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Die Olympischen Kampfspiele waren längst zu Ende gegangen, und für Aristipp, der sich seines Versäumnisses allmählich mit wachsender Stärke erinnerte, blieb der magere Trost: also beim nächsten Mal! in vier Jahren! Er schwankte, ob er nach seiner Heimat Kyrene zurückkehren, oder seine Reise ins Unbestimmte fortsetzen sollte, und entschied sich für einstweiliges Wanderleben, hauptsächlich zu Studienzwecken. Längere Zeit verweilte er zu Athen im Sokratischen Kreise, empfing Anregungen widerstreitender Art, knüpfte Freundschaftsbeziehungen, von deren Haltbarkeit er selbst nicht allzusehr überzeugt war, und versenkte sich in Schriften, die ihn streckenweis ziemlich weitab von den in Athen begünstigten Lehrmethoden fortführten. Vor allem fesselten ihn die Werke des berühmten Demokrit, und je mehr er sich mit ihnen beschäftigte, desto energischer meldete sich in ihm der Wunsch, den Schöpfer dieser abseitigen Gedankendinge kennen zu lernen. Im Verlauf seiner Studien war er gedrängt worden, die wichtigsten Offenbarungen Demokrits in einer Schrift zu vermuten, die vorläufig nur in einem einzigen Exemplar existierte, und dieses sollte sich, wie er erfuhr, in den Händen eines Wissenschaftsfreundes befinden, der in Ägina begütert war. Dorthin machte sich Aristipp auf den Weg, mit Empfehlungen ausgerüstet, die ihm bei Agenor (so hieß der Äginete) den besten Empfang sicherten.
Schon bei der ersten Begrüßung brachte der Ankömmling seine Anfrage vor, ob er auch wirklich die bewußte Schrift des Demokrit, den »Diakosmos«, unter den Schätzen Agenors antreffen würde. Ihm läge unendlich viel daran, und er müßte sonst die Erde bis zu den Säulen des Herkules absuchen, um irgendwo eine Abschrift des Werkes zu ermitteln.
Agenor setzte ein verschmitztes Lächeln auf und entgegnete: Schade! Ich habe das Original allerdings besessen, allein Demokritos hat es vor Monaten von mir zurückverlangt, um noch einige Veränderungen daran vorzunehmen.
Die Mitteilung war geeignet, Aristipp schwer zu bedrücken. Denn man kannte ja die unstete Lebensart des Demokrit, der in der Regel für unauffindbar galt und der jetzt vielleicht durch Ägypten oder Indien streifen mochte.
Wir werden ihn zu finden versuchen, meinte Agenor. Auf meinem Grundstück lebt ein alter Gärtner, der sich auf das Orakel der Vogelflüge versteht, und der uns vielleicht einen Hinweis aufspüren kann.
Aristipp folgte bekümmert dem Gastfreund durch die Parkwege bis zu einem großen Pavillon an der Grenze des Landguts. In einem Innenraum saß, den Rücken gegen die Eintretenden gekehrt, ein alter Mann, in Büchern vergraben. Der wandte sich um, und in dieser Sekunde wußte Aristipp, freudig erschauernd: er stand vor dem großen Forscher, vor dem »lachenden Philosophen«.
Und es ergab sich, daß Agenor seinen verehrten Freund und Verwandten Demokrit schon ziemlich lange dort beherbergte, in einem bis dahin gut gewahrten Inkognito. Denn der Forscher wollte von seinen ausgedehnten Wanderfahrten einmal gründlich ausruhen und dabei an einige seiner Hauptwerke die letzte Feile anlegen. Obschon Menschenscheu nicht seine Art war, hielt er doch darauf, sich zeitweilig zu vergittern, denn er wußte, daß jeder Besuch zehn andere nach sich zog, und daß er, um in einem Zuge arbeiten zu können, die Luken möglichst dicht zu verschließen hatte. So ahnte man nicht einmal in der Ortschaft Ägina, welch hervorragende Persönlichkeit sich in dem Schlößchen vor ihren Toren aufhielt.
Wenn jetzt Aristipp in seine Klausur einbrach, so ließ er dies in Anbetracht des Motivs gern gelten, und es machte ihm sogar Spaß, den Grund einer ungeheuren Überraschung zu bilden für einen, den nicht die profane Neugier, eine Berühmtheit zu begucken, sondern ehrlicher Wissenstrieb hierher geführt hatte. Bald eröffnete sich eine angeregte Unterhaltung, und man stand eben im Begriff, auf die gedanklichen Grundlagen in dem Werk »Diakosmos« einzugehen, als Demokrit mit der Bemerkung ablenkte:
– Schließlich ist es ein Buch wie andere mehr, und ich denke mir, daß der junge Herr Aristipp sehr bald Veranlassung haben wird, sein Interesse nach anderer Richtung zu lenken: Weißt du denn, Agenor, daß du als Gutsherr seit gestern eine neue Nachbarschaft bekommen hast? und daß diese Nachbarschaft wahrscheinlich mit stärkerem Magnetismus wirken wird als meine vorhandenen und noch ungeschriebenen Werke?
Agenor bestätigte die Tatsache, ohne auf die Folgerung einzugehen. Ja, der Gärtner habe ihm mitgeteilt, daß sich auf dem Nebengrundstück eine Dame mit einem stattlichen Gefolge von Dienerinnen angesiedelt habe. Er wisse nicht, woher sie stamme und überhaupt nichts Bestimmtes über die Persönlichkeit. Vermutlich die Geliebte eines Patriziers von Athen, die ihren Aushälter zur Abwechslung mit den Schürzenjägern von Ägina betrügen wolle.
– Da weiß ich doch schon etwas mehr, ergänzte Demokrit mit jovialem Ton. Heut Vormittag, als ich zwischen dem Buschwerk herumspazierte, und mir eben über ein Problem meiner Atomlehre den Kopf zerbrach, bemerkte ich die neue Figur drüben, und da das Gartengitter unverschlossen war, so ging ich aufs Nachbarland hinüber und sprach sie einfach an.
Demokrit, sagte Agenor mit nicht ganz ernst gemeintem Vorwurf, Demokrit, das klingt bedenklich! in deinen Jahren und bei deiner Autorität!
– Eines kompensiert sich mit dem andern, und ich wüßte nicht, wozu mir die Autorität besser dienen könnte als zu einem Vorsprung des Alters über die Jugend. Also ich genierte mich nicht, sie ebensowenig, und sie hat mir ganz ungezwungen eine Menge Dinge erzählt, die mich im Moment stärker fesselten als alle Verborgenheiten der Molekulartheorie.
Alter Sünder! drohte der Gastfreund.
– Sie heißt nämlich Lais und hat trotz ihrer Jugend, – knapp zweiundzwanzig Jahre – schon so etwas wie eine Vergangenheit hinter sich. Und das muß sie wohl haben, sonst würde sie irgendwo in Familienverschluß versauern, anstatt hier als unabhängige offenbar vermögende und verwöhnte Gutsherrin zu paradieren.
Eine Zwischenfrage – rief Aristipp, den es eigentümlich zu durchrieseln begann – stammt diese Dame etwa aus Korinth?
– Nein, sie ist eine gebürtige Sizilianerin, aus Hykkara, und wurde nach der Eroberung ihrer Vaterstadt durch den Athenischen Feldherrn Nikias als siebenjähriges Mädchen auf den Sklavenmarkt geworfen. Diese Katastrophe der Kindheit wurde das Glück ihrer jungfräulichen Jahre. Ihr Käufer, der steinreiche Strobylos aus Megara, besaß den feinschmeckenden Scharfblick, um in der unerschlossenen Knospe den Reiz der künftigen Blüte zu ahnen, und beschloß daher, die kleine Laidion zu einem Lebensschmuck für seine späteren Jahre heranzubilden. Die Sklavin wurde unter Herbeiziehung der vorzüglichsten Magister wie eine Prinzessin erzogen und entfaltete sich so glänzend, daß bald alle Fäden im Hause an ihrem Willen hingen; und wenn überhaupt noch von Sklaverei die Rede war, so kam als Untergebener wesentlich Strobylos in Betracht, während sie alle Vorrechte einer Gebieterin innehatte. Strobylos starb, ohne das Ziel erreicht zu haben, das seine vorsorgliche Männlichkeit ihm so lockend vorgehalten hatte; er nahm dafür ins Elysium die schöne Gewißheit, daß seine vormalige Sklavin als Haupterbin seiner Güter niemals die Not des Lebens kennen lernen würde.
Lais, die sozusagen jungfräuliche Witwe, verstand es auch wirklich, sich das Dasein angenehm zu machen, – sich und Andern. Sie haftete nicht eigensinnig an der Scholle, residierte vielmehr bald da, bald dort, und wo sie erschien huldigte ihr die feinste Auslese der Jünglinge und Männer. Sie galt als schwer zu erobern, allein schon die Anstrengung an sich, ihr zu gefallen, galt als befeuernder Anreiz, und ihre geringste Gunstbezeigung wurde höher bewertet, als die volle Umarmung jeder anderen. Dabei spielte die Frage, ob sie wirklich die Schönste von allen wäre, nur eine nebensächliche Rolle. Es gab sogar vereinzelte Stimmen, die eine Thais, Phryne, Theodota, rein als körperliche Modelle angesehen, noch lauter priesen. Aber Einstimmigkeit herrschte darüber, daß neben ihr als geistige Anregerin höchstens noch Aspasia in Betracht kam; und da diese wiederum mit ihren körperlichen Reizen der Zeit bereits einen gewissen Tribut entrichtet hatte, so blieb und bleibt es dabei, daß diese Lais als einzig und unübertrefflich angesprochen werden muß.
Alles sehr schön, – bemerkte Agenor, der schon wiederholt nervös hin- und hergerückt war, – aber ich vermisse in alledem das Ethische, das in höherem Sinne Platonische. Da mag einer verklausulieren wieviel er will, es bleibt doch eine sinnliche Angelegenheit, und alle diese Damen spekulieren auf die polygamen Lüsternheiten einer Männerwelt, die sie nur allzu erfolgreich ihren Pflichten in Haus und Familie abspenstig machen. Ich halte mich für keinen strohköpfigen Philister und bin gern bereit, dem Erotischen gegenüber ein Auge zuzudrücken. Aber beim Erotischen will ich das Herz beteiligt sehen, nicht bloß die Organe, die Reize aussenden und durch Reize gestachelt werden. Diese Damen wollen triumphieren, über Scharen knechtseliger Anbeter hinwegschreiten, aber nicht lieben; ja, es ist mir sogar sehr zweifelhaft, ob sie in ihrem Höhenrausch überhaupt imstande sind, diesem Gefühl ihr Herz zu öffnen. Es berührt mich deshalb peinlich, daß ein so hervorragender Mensch wie unser Demokrit von ihnen in Ausdrücken redet, als ob sie im Ernst unser Ideal der weiblichen Vollkommenheit verwirklichten.
– Liebster Agenor, versetzte Demokrit, wer in der Schätzung der Dinge von Idealen ausgeht, der bringt Maßstäbe mit, die auf den einzelnen Fall nicht passen. So eine Lais ist vielleicht ein Einzelphänomen, das für die Kultur und für die feinste Erotik mehr bedeutet als hundert ehrbare Hausmütter, die einmal aus Liebe geheiratet sein mögen, ohne die Befähigung, die unendlichen Möglichkeiten dieses Gefühl auszugestalten. Die allermeisten nähren die heilige Flamme mit dem dürren Brennholz der Pflicht, während die Glühstoffe der Leidenschaft nötig sind, um sie strahlend zu machen.
– Demokrit, wo soll denn aber bei diesen Damen die Leidenschaft herkommen?
– Aus dem Bewußtsein, daß sie auf heißumstrittenen Stellungen einen Beruf haben, und daß dieser darin aufgeht, unausgesetzt Flammen zu entzünden. Gewiß, manche bleiben persönlich dabei salamandrisch kühl; und sie verschieben den Schwerpunkt des Glücks in den Kopf und in die Nerven, weil das Herz gar nicht imstande wäre, alle Stürme ihres erotischen Daseins auszuhalten. Allein es fehlt auch nicht an zarten, echten Neigungen, und speziell deiner neuen Nachbarin traue ich dergleichen zu. Ich habe sie selbst auch danach befragt, und sie zögerte nicht mit dem Bekenntnis, daß ihr Herz noch heute die Nachwirkungen eines längst vergangenen Erlebnisses verspüre. Ich fragte weiter, ob sie mir vertrauen wolle, wer der Glückliche gewesen sei. Ob glücklich? sagte sie, ich weiß es nicht; vielleicht nur in der Betrachtung, in die er damals allen Genuß verdichtete. Und ich selbst, ergänzte sie, entzog mich geflissentlich aller weiteren Begegnung, um einem Abenteuer nichts von seiner Schönheit zu rauben, die vielleicht nur in seiner Kürze und Plötzlichkeit begründet war.
Aristipp war aufgesprungen und stürmte hinaus, geradewegs auf die Grenzhecke, über die er sich an nächster Stelle mit dem Rufe »Echo ten Thean!«: »Ich habe die Göttliche« mächtig anspringend hinüberschwang. Drüben stand sie an einem Spalier und schnitt Rosen. Von dem Anruf überrascht wendete sie sich um, ließ das Gartengerät fallen, breitete die Arme aus, und ein leises Zittern durchwogte ihren Körper, als sie aneinandersanken.
Jede Liebe ist ein Unikum, von zahllosen Unwiederholbarkeiten durchsetzt, für die Betrachtung ein Unvollendbar. Die Unendlichkeit in den Beschaffenheiten beider Menschen kumuliert sich in der Berührung zu einem Unendlich höherer Ordnung, dem gegenüber die Sprachanalyse mit ihren dürftigen, auf sinnlich, lyrisch, seelisch bezogenen Ausdrucksmitteln gänzlich verstummt. Hier vollends, bei so besonders organisierten Naturen, wird sie der Phantasie allen Spielraum gewähren und sich auf lose Andeutungen beschränken müssen, zumal Aristipps eigene Beichte eher dazu angetan war, erraten zu lassen, als zu beschreiben. Sein Verhältnis zu Lais, wie es sich nach dieser zweiten Begegnung entwickelte, besaß zwar einen stürmischen Auftakt, aber keine orgiastisch betonte Fortsetzung. Es war wie ein Berggewässer, das wildschäumend den Felsriegel durchbricht, um nach gesprengtem Hindernis als klarer, allen Reflexen des Himmellichtes geöffneter Wiesenbach dahinzufluten. Ohne Verabredung empfanden beide, daß ihre Glückseligkeit nicht von der Menge und Hitze ihrer Umarmungen abhängen durfte, sondern von dem ebenmäßigen Fluß ihrer gleichgestimmten, sich stetig berührenden Neigung. Sie wollten weder Modelle für eine heroische, noch für eine lyrische Oper werden, weder in Schmachtseligkeit girren, noch durch Argwohn und Machtwillen dramatische Akzente schaffen. Er wußte, daß er keine Vestalin vor sich hatte, und vermied es, sie auf Wege zu drängen, auf denen sie entweder hätte bekennen oder heucheln müssen. Ja, vielleicht lag für ihn ein geheimer Anreiz in der Voraussicht, daß die Tage des körperlichen Alleinbesitzes für ihn gezählt wären, und daß sich dann ihre seelische Zusammengehörigkeit um so stärker zu erproben haben würde. Ihm war es, als verfügte Lais über zwei Virginitäten in verschiedener Gleichgewichtslage; die eine, die ihrer Gliedmaßen, erneuerte sich stets im Jungbrunnen ihrer lieblichen Grundnatur und konnte wohl auch einem anderen zufliegen; die zweite indeß, die herber getönte Jungfrauschaft ihres Charakters, dessen war er gewiß, würde ihm unberührt und unverlierbar als eigen verbleiben. Man hätte von einer reinen Seelenverwandtschaft sprechen können, von einer bedingungslosen Freundschaft zwischen Mann und Mädchen, wenn nicht die Sinnlichkeit einzelne unbewachte Momente erlauerte, um gleichsam mit List zu stehlen, was man ihr ohnehin nicht verweigert hätte. Aber die nämliche Sinnlichkeit machte sich stets wieder mit ihrer Beute davon, ohne ahnen zu lassen, ob sie je wiederkehren würde. Es blieb beim Impromptu, ohne den fatalen Beigeschmack, den jede sichere Wiederholung erzeugt. In den vereinigten Akkorden ihres Lebens vernahmen sie die Freundschaft als die moralische Dominante, und mochten auch die Worte nicht ihrer Zeit angehören, so empfanden sie doch den Sinn des Satzes: das Moralische versteht sich immer von selbst.