Fritz Müller-Partenkirchen
Kaum genügend
Fritz Müller-Partenkirchen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Faden

Sie hatten mich zu Hause gelassen, damit ich Bildung lerne, sagten sie. Ich hatte beim Mittagessen den fremden Herrn gefragt, wie er über die Geschichte von Vater lachen könne. Wir hätten sie schon hundertmal gehört und könnten nicht mehr lachen, nicht um viel Geld.

Deshalb wurde ich vom Sonntagsspaziergang ausgeschlossen. Als ob ich dadurch über Vaters alte Geschichte wieder hätte lachen lernen können. Es war zum Lachen.

Was fängt ein Junge mit einem leeren Sonntagnachmittag in einer leeren Wohnung an? Das war sicher nicht zum Lachen, das war eher zum Verzweifeln. Alles war abgesperrt, das schöne Zimmer, die Küche, die Speisekammer, sogar der Bücherschrank. Ich überlegte, ob ich die einunddreißig Nippfigürchen überm Sofabord hinunterwischen sollte. Aber vielleicht war es unterhaltlicher, alle Tische und Stühle in der Wohnung auf den Kopf zu stellen? Oder den Klavierbauch unten aufzumachen, um endlich einmal festzustellen, was darin ist?

Ich entschied mich fürs Klavier und rutschte, einen Einlaß suchend, um die Pedale herum. Da bekam ich plötzlich eins auf den Kopf. Ui, war Vater schon zu Hause? Nein, Mutters 183 Fadenröllchen war mir auf den Kopf gefallen. War das Mahnung oder Wink?

Ich entschied mich für den Wink, weil mir einfiel, was man mit einem Faden alles machen könne. Zum Beispiel einen Juxbrief. Den ließ ich an dem unsichtbaren schwarzen Faden aus dem Fenster auf den Gehsteig fallen. An Seine Exzellenz den Herrn Oberbürgermeister, hatte ich auf den Umschlag geschrieben. Aha, da kam schon einer, der den Brief aufheben wollte. Hupp, flatterte der Brief über seinen Kopf. Der Mann machte ein dummes Gesicht. Dann drohte er mit der geballten Faust herauf und schimpfte. Nach ihm fielen noch sieben Leute auf den Brief herein. Noch siebenmal wurde heraufgeschimpft und das Gesicht verzogen. Es war wundervoll.

Dann hatte ich eine alte, leere Geldbörse in der Wohnung aufgestöbert. Die ließ ich auf den Bürgersteig hinab. Wie verheißungsvoll sie in der Sonntagssonne lag. Ein Eiliger kam. Von weitem sah er schon die Börse liegen. Vor freudigem Erschrecken ging er langsamer. Wie ein Hund, der eine Katze anschleicht, hob er theatermäßig seine Beine. Jetzt schien er zum Griff entschlossen. Er schaute um, ob's jemand sähe. Hupp, ging währenddem die Börse ein Stockwerk in die Höhe. Die Hand des Mannes zuckte gegen einen leeren Flecken am Pflaster. Ich glaube, es trieb ihm die Augen vor Erstaunen aus dem Kopfe. Kopfschüttelnd und bedäppert ging er weiter. Es war zu juxig. Das ging noch zweimal so. Der nächste aber griff nicht nach der Börse. Zögernd ging er vorbei. Aber auf einmal kehrte er doch um, um das Versäumte 184 nachzuholen. Hupp, diesmal sah er die Börse hochgehen. Er wollte auch heraufschimpfen. Aber er schämte sich und verschwand um die Ecke.

Jetzt kam wieder einer, den ließ ich die Börse ruhig aufheben. Fach für Fach untersuchen, sich ärgern, daß kein Pfennig drin war, die Börse verächtlich fallen lassen – hui, wie er zurückprallte: die Börse schwebte in der Luft. Es war zum Kugeln.

Die Fenstermöglichkeiten meines Fadens schienen erschöpft. Ich ging mit ihm auf die Straße. Jetzt war gerade niemand zu sehen. Geschwind den unsichtbaren Faden quer über die Straße gespannt und in einen Fensterladen eingeklemmt. Ich war zu begierig, was sich jetzt ereignen würde. So wie ein Gott, dem die ersten Geschöpfe aus der Hand gegangen sind, begierig darauf ist, was sie beginnen werden.

Aber immer, wenn man zu begierig ist, kommt die Enttäuschung. Diesmal waren es zwei dicke Brauerpferde. Die trabten durch mein Fadenhindernis, als wäre es nie dagewesen. Es war zu ärgerlich. Ich hatte mich daran gewöhnt, den Faden wie ein Schicksal zu betrachten, das ich anderen versetzen könnte.

Ich spannte eine neue Lage von meinem Schicksalsfaden. Etwas höher diesmal. Zwei Hunde liefen unbekümmert drunter durch. Das ärgerte mich wieder. Diese Hunde waren doch zu unverschämt: keine Notiz zu nehmen von dem Fadenschicksal, das ich über meine Straße verhängt hatte.

Jetzt kamen zwei Kinder. Mein Faden strich dem einen Knaben die aufrechtstehende Locke überm Kopf glatt. »Laß diese Faxen,« sagte der 186 eine Bub zum andern, in der Meinung, der sei ihm übers Haar gefahren. – »Was für Faxen?« sagte dieser beleidigt. – »Verstell' dich doch nicht so, du Schwindler.« – »Was sagst du? Schwindler? Na warte, ich tränke dir ihn ein, den Schwindler.« Es entstand eine solide Rauferei. Es war herrlich.

Dann kam ein Fräulein mit einer stolzen Feder auf dem Hut. Mein Faden bog die Feder um und ließ sie gleich wieder in die Höhe schnellen. Es sah sehr lustig aus. So lustig, daß ich aus meinem Beobachtungsposten im Hausgang heraussprang und dem Fräulein nachrief, sie habe was verloren. Mißtrauisch kehrte das Fräulein um. Dadurch kam ihre stolze Feder noch zweimal zum Umbiegen und Aufschnellen. Es war so fidel, daß ich laut lachen mußte. Denn das Fräulein hatte keine Ahnung. Es wurde sehr aufgebracht. »Du bist ein ungezogener Junge,« sagte das Fräulein beim dritten Vorbeigehen, »man sollte dir die Hosen spannen!« – »So überspannt wie Sie mit Ihrer Hutfeder kann sie gar nicht werden,« sagte ich schnell. Es muß eine Köchin gewesen sein, denn sie hob jetzt den Arm gegen mich, wie man mit einem Kochlöffel zuschlägt. Aber davon zerriß mein guter Faden.

Ich spannte sofort einen neuen; es war noch ziemlich Zwirn auf der Rolle. Jetzt näherte sich ein Schutzmann. Er ging sehr langsam. Mein Faden ging ihm genau bis auf den Nasenrücken, wo der eine scharfe Biegung machte. Dort zersprang er. Ich konnte sehen, wie er zornig diese Stelle mit der einen Hand rieb. Mit der andern haschte er nach dem Faden. Ha, dachte ich, mein Faden 187 ist so fein, daß du ihn gar nicht sehen kannst. Aber ich hatte nicht mit dem weißen Straßenasphalt gerechnet. Auf dem zeichnete sich der niedergefallene Faden haarscharf ab. Na, wenn er will, dachte ich, kann er meinetwegen den Faden verhaften. Aber er verhaftete den Faden nicht, sondern verfolgte den Fadenlauf wie ein Detektiv. Natürlich nach der Richtung unserem Hause gegenüber. In dieses Haus ging er hinein und läutete zu ebener Erde. Ein Dienstmädchen kam heraus. Auf das sprach der Schutzmann ein. Dann gingen beide auf die sonnige Straße und betrachteten gemeinsam den schwarzen Faden, der friedlich in der Sonne lag. Das dauerte sehr lange. Ich glaube, so lange ist noch kein Faden angeschaut worden. Dann schien der Schutzmann zu sagen, das Dienstmädchen solle den Faden aufheben. Aber das Dienstmädchen schien zu sagen, der Faden ginge sie einen Pfifferling an, er möge ihn gefälligst selber aufheben. Das ging jedoch nicht, weil der Schutzmann Diensthandschuhe anhatte. Er versuchte es zwar einmal, aber die dicken Lederfinger rutschten aus. Dann ging er fort. Er versuchte oben ganz wurschtig auszuschauen. Aber an den Stiefeln unten merkte man den Zorn, weil sie so aufstampften.

Jetzt spannte ich zwei Schicksalsfäden im armslangen Abstand voneinander. Vielleicht, daß die Schicksale dadurch verwickelter werden, dachte ich. Kaum waren sie gespannt, kam eine junge Dame. Ein Herr mit einem Zylinder verfolgte sie. Die junge Dame hatte rote Backen. Manchmal sah sie sich hastig um. Ich konnte nicht daraus klug werden, ob es ihr recht war, daß ihr 188 der Herr nachging oder nicht. Jetzt kam sie an meinen ersten Faden. Der mußte mit einem kleinen Knall an ihrem Ohr gerissen sein, als sie sich wieder herumdrehte. Ich konnte es sehen, weil sie die Hand ans Ohr hob. Es sah aus, als horche sie auf einen seinen fernen Ton. Ich habe es probiert, wenn ein straffgespannter Faden ganz nahe am Ohr reißt, das klingt, als spränge plötzlich eine Saite in einem Konzert. Die Dame war erschrocken. Sie war auf einmal entschlossen stehen geblieben. Der Mann mit dem Zylinder hatte sie eingeholt und wollte sich ganz frech vor sie hinstellen. »Lassen Sie mich in Ruhe,« hörte ich die Dame ganz deutlich sagen. Es muß ihr auf einmal nicht mehr recht gewesen sein, daß ihr der Mann nachging. Aber er wollte sich nicht einschüchtern lassen. Er machte eine spöttische Kopfbewegung. Bums, flog ihm der Zylinder vom Kopf, weil er an meinen zweiten Faden angestoßen war. Es sah aus, als habe ihm eine unsichtbare Hand den Glanzhut heruntergeschlagen. Sein Gesicht dazu, nein, das war doch das Komischste vom ganzen Sonntagnachmittag. Die Dame hatte so lachen müssen, weil sich der zudringliche Mensch so schrecklich blamiert hat. Sie war nun schon weit weg, als er immer noch an seinem schmutzigen Zylinder herumbürstete. Es war wirklich zu lustig und schon zwei abgerissene Fäden wert, glaube ich.

Ich schaute auf dem Fadenröllchen nach. Für eine Spannung langte es gerade noch. Ich kam mir jetzt so schicksalsmächtig vor, daß ich beim Spannen gar nicht mehr acht gab, ob mich jemand dabei sehen konnte. Dann stellte ich mich davor 189 auf und sah, so scharf ich konnte. Da kam ein Schmetterling schnurstracks auf ihn zugesegelt. Der sah ihn doch und setzte sich darauf. Ganz still saß er da und rührte sich nicht. Das sah ganz merkwürdig aus, wie ein Wunder. Ich brauchte jemand, der sich mit mir wundern sollte. Da stand schon jemand neben mir.

»Sehen Sie,« begann ich, »welches Wunder dort –«

»Du Lausbub, du dreckiger,« sagte der Schutzmann, »dir sollte man eine runterhauen für dein Wunder. Überhaupt sollte ich dich aufschreiben wegen groben Unfugs, daß du's weißt.«

Ich nickte gehorsam.

»Wenn's noch mal vorkommt, wirst du eingesperrt, daß du's weißt.«

Ich nickte nicht. Die abgespulte Fadenrolle fiel mir aus der Hand.

»Aha, da ist die Rolle, her damit!« Er steckte die leere Rolle ein und ging. Aber ganz befriedigt war er noch nicht. Er drehte sich wieder um.

Noch immer saß der bunte Schmetterling auf meinem Schicksalsfaden und wippte leise mit den großen Flügeln. Der Schutzmann zog rasch sein Seitengewehr und hieb den Faden glatt und scharf durch. Ich und der Schmetterling stoben schicksalszerrissen auseinander.

»So,« brummte der Schutzmann befriedigt und ging. Aber wieder drehte er sich um. Fast feierlich drohend sagte er:

»Tu's nicht wieder, du Lausbub – mit einem Faden fängt's an und mit einem Strick hört's auf, daß du's weißt.« Er machte dabei eine Schlingbewegung um den Hals. 190

 


 << zurück weiter >>