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Wand an Wand mit mir wohnt ein Plötzist. Er geht ins Gymnasium und hat jeden Tag Sätze »auf«. Sätze aus dem Plötz. Ich kenne das. Ich habe auch Sätze aus dem Plötz aufgehabt. Aber das war vor reichlich fünfundzwanzig Jahren. Vergessen und vorbei, dachte ich. Aber das stimmt nicht. Wer einmal Sätze aus dem Plötz aufgehabt hat, bleibt verseucht. Er muß früher oder später dran glauben. Besonders wenn die Wand so dünn ist und der Nachbar eine starke Stimme hat –
»Die tapferen Generale,« dröhnte er, »die tapferen Generale –«
»Aha,« dachte ich zwangshaft, »le général, les généraux, unregelmäßiger Plural, Plötz, Seite 23 –«
»– hatten die blitzenden Schwerter in der Hand – hatten die blitzenden – hatten die blitzenden –«
»Meinetwegen,« dachte ich, »was geht mich das an? Ich will mich jetzt an meine Arbeit machen –«
»– hatten die blitzenden Schwerter in der Hand –«
»In Gottes Namen, mochten sie sie in der Hand behalten, bis sie Starrkrampf hatten – aha, ein neuer Satz – bin doch begierig – doch begierig –«
40 »Das Huhn des Kapitäns – das Huhn des Kapitäns –«
»Huhn des Kapitäns? merkwürdig, das hatten wir nicht gehabt. Das Huhn des Kapitäns mußte erst in eine neue Plötzauflage hereingelaufen sein.«
»Das Huhn des Kapitäns – das Huhn des Kapitäns –«
Ich wurde ungeduldig, ich suchte mich zu beherrschen. Ich suchte mir einzureden, daß das Huhn des Kapitäns mich nicht so viel kümmere –
»Das Huhn des Kapitäns – das Huhn des Kapitäns –«
»Zum Donnerwetter,« dachte ich, »was war denn mit dem Huhn des Kapitäns?«
»Das Huhn des Kapitäns – das Huhn des Kapitäns –«
Ich trommelte gegen die Wand. Es trat Stille ein. Gott sei Dank, dacht ich. Aber das war ein Irrtum. Ein abgehacktes Huhn gibt erst recht keine Ruhe. Schicksale stiegen vor mir auf, dunkle Hühnerschicksale – da, hatte ich es nicht gewußt –
»Das Huhn des Kapitäns ist im Hafen von Genua gestorben . . .«
»Das arme Huhn!« dachte ich befriedigt, »aber immerhin, gestorben ist es – Friede seiner Asche . . . hm, ob es wohl ein Grab bekommen hat, das Huhn des Kapitäns? – oder ob gestorben nur eine plötzische Beschönigung für gefressenwerden ist? – sicher hatte es der Kapitän abschlachten lassen – Kapitäne sind oft roh – nicht, als hätte ich nicht selber dann und wann Verständnis für verdauliche Vernichtung eines Huhnes – aber meine Hühner sind damit erledigt, während die im Hafen von Genua 41 gestorbenen Hühner des Kapitäns ewig im Plötz herumlaufen behufs Einübung des Genetivs – das Huhn des Kapitäns – welches Kapitäns? – wenn man diesen Menschen nur erwischen könnte – wenn ich an Plötz schriebe? – oder an die Hafenverwaltung von Genua –«
»O Königin, du hast in deinem Garten – in deinem Garten – o Königin –«
»Ah, endlich, die Königin – die geliebte alte plötzische Königin – die Königin, die etwas hat – behufs Einübung von avoir – gleichviel, was sie hat – im Plötz meiner Jugend hatte sie einen Sonnenschirm – einen roten, glaube ich – im Präsens, glaub' ich – im Imparfait hatte sie einen blauen Sonnenschirm, während sie sich im Passé défini mit einer Krankheit herumschleppte – la reine eut une maladie, hieß es auf Seite 27 des Plötz – aber sie ist nicht daran gestorben, die Königin, wie das Huhn des Kapitäns im Hafen von Genua – Plötz ließ es nicht zu –Plötz hatte die Königin noch einmal im Futurum nötig – la reine aura – die Königin wird haben – was wird die Königin haben? – wie man das nur vergessen konnte – la reine aura, aura – entweder war es ein Gemahl oder eine neue Krankheit, eine tödliche Krankheit – ach nein, nicht tödlich, plötzische Königinnen sind unsterblich –«
»O Königin, du hast in deinem Garten – hast in deinem Garten – hattest in deinem Garten – wirst in deinem Garten haben –«
»Aha, jetzt kam es –«
»O Königin, du wirst in deinem Garten haben – o Königin, du würdest in deinem Garten haben 42 – o Königin, du wirst in deinem Garten gehabt haben – o Königin, du würdest in deinem Garten gehabt haben –«
Ich bibberte. Ich nahm einen Hammer. Ich würde ihn gegen die Mauer schleudern, wenn die Königin nicht endlich sagte, sagen würde, gesagt haben würde –
»O Königin, du hast in deinem Garten ein Schwert, eine Ameise und eine Volksversammlung –«
Ich war starr. Ich rannte auf den Gang. Ich riß die Türe des Nachbarzimmers auf: »Junger Mann,« schrie ich, »warum hat die Königin in ihrem Garten ein Schwert?«
»Es – es steht so drin,« stotterte der Plötzist.
»Unmöglich, vor einer Viertelstunde sagten Sie, daß sämtliche Schwerter im Besitze der blitzenden Generale –«
»Eines wird die Königin zurückbehalten haben,« sagte schüchtern der Plötzist.
»Gut, das Schwert mag hingehen, aber die Ameise –«
»Aber ich finde es ganz natürlich,« sagte er, mutiger werdend, »daß in einem Garten Ameisen –«
»–sen, gewiß, aber –se! Junger Mann, bleiben Sie bei der Wahrheit! Eben sagten Sie, die Königin habe in ihrem Garten eine Ameise – bedenken Sie, in einem großen Königsgarten eine Ameise, ausgerechnet eine einzige Ameise –«
»Mir genügt die eine, den Plural von Ameisen haben wir noch nicht gehabt.«
»Aber nun sagen Sie um Himmels willen, was 43 bedeutet im Garten einer Königin neben einem verrosteten Schwert, einer einsamen Ameise noch eine ganze Volksversammlung!«
»Wir wollen meinen Professor fragen, gleich beginnt der Unterricht, kommen Sie . . .«
Ich kam. Ich stieg mit ihm die Treppen meines alten Gymnasiums hinauf. Sonderbare Gefühle beschlichen mich. Ich wurde unsicher. Mein rechter Arm kam mir so leer vor. Wo war denn meine Büchermappe? Herrgott, mein französisches Heft vergessen, und der Professor Schwippel, der da keinen Spaß verstand – »Entschuldigung,« sagte ich zu meinem Begleiter, »ich habe keine Zeit –«
Aber da hatte er mich schon hineingeschoben in die Klasse, in die volle Klasse. Und Professor Schwippel, nur wenig älter als zu meiner Zeit, schob die Brille in die Höhe: »Ein neuer, nicht? – nein, nein, ich kenne Sie – ein Repetent, ein alter Repetent – gut, wir beginnen – der zweite in der ersten Bank:
»Das Huhn des Kapitäns –«
»La poile du capitaine mourut au port de Gênes.«
»Na, das geht ja, jetzt der Repetent: O Königin, du hast –«
»Ich wollte fragen, Herr Professor –«
»Fragen kommen später,« sah er mich streng an, »erst mal übersetzen – O Königin, du hast in deinem Garten –«
»Herr Professor, ich finde diesen Satz –«
»Aha, Ausreden – nicht vorbereitet –«
»Ich muß doch bitten, Herr Professor –«
»Sie haben nichts zu bitten, zu übersetzen haben 44 Sie: O Königin, du hast in deinem Garten ein Schwert –«
»Das Schwert ist Blech, das Schwert ist blankes Blech –«
»Unverschämtheit! Natürlich, diese Repetenten –« Er blätterte in einem Büchlein. »Sie waren schon vor fünfundzwanzig Jahren so ein Lausbub, ein nichtsnutziger – einen Vierer und außerdem eine Stunde Arrest! – setzen! Der Nächste –« stampfte Professor Schwippel mit dem Fuße auf . . .
Ich erwachte, ich rieb mir die Augen, ich horchte . . . das Stampfen war ein Klopfen an der Türe. Ich stand von meinem Tische auf, an dem ich gestern abend eingeschlafen war, ein zartes Briefchen schob sich unten durch die Türe . . . »Sehr geehrter Herr! Bei diesem wundervollen Wetter sich in der Stadt zu treffen, wäre abscheulich. Ich schlage Ihnen das obere Birkenwäldchen vor . . .«
»O Königin,« jubelte ich, »du hast – du bist – Donnerwetter, die verflixten Sätze aus der Schulzeit . . .«
Es war ein wundervoller Nachmittag da droben im Birkenwäldchen. Adele saß neben mir auf einer Moosbank. Die Sonne schien so gütig. Auch Adele. Ich durfte mich an ihre Schulter lehnen. »Au!« schrie ich, von einer spitzen Busennadel gestochen, »au!«
Lachend wollte sie mich begütigen. Aber die Nadel hatte die Sätze wieder in mir wachgestochen: »O Königin,« sagte ich düster, »du hast in deinem Garten ein Schwert –«
Sie fuhr fort zu lächeln, während etwas 45 Sechsfüßiges unter ihrem Kinn in holdes Dunkel krabbelte.
»– eine Ameise –«
Sie zuckte leicht zusammen, aber blieb.
»– und eine Volksversammlung.«
»Sie gemeiner Mensch. Sie werden sich doch nicht einbilden, daß ich für Sie allein auf der Welt bin!« rief sie und entlief.
Auf Nimmerwiedersehn.
Der verdammte Plötz! 46