztlichem Pflichtgefühl; ich bin Hippokrates und habe dafür zu sorgen, daß ein unvorsichtiger Wanderer in diesem gefährlichen Wald nicht zugrunde geht. – Ja, wohin wollen Sie mich denn bringen, Herr Hippokrates, ich besitze meines Wissens gar kein Obdach. – Ganz gleich wohin, nur hier heraus; Sie sind ja wohl mit Aristipp gut bekannt, dessen Haus liegt ganz nahe, und er gibt Ihnen gewiß Unterkunft bis sich eine andere Herberge für Sie findet.
Er hob mich auf und geleitete mich, halb stützend, halb tragend, während sich meine Sinne mehr und mehr verflüchtigten. Nur ein leises Brausen von abgerissenen Worten wirbelte vor meinem inneren Ohr: Aphrodite – Korinth – Olympia – Ägina – Symposion – – – dann hörte auch das auf, und die Welt versank in meiner Bewußtlosigkeit.