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Madonna.


In Teplitz wollte es mir anfangs nicht behagen. Gewisse Gesichter, die ich auf den Straßen und in den Stuben von Berlin zurückgelassen zu haben glaubte, begegneten mir hier unerwartet auf allen Spaziergängen wieder. Ich glaubte, ich sei behext mit Berliner Gesichtern, nahm einen Wagen und fuhr nach Dux, wo Casanova gelebt und die Memoiren seiner weltberühmten Liederlichkeit niedergeschrieben hatte.

Dux ist eines der schönsten Schlösser im ganzen Böhmenlande, und sein jetziger Besitzer, der Graf Franz Adam von Waldstein und Wartenberg, ist ein sehr gebildeter und menschenfreundlicher Mann, der sich ein Vergnügen daraus macht, seine bedeutenden Sammlungen und Kunstschätze dem Fremden zu öffnen. Er hat sich durch ein größeres, lateinisch geschriebenes Werk über die ungarischen Pflanzen Verdienste um die Botanik erworben, und eine auf den Höhen der Karpathen gedeihende Pflanze rühmt sich, nach ihm den Namen zu führen Waldsteinia. Was will man mehr auf dieser Erde? Einer Pflanze seinen Namen zu geben, ist weit klüger, als ihn auf Bücher zu setzen oder in Marmor und Erz zu graben. Die Pflanze erneut Dein Gedächtniß tausendfältig in allen folgenden Jahren, aber die Kinder unserer Liebe, unsere Bücher, lassen uns doch am Ende kinderlos sterben, und pflanzen unsere Namen nicht fort, weil sie vergehen. Vergehen, vergehen, in alle Winde!

Von den Sammlungen sah ich nichts näher an, als die altdeutschen Bilder und Basreliefs, die in der That Merkwürdiges und Seltenes darbieten, und in der reichhaltigen Bibliothek, in deren Kühle ich mich von der draußen sengenden Hitze erholte, ohne auch nur ein Buch aufzuschlagen, dachte ich wieder an Casanova, der hier Bibliothekar gewesen war. Gern hätte ich mit dem Grafen ein Gespräch darüber angefangen und seinen erlauchten Vorfahren gepriesen, daß er einem so genialen Manne eine Freistätte bei sich gewährt für seine letzten Lebensjahre, aber, sonderbar genug, ich fühlte, daß ich schon hoch erröthete, ehe ich nur den Namen Casanova über die Lippen gebracht hatte. Seitdem mir eine geistreiche Dame, deren Tugend ich für so fest gehalten, daß ich ihr die wahrhaft genievollen Memoiren Casanovas in der Ausführlichkeit des Originals zu lesen anempfahl, verächtlich den Rücken zugekehrt hatte, wurde ich immer roth, wie eine Klosterjungfrau, die hinter dem Sprachgitter einen Mann erblickt, wenn ich in Gesellschaft auf diesen großen Weltabenteurer zu sprechen komme.

Um die Gedanken an Casanova loszuwerden, ging ich endlich in die Kirche, wo ich gewiß hoffen durfte, auf bessere zu gerathen. Ich sah ein schönes Altarblatt, Mariä Verkündigung darstellend, wenn ich mich recht besinne, von Peter Brandel gemalt. Der zuvorkommende Kirchendiener wollte mir auch die heilige Garderobe der kostbaren Meßgewänder zeigen, an denen diese Kirche durch die Frömmigkeit ihrer gräflichen Stifter vorzüglich reich geworden ist, aber ich gewahrte durch das Fenster zum Glück meinen Kutscher, den ich bestellt hatte, nach Neu-Ossegg zu fahren.

Ein erbärmlicher Weg, auf dem man jeden Augenblick die Rippen zu brechen fürchtet, führt ungefähr eine Stunde weit von Dux zu der am Fuße des Strobnitz- und Spitzenberges gelegenen schönen Cisterzienser-Abtei Ossegg, wo man bei den freundlichen und unterrichteten Mönchen immer einer guten Aufnahme gewiß ist. Als ich die Kuppeln des herrlich gelegenen Klosters von fern erblickte, stiegen wehmüthige und doch gewaltige Gedanken in mir auf, und diese weltfreie Einsamkeit und Abgeschiedenheit that so vertraulich mit meinem Herzen, als hätte ich sie längst gekannt und gewünscht. Und doch war es noch lange nicht so weit mit diesem Herzen gekommen, daß ich zu ihm hätte sagen können, wie Hamlet zu seiner Ophelia: go to a nonery! Nein, geh' in kein Kloster, mein Herz! Und wenn die Cisterzienser Dich bekehren wollen, so sage nur: Du bist ein Weltkind, und kannst die strenge Regel nicht vertragen. Sage auch, Du machst Dir aus dem heiligen Bernhard nichts, und in Deiner Zelle wird eine weltliche Heilige verehrt, die Fleisch und Blut hat, und lachende Augen. Gott grüß' Dich, schöne Cisterzienser-Abtei Ossegg! Du nimmst einen unruhigen Geist in Deinen friedfertigen Mauern auf.

Indem ich so in die Ferne starrte, drangen plötzlich seltsam murmelnde Stimmen zu mir herüber, die sich immer deutlicher näherten und stärker wurden. Halb Geheul, halb Gesang, aber in den mißklingendsten Tönen, wälzte es sich über den Feldweg heran, und bald konnte man unterscheiden, daß es eine Prozession war, welche wahrscheinlich die Landleute aus dem Dorfe Ossegg an dem heutigen Festtage veranstaltet hatten. Denn es fiel mir ein, es war heut ein Madonnen- Fest, und Mariä Heimsuchung wurde von der gläubigen katholischen Christenheit gefeiert. Jetzt war der fromme Zug zu uns herangekommen, Kinder, junge Mädchen und Alte schritten, mit zerknirschter Stimme andächtige Lieder absingend, in geordneten Reihen vorüber, und ein Knabe trug die wehende Fahne voran, auf der das Muttergottesbild in buntgemalten Kleidern prangte. Ohne es zu wollen, mußte ich den guten Leuten ein großes Aergerniß bereiten, indem ich, seit meiner Geburt an protestantische Sitten gewöhnt, und außerdem von einem andern überraschenden Anblick plötzlich gefesselt, es ganz außer Acht ließ, daß ich schicklicherweise vor der Madonnenfahne den Hut hätte abziehen müssen. Aber ich kehrte mich nicht an die scheuen und grollenden Seitenblicke, die mir hier und dort begegneten, da meine Augen unter diesen frommen Gestalten von einem Gegenstand getroffen worden waren, der mich zu wundersam und bedeutsam berührte. Unter der wallfahrtenden Jugend, die der Jungfrau Maria lobsang, ging auch ein junges Mädchen vorüber, ganz verschieden von allen übrigen, an Tracht, Gesicht, Wuchs und Gestalt, an Sitte und Anstand. Sie gehörte offenbar ihrem Wesen nach nicht in diese Reihen, von denen sie sich durch ihre ganze Art so auffallend unterschied, und das Anziehende ihrer Erscheinung lag für mich in jenem Etwas des ganzen Menschen, das sich eben so wenig beschreiben läßt, als der Duft der Rose, oder der einem Jeden eigenthümliche Seelenzug im Auge. Ihr Gesicht gehörte zu denen, mit denen man ein ganzes Leben beisammen sein möchte und könnte, oder die man gleich beim ersten Begegnen schon Jahre lang gekannt und in sich getragen zu haben meint; und es fehlte nicht viel, so hätte ich, in Gedanken vertieft, vor diesem Mädchen den Hut gezogen, den ich unhöflich genug vor der Madonna hatte sitzen lassen. Die Sterne haben ein gewisses Verhältniß zu einander, die Planeten suchen und finden sich auf ihren kreisenden Bahnen, und drücken ihre großen Wahlverwandtschaften in Sonnensystemen aus. Der Stern sucht den Stern seiner Liebe, und ein menschliches Gesicht ist kein minder glücklicher Himmelskörper. Lache nur, Gustav! Ich glaube auch an ein großes Sonnensystem der menschlichen Gesichter. Diese und jene gehören zusammen, und bilden, Blick an Blick hängend, wie Stern an Stern, miteinander ein Sonnensystem, das, wie alle Systeme, etwas Ausschließendes hat. Denn Du merkst und weißt gleich, ob dies Gesicht, dem Du begegnest, Dir in Dein Sonnensystem gehört, und gegen viele arme Gesichter bist Du ein strenger Systematiker, und rufst und grüßest sie nicht, wenn sie an Dir vorübergehen, und ihr schwingt euch niemals um eine Sonne. Eine strenge Systematik der Neigung!

Dies böhmische Mädchen mußte mir wahrlich in mein Sonnensystem gehören, denn ich konnte ihr nicht genug nachblicken und nachdenken. Daß sie ein böhmisches Mädchen war, verriethen die Augen und die Nase, zwei untrügliche Kennzeichen an jeder Böhmin, und doch hatte sie wieder in ihrer Weise, sich zu tragen, etwas Fremdartiges oder wenigstens Vornehmeres, als ihre übrigen Wallfahrtsgenossinnen. Sie hatte weder, wie man sonst oft an den Landmädchen sieht, den Kopf ganz in das zu einer Kappe verschlungene Tuch eingehüllt, noch trug sie die eigenthümliche böhmische Kappenhaube, die sich von den ältesten Zeiten her nationell auf die Töchter des Landes vererbt hat, und nicht selten mit kostbaren Stickereien, Spitzenbesätzen und den im Nacken flatternden Bandschleifen einen stattlichen Schmuck der Schönen abgiebt. Meine Systemverwandte hatte sich ein feines, weißes, städtisches Häubchen, das sie einfach zierte, auf die braunen Locken gesetzt, und schaute daraus mit ihren scharfen, dunkeln, süßen, seltsamen Augen bedeutsam hervor. Sie sah blaß aus, sie schien nicht glücklich zu sein. Auch glaubte ich zu bemerken, daß sie nicht mitsang mit den Uebrigen, sondern schweigend in dem geräuschvollen Zuge fortging, dem sie gewissermaßen nur nothgedrungen gefolgt zu sein schien. Hatte sie ihrer Madonna gar nichts zu sagen und zu singen? Oder hatte sie ihr schon tiefere Geheimnisse des Herzens zu beichten, die sich nicht so vor aller Welt und auf offener Straße heraussingen ließen? Noch lange sah ich ihr nach, bis in der Ferne der letzte Ton der andächtig kreischenden Stimmen verklang. War es die jungfräuliche Madonna selber gewesen, die in rührender Mädchenschönheit unter die Frommen des Landes herabgestiegen? – –

Der alte silberhaarige Laienbruder, der mich durch das Kloster der Cisterzienser geleitete, hatte nie einen gläubigern Hörer und Schauer in den geheiligten Räumen seiner Abtei umhergeführt. Ich war in einer Stimmung, in der ich ihm geradehin Alles glaubte, was er von Wundern der Heiligen wußte, und selbst die Wandgemälde in den Kreuzgängen sahen mich wie wahre Meisterstücke der Malerkunst an. Einige dieser Bilder, Heiligengeschichten aller Art vorstellend, überraschten mich in der That durch Ausdruck und Lieblichkeit der Composition; sie schienen erst kürzlich frisch aufgemalt zu sein, und die Namen ihrer ersten Urheber waren vergessen worden.

Die Stiftskirche selbst, so wie der Convent, sind außerordentlich schön und prachtvoll, und bieten überall Anblicke der Kunst und Denkmäler einer sinnreichen Frömmigkeit dar. Nachdem früher Rudolph von Habsburg und später die Hussiten diese Abtei gänzlich zerstört hatten, und sie darauf zwei Jahrhunderte lang in Schutt und Trümmern niedergelegen, erhob endlich im siebzehnten der Schutzpatron der Cisterzienser sein heiliges Haupt wieder, das er so lange, wahrscheinlich in bekümmerten Gedanken über die Reformation, hatte hängen lassen. Er baute sich Stift und Convent wieder von Grund aus, herrlicher als jemals, richtete die verlassenen Altäre auf, zündete die Weihkerzen an und die erloschen gewesene ewige Lampe, und streckte die hohe Kuppel gegen die Wolken aus, um sich im Lande wieder umzuschaun. Was sah der heilige Bernhard? Er mußte wahrhaftig noch den Pulverdampf sehen und riechen können, der von der Schlacht am weißen Berge über den Höhen des Böhmerlandes wirbelte, und diesen noch nicht verzogenen Dampf roch der heilige Bernhard gern im Dunstkreise der Böhmen. So wurde dies Kloster in seiner jetzigen Gestalt das schönste und prächtigste, welches die Zeit nach der Reformation hat wieder erstehen sehen, und ich lasse meinen Kopf darauf, es wäre nicht wieder erbaut worden, wenn man nicht bei Prag am weißen Berge eine Schlacht geschlagen hätte. Ich setzte mich in einen mit geschnitztem Täfelwerk herrlich ausgelegten Chorstuhl auf den Platz eines der guten Mönche, und stützte meinen Kopf auf die gelben Blätter seines großen lateinischen Gebetbuches, das aufgeschlagen auf seinem Pulte lag, und ließ meine Augen und Gedanken in der wunderschönen Kirche umherschweifen. Woran dachte ich? Gott weiß es. An den heiligen Bernhard, wie er den Pulverdampf von der Schlacht beim weißen Berge als eine den Glauben stärkende Prise in die Nase zog? An die Madonna, die mir gerade am Tage ihrer Heimsuchung in einer so glänzenden Jungfrauengestalt am Wege begegnet war?

Da fühlte ich, daß mich der alte Laienbruder sacht auf die Schulter klopfte, um mich ins Refectorium zu führen. Ein Refectorium in einem Kloster hat von jeher einen großen Reiz gehabt, und wenn es wahr ist, daß Noth beten lehrt, so muß es doch nicht minder wahr sein, daß Beten einen gesunden Appetit verursacht. Dies läßt sich aus der Geschichte des Mönchthums aller Zeiten beweisen, und der Speisesaal einer frommen Abtei hat daher gewissermaßen ein psychologisches Interesse. Man wird klarer über den vielbesprochenen, dichten Zusammenhang von Leib und Seele, wenn man sieht, wie leibliches und geistliches Bedürfniß sich hier die Schwesterhände reichen, und in unserer abstracten Zeit, wo Einem mitunter zu Muthe ist, als sei man schon aus der Haut gefahren, und schlottere nur noch so mit den Knochen um seine ins Absolute eilende Seele herum, ich sage, in dieser abstracten Zeit muß es wahrhaft wohlthuend und tröstlich sein, einen tüchtigen Embonpoint in seiner vollen Glorie zu erblicken, und dabei denken zu können oder zu müssen, daß sich der Segen des Herrn hier einen sichtbaren Tempel seines leibhaften Wohlgefallens geschaffen. Ich betrat deshalb mit einer gewissen Ehrfurcht diese Halle, auf der noch die von dem heutigen Mittagsmahl zurückgebliebenen Geister frommer Bratengerüche weilten, und wie Ossian seinen obwohl auf der Wolke sitzenden Vater Fingal doch deutlich an Wesen und Gestalt erkannt, so glaubte auch ich noch aus der fliegenden Geruchswolke einen verewigten Kapaun herauszuschmecken. Ich kämpfte die Anwandlungen einer zu stark in mir rege werdenden Andacht gewaltsam zurück, und schritt neidisch an der langen weißgedeckten Speisetafel vorüber, die, wenn ich recht gehört, zu sechsundfunfzig Gedecken eingerichtet war, denn so groß ist die Anzahl der Mönche dieses Klosters. Eine kleine Betkanzel an der Wand fehlte natürlich nicht, was mich aber besonders überraschte, war ein Billard, das im Hintergrunde des Saales stand, und zur Bewegung und Unterhaltung der Cisterzienser-Mönche diente. Offenbar ein moderner Fortschritt der klösterlichen Regel, doch sollte es mich wundern, da es noch keine Heilige giebt, die Caroline heißt, ob nicht eine förmliche Heiligsprechung Carolinens nächstens zu gewärtigen?

Beim Herausgehen schweifte mein Blick noch einmal über die schöne weiße Speisetafel, als ich zu meinem Erstaunen – man denke sich! – was gewahrte? Ein Paquet Zeitungen lag hinter einem Brotkorb verborgen. Zeitungen! Zeitungen! Zeitungen in einem Cisterzienser-Kloster! Welche Riesenprogresse der Cultur! Welch ein rapides Umsichgreifen der Aufklärung! Unwillkürlich entfuhren mir diese Ausrufungen, als ich mit der Hast eines Jägers, der ein Wildpret geschossen, darauf zustürzte und zuerst an der Gazette de France anprallte. Sie ist nicht meine Freundin, und ich schob sie mit einem behutsamen Compliment zur Seite. Aber auch die Allgemeine Zeitung lag da, und da man auf der Reise oft Wochenlang die Zeitungen versäumt, so setzte ich mich an den Tisch, um ein wenig darin zu blättern. Zugleich gefiel ich mir in der großartigen Idee, in einem Kloster Politik zu treiben, und ich nahm mir vor, im nächsten Wirthshause Phantasieen eines zeitungsliebenden Klosterbruders zu schreiben, in der die Klöster und die Politik einen gemeinschaftlichen Hieb von mir bekommen sollten. Denn wahrhaftig, entweder mit den Klöstern oder mit der Politik muß es weit gekommen sein! Ist die Politik in unsern Tagen wirklich so bedeutend geworden, daß sich schon die Klöster auf sie verlegen müssen, um ihre Existenz so auf zeitgemäßerem Grunde fortzubauen, so hat auch die Politik bereits gesiegt, und um der Klöster Existenz ist es geschehen. Muß aber im Gegentheil die deutsche Politik, wie es scheint, aus unglücklicher Liebe ins Kloster gehn, um sich von der Welt, deren Licht sie kaum erblickt hat, schon wieder zurückzuziehn, so ist dadurch die Nothwendigkeit einer Aufrechthaltung der Klöster in heutigen Zeiten bewiesen, und man setzt seiner unglücklichen Liebe die Kapuze auf, und heißt sie beten gehn. Die Staatsverfassungen nehmen den Schleier, und die Volksrepräsentation schreibt in einer Stiftsbibliothek alte Handschriften der Klassiker ab. Der Geist der neuen Zeit bekennt sich zum Cölibat und zeugt keine Kinder. Die nationelle Oeffentlichkeit verkriecht sich in eine Nonnenzelle und läßt sich vor keinem Menschen sehen. Schade, schade um die schöne Nonne! So schön, so jung, eine Nonne! Dies Alles, und noch weit mehr, will ich, wenn im nächsten Wirthshause keine Gensdarmen sind, in der Doppel-Phantasie eines zeitungsliebenden Klosterbruders und eines klosterliebenden Zeitungsbruders auseinandersetzen. –

Aber nein! wer wird es glauben, wer hätte das gedacht! Indem ich nur so mit den Augen über die Blätter der Allgemeinen Zeitung hinfahre, stoße ich gerade auf den Artikel, welcher die Aufhebung der Klöster in Portugal durch Dom Pedro meldet! Seltsames Ohngefähr! Ungeheueres Schicksal! Und diese Blätter müssen gerade hier liegen, auf dieser Stelle, in einem Cisterzienser-Refectorium, wo ein Billard steht und Zeitungen gelesen werden! Und gerade in demselben Augenblick, in dem ich mich selbst in einem der schönsten und angesehensten Klöster befinde! Dom Pedro! Dom Pedro! Hast Du mir diese schneidende Ironie zu Gefallen gethan? –

Ich sprang auf, drückte dem Laienbruder aus Barmherzigkeit noch einen Zwanziger mehr in die Hand, als er sonst bekommen hätte, wenn Dom Pedro die Klöster nicht aufgehoben, und verließ dann in der aufgeregtesten Stimmung das Cisterzienser-Kloster Neu-Ossegg. –

Ich ging in das Dorf hinein, um mir in irgend einer der Hütten ein Glas Milch zu meiner Erfrischung geben zu lassen. Die Gluth der Sonnenhitze hatte sich mit dem nähernden Abend noch nicht gekühlt, und die stillen, unbewegten Lüfte trugen ordentlich schwer an dem heißen Athem, mit dem sie gefüllt waren. Es war ein ängstlicher, und doch schöner Tag. Der Vögel Lied irrte gedämpft oben in den Wipfeln der Bäume, und meine Brust hob sich wechselweise und fühlte sich gepreßt. Aber die meisten Hütten der Ossegger, an die ich mit dem Klöpfel schlug, wurden leider dem anklopfenden Wandrer nicht aufgethan, und ich erinnerte mich an die Madonna-Wallfahrt, welche den größten Theil der Bevölkerung hinausgelockt haben mochte. Die Madonna selbst war mir noch nicht aus den Gedanken gekommen.

Endlich fand ich gerade vor einer der ansehnlichsten Hütten Gehör, und die öffnende Magd belehrte mich, daß ich in des Herrn Schulmeisters Haus getreten. Ich verlangte ohne Weiteres diesen großen Gelehrten zu sprechen, da ich auch die Dorfnotabilitäten dieser Gegend nicht übergehen durfte.

Er saß ganz im Winkel seines ziemlich freundlich aufgeschmückten Zimmers in einem hochgepolsterten Lehnstuhl, ein großer, mürrischer, runzliger Alter, mit einem bigotten grollenden Gesicht, wie man sie sonst nur tiefer in Böhmen hinein anzutreffen pflegt. Die Füße waren ihm in Kissen verpackt, und es schien, daß er am Podagra heftige Schmerzen zu leiden hatte. Er hielt ein Amulet zwischen den Händen, wahrscheinlich eine sehr kostbare Reliquie, die er unaufhörlich zum Munde führte und inbrünstig küßte.

Meine Begrüßung erwiederte er kaum, obwohl er sich über mein Eintreten zu wundern schien. Dann schlug er einige Male ein Kreuz gegen mich, und blickte wieder starr vor sich hin, ohne im Mindesten auf mich zu achten, und küßte seinen in Gold gefaßten Reliquienknochen.

Ich glaubte nie ein steiferes und unempfindlicheres Götzenbild auf böhmischen Heerstraßen gesehen zu haben. Ein Schauer wandelte mich an, und es kam mir vor, als sei ich, ein Kind der Zeit, vor den alten Saturnus getreten, um von ihm verschlungen zu werden. Denn Saturnus verschlingt noch immer seine Kinder, und seine liberalsten wie seine legitimsten Söhne schluckt er doch am Ende alle in den großen Magen hinunter. Nur die Justemilieus sind ihm bislang noch mitten in der Kehle stecken geblieben.

Ich sagte endlich zu diesem böhmischen Saturn, ich sei ein friedfertiger Stubengelehrter aus Berlin, und wollte mir die Ehre geben, einen Collegen in ihm kennen zu lernen.

Er sah mich groß an, rückte ein wenig an seinem Sammetkäppchen, wies dann auf seine eingewickelten Füße und küßte wieder den Reliquienknochen. Er schien sich mit dieser Geberde entschuldigen zu wollen, daß er seines Podagras wegen nicht aufstehen und mich bewillkommnen könne. Dies war doch schon eine Annäherung.

Ich fragte, ob er vielleicht zufällig die Analecta Monasterii Ossecensis von dem unsterblichen Schoettgenius, die in Dresden 1750 in Quarto herausgekommen, besitze? Ich sei eben in diesem Kloster gewesen, und wünschte jetzt alle Klöster dieser Zeit aus ihren Quellen zu studiren.

Er schüttelte abwehrend und etwas murmelnd sein Haupt.

So besitzen Sie vielleicht das werthvolle und seltene Buch von Czerwenka: Splendor et gloria domus Waldsteinianae, das ebenfalls in Quarto zu Prag 1673 erschienen ist? Ich bin eben in Dux gewesen, und wünschte jetzt alle Aristokratieen dieser Zeit aus ihren Quellen zu studiren.

Er schüttelte abermals sein graues, von Alter, Sorgen und Amtsverrichtungen gebeugtes Haupt.

So besitzen Sie vielleicht ein frisches Glas Milch, mein Herr, in Ihrem Haushalt, um einem dankbaren Reisenden, den die Sonnenhitze ganz außer sich gebracht hat, damit zu bewirthen?

Da schlug er dreimal mit der Faust auf den neben ihm stehenden Tisch, daß Alles krachte und sogar die Fensterscheiben erzitterten. Ich begriff nicht, wodurch ich seinen Zorn so erregt haben konnte.

Es war dies aber nur ein, wie es schien, in seinem Staatshaushalt gewöhnliches Signal gewesen, das die Stelle einer Klingel ersetzte. Denn bald auf dieses Zeichen trat die ziemlich hübsche Magd ins Zimmer, um die Befehle des alten Schulregenten zu gewärtigen.

Ein Glas Milch für den Herrn! brummte er ihr zu, in einem Ton und mit einer Stimme, die nicht gern gaben.

Ich ließ mich aber dadurch nicht irre machen, setzte mich in der ihm gegenüber befindlichen Ecke des Zimmers nieder, und nahm von der lächelnden Magd die dargereichte Erquickung mit Dank und Lob an.

Ich schlürfte die vortreffliche Milch und schwieg. Eine tiefe Stille herrschte rings um uns her.

Es ist recht schön in Dux! hörte ich es dann auf Einmal murmeln. Ich sah mich erschrocken um. Wirklich, der Alte hatte es zu mir gesagt. Oho, am Ende schwatzt er doch gern, und hat Lust, sich in ein ehrsames Gespräch mit mir einzulassen.

In Dux ist es recht schön! antwortete ich, und sah freundlich zu ihm hinüber.

Er sah wieder freundlicher, als sonst, zu mir herüber. Dann trat von neuem eine Pause ein.

Endlich schien er das Schweigen nicht länger mehr aushalten zu können. Es sind viele Merkwürdigkeiten in Dux! sagte er. Dabei küßte er seinen Reliquienknochen.

Es ist sehr merkwürdig in Dux! entgegnete ich.

Haben Sie denn auch auf dem zweiten Schloßhofe das Bassin gesehen, welches der erlauchte und hochberühmte Albrecht von Waldstein, Herzog zu Friedland, aus eroberten schwedischen Kanonen hatte gießen lassen? fragte er, zu meinem Erstaunen, weiter.

Wahrhaftig, der Mann konnte reden. Er spricht jetzt ordentlich in zusammenhängenden Sätzen, fängt überhaupt an, liebenswürdig zu werden, und beschämt mich, daß ich ihn so sehr verkannt hatte.

Ach, mein Herr, sagte ich, auf dem Schlosse Dux ist es mir ganz sonderbar gegangen. Statt an den großen Herzog von Friedland zu denken, statt manche andere historische Merkwürdigkeiten mit Andacht zu betrachten, statt in den schönen englischen Park lustwandelnd mit meinen Gefühlen spazieren zu gehen, dachte ich nur immer – stellen Sie sich vor! – ich konnte meine Gedanken gar nicht davon abbringen – – ich dachte immer nur –

Nun, ins Henkers Namen, woran dachten Sie denn? fuhr der heftige Alte heraus.

Ich dachte an – – Casanova! sagte ich kleinlaut.

Casanova? fragte er verwundert, und war wieder gleichgültig geworden. Ich kenne ihn nicht.

Wie? rief ich lebhaft aus, und sah ernst zu ihm hinüber, Sie kennen den berühmten Jean Jacques Casanova de Seingalt nicht!

War er ein guter Katholik? fragte er.

Ja, mittelbar. Sein Katholicismus war der Weltgenuß; eine großartige Leidenschaft für das Leben war seine Religion und seine alleinseeligmachende Kirche, und wurde ihm dazu. Religiös in Weltliebe, weise im Leichtsinn, philosophisch in der Frivolität, frivol aus Philosophie, ein Würfelspieler mit den Formen des Lebens, ein Eingeweihter in die Tiefen des Daseins, ein Abenteurer und ein Denker, in der Wollust und in der Wissenschaft gleich gelehrt und gründlich: das ist die Devise, welche ich unter das Bild dieses Jean-Jacques setzen möchte, der ohne Zweifel die merkwürdigste Figur des geselligen Lebens seines Jahrhunderts war.

Der Alte küßte stillschweigend seinen Reliquienknochen.

Man könnte Jean Jacques Casanova den umgekehrten Jean Jacques Rousseau nennen, fuhr ich fort, und zugleich beide Extreme in diesen Naturen sich wieder berühren sehn. Rousseau, ein geistiger Wollüstling, durchschwelgte mit dem feinsten Nervenäther seiner Seele das ganze Reich der Schönheit, das auf den Höhen menschlicher Träume und Ideale blüht, und an der Schwelgerei des Geistes nahmen unvermerkt auch seine Sinne lebendigen Antheil. Er stürzte sich in das hohe Meer einer mächtig wogenden Geistigkeit, und blieb mit sophistischem Lächeln auf einer grünen Insel der Sinnlichkeit sitzen. Casanova, ein kräftiger Sohn derber Wirklichkeit, wollte nur die schönen, reichen Formen der Welt genießen, und des Körperlebens vollschwellende Reize sahen ihn schon früh mit trunkenen Augen begehrlich an. Mit Keckheit und Grazie griff er nach Allem, was ihn lockte, in der Nähe und in der Ferne; er trank sich satt und übersatt an den weißen Brüsten der Sinnlichkeit, und unvermerkt nahm an der Schwungkraft der Sinne auch sein Geist lebendigen Antheil. Er hatte mit den starken Fühlhörnern seiner Sinne ausgegriffen nach allen Blüthenstellen der sichtbaren Welt, und war mit tiefsinnigem Erstaunen in einem Wunderblumenkelch geistiger Reflexion sitzen geblieben. Er hatte sich an das Sichtbare weggeworfen, und im Unsichtbaren wiedergefunden. Er fing an zu denken, zu philosophiren. Die Weltsünden wurden Gedankenstoff. Der Weltmensch war transcendent geworden. Beide Jean-Jacques schlugen nach den entgegengesetzten Polen ihres Wesens um, und doch, welcher Kenner der menschlichen Natur wird zweifeln, daß diese Antipolarität eine Verwandtschaftlichkeit, mithin eine Berührung der Extreme ist!

Der Alte hatte schon wieder seinen Reliquienknochen geküßt. Er sagte, daß er mich durchaus nicht verstehe. Ich sollte ihm einige nähere Umstände über den Mann angeben.

Da er mich durchaus nicht verstand, so konnte ich mich wohl, ohne zu erröthen, noch länger mit ihm über Casanova unterhalten.

Dieser außerordentliche Mann, fuhr ich fort, ist mein vielfältiges Studium, meine Bewunderung und mein Nachdenken gewesen. Eine verdächtige Prüderie unseres Zeitalters hat mit moralisirender Wegwerfung von seinen Memoiren gesprochen, und die Polizei ist der Prüderie zu Hülfe gekommen, und hat in diesem und jenem deutschen Staat das merkwürdigste aller Bücher verboten. Ein höherer Standpunkt der Betrachtung bleibt dem Unbefangenen noch immer nicht benommen. In seinen Lebensbekenntnissen ist nichts Absichtliches, nichts auf Wirkung, Beifall oder Gunst Berechnetes; sie sind ihren hauptsächlichsten Bestandtheilen nach aus lauter körniger Wirklichkeit einfach zusammengesetzt. Casanova schien sie kaum selbst für den Druck bestimmt zu haben, und durch einen Zufall geriethen sie, viele Jahre nach seinem Tode, in die Hände eines deutschen Buchhändlers, der das französisch geschriebene Manuscript für einen Spottpreis erkaufte, und nachher Tausende damit gewonnen hat. Sie brechen gegen das Ende fragmentarisch ab, und den Mittheilungen des geistreichen Fürsten von Ligne danken wir den Aufschluß über des Venetianers spätere Lebensverhältnisse. Sind jedoch seine Memoiren nur zur Unterhaltung erfunden, erlogen, so bleibt Casanova als Erfinder und Lügner, und als nach dem Leben treffender Charakterzeichner seiner Zeit und seiner Zeitgenossen, noch immer einer der größten Schriftsteller, die je erfunden und gelogen haben. Sind aber seine Memoiren, was ich glaube, wahr (das heißt: in dem durch Goethe bekannt gewordenen Sinne selbstbiographischer Wahrheit und Dichtung), sind sie wahr, und hat der wunderbare Mensch alles dies wahrhaftig erlebt, was er mit seiner bezaubernden Feder wie aus raschen Erinnerungen glänzend hinwirft, so ist er der größte Weltmann, den das moderne Zeitalter hat geboren werden sehn! Etwas Außerordentliches bleibt immer an ihm.

Der Alte schlug hier wieder dreimal mit der Faust auf den Tisch, so daß ich, obgleich an dieses Zeichen schon gewöhnt, erschrocken innehielt. Er befahl aber nur, mir von neuem ein Glas Milch vorzusetzen, wahrscheinlich damit meiner Apologie die Kehle nicht trocken werden möchte. Mit größerer Aufmerksamkeit zu ihm hingewandt, fuhr ich fort, mich auszusprechen.

Den größten Weltmann neuerer Zeiten habe ich ihn genannt, und möchte ihn zugleich einen Ritter nennen. Einen Ritter des Weltlebens, einen Ritter und einen Sieger. In einer unchevaleresken Zeit, in einer trägen bürgerlichen Epoche seines Jahrhunderts, war er der Mann der Avantüre, der auf dem Schauplatz des ganzen civilisirten und uncivilisirten Europa mit der siegenden Macht der Persönlichkeit erschien, überall sogleich der Mittelpunkt der interessantesten Beziehungen wurde, als Held des Tages sich der Meinungen und der Gemüther bemächtigte, und die Rolle, die er übernommen, jedesmal auf eine ritterliche Weise zu Ende brachte. Die Blüthe der Mannhaftigkeit, die mit kräftigen Siegerarmen jedes Genusses ungestraft sich versichert, ging zu einer sonnigen Gestalt in ihm auf. Lebensmuth, Eitelkeit, Leidenschaft und Wißbegierde waren die windschnellen Rosse, die ihn schnaubend und mit verhängten Zügeln durch die ganze Welt von dannen trugen, ohne daß er mitten im Rasen und Stürmen jemals die edle Haltung des Reiters verloren hätte. So ist er mir immer wie eine in der Klarheit des Weltmanns ausgesöhnte Mischung von Don Juan und Faust vorgekommen! Die Kritiker haben in neuerer Zeit viel von der Verwandtschaftlichkeit beider Mythen gesprochen, während ich dabei immer an Casanova gedacht, der als der Weltmann beider Richtungen dasteht, und mit der Klugheit und Sicherheit eines solchen dieser Polarität, die ihn hin und her zieht, Herr wird, ohne, wie Don Juan und Faust, mit einer tragischen Zerstörung seiner Natur zu endigen. Ich habe schon früher angedeutet, wie der Weltmensch in Casanova transcendent wird; und wo die transcendente Höhe der Don Juan-Mythe anhebt, auf der sie mit Geisterflügeln in die andere Sphäre des Daseins hinüberschlägt, brauche ich nicht erst auseinanderzusetzen. Wie aber Jean Jacques Rousseau damit endigt, womit Jean Jacques Casanova angefangen hat, so greift auch die Mythe von Faust mit einer schneidenden Zuckung in den Don Juan hinüber, und über den dunkeln Tiefen des Geistes, aus denen der Sehnsuchtsschmerz einer ganzen Menschheit heraufklagt, tummeln sich mit Carnevalsleichtsinn die lachenden Sinne. Casanova aber war eine feste Gestalt der Welt, eine auf dem Grunde seiner Zeit sich ausprägende Figur, ein Mann der Wirklichkeit. Er war zu sehr ein Mann klarer und scharfer Wirklichkeit, als daß er an jene geheimnißvollen mythisch-diabolischen Elemente des Daseins jemals hätte verfallen können. Er lebte den Don Juan von ganzem Herzen aus sich heraus, aber er war zu klug und gewandt, zu kräftig und geistig vornehm, um damit zugleich das Gut seiner Seele an den Teufel zu verschleudern. Er besaß Ironie genug, um sich über den Teufel zu stellen, den er in einem fortwährenden Respect gegen sich erhielt. Die Weltsünden wurden ihm Gedankenstoff, wie ich gesagt habe. Aber dieser Gedankenstoff trieb ihn in die philosophische Speculation, in die Metaphysik und Mystik, die Chemie und Alchemie, und zuletzt sogar in die Kabbala hinein, wovon einige seiner Schriften, die er noch selbst hatte drucken lassen, hinlängliche Proben abgeben. Und so ward auf der andern Seite seines Don Juan in ihm der Faust mächtig. Doch dieser Mythus hatte wieder nicht tief genug in seinem Herzen geblutet, um ihn verzweifeln zu lassen. Auch der Faust konnte ihn nicht an den Teufel überliefern. Der Mann der Wirklichkeit war wieder zu klug und zu stark, um sich die Kabbala über den Kopf wachsen zu lassen, und das Stückchen Voltairescher Atheismus, mit dem sich sein Witz zuweilen Bewegung machte, und mit dem er es im Grunde nie ernstlich gemeint, vermochte ihn vollends nicht um seine Seeligkeit zu bringen, weil Casanova am Ende doch noch witziger war, als Voltaire. Aber wie Faust in die Tiefen des Weltgeistes hineingestrebt hatte, wie er liebesbrünstig nach Vereinigung und Einheit mit demselben gerungen, so kann man von Casanova sagen, daß er, gleich einem indischen Gott, der sich in tausendfache Formen der Weltmaterie verwandelt, so alle nur möglichen Gestaltungen und Wandlungen der äußeren Weltformen an sich erlebt und mit denselben eins gewesen ist. Kaum ein Stand, ein Weltverhältniß, eine Beziehung der menschlichen Gesellschaft, worin man nicht Casanova eine Zeitlang heimisch und angesessen erblickt. In seiner Jugend war er Rechtsgelehrter gewesen, hatte über Testamente geschrieben, und, obwohl der Sohn einer umherabenteuernden Schauspielerin, in den vornehmsten Gesellschaften und bei den schönsten Damen Venedigs Glück gemacht. Dann fing er auf Einmal an zu predigen, bahnte sich Aussichten zu den höheren geistlichen Würden, machte dumme Streiche, und wurde Soldat. Hierauf abwechselnd Militair, Glücksritter, Spieler, Gelehrter, Musiker, Wunderdoctor, diplomatischer Agent, Freund und Gesellschafter der ausgezeichnetsten und berühmtesten Personen seiner Zeit, lebte und handelte er in diesen Eigenschaften bald in Deutschland, bald in Frankreich, bald in Konstantinopel, bald in Paris, bald in Rom, bald in Petersburg, in Riga und in der Schweiz, in Warschau und in Neapel, in Madrid und London, und sollte in Berlin sogar zum Director der Kadetten-Anstalt gemacht werden, was er nicht einmal annahm. Wo er wollte, sehen wir ihn in der glänzendsten Gesellschaft sich bewegen, mit den merkwürdigsten Männern auf vertrautem Fuße umgehn, die sachkundigsten Gespräche führen; und wo er nicht wollte, ist er nicht minder interessant, wenn er der spanischen Schuhmachertochter in die Messe nachschleicht, oder wenn es ihm auf Einmal einfällt, in Venedig als armer Violinspieler zu leben und in nachdenklicher Einsamkeit seine Geige zu streichen. Dann gefiel er sich wieder in philologischen Beschäftigungen, übersetzte die Iliade des Homer in italienische Stanzen, trieb Politik und Geschichte, war Alterthumsforscher, und vertauschte die Reize junger Frauen mit den Reizen alter Bücher. Seine Belesenheit war unglaublich, und er hatte mindestens eben so viel Bücher aller Sprachen gelesen, als Mädchen aller Nationen geliebt, und wie er sich für die Schönheiten des weiblichen Geschlechts eine eigene mühsame Geschmackslehre gebildet, so hatte er auch in der Aesthetik selbst manche neue Entdeckung gemacht, und z. B. in seiner Uebersetzung des Crebillon'schen Radamist zuerst den französischen Alexandriner in die italienische Sprache eingeführt. Er besaß ein ungeheueres Gedächtniß, und wußte die meisten Dichter seiner Nation auswendig; er war ein großer Mathematiker und stellte tiefsinnige Calcüls der höhern Analyse an. Mit den Waffen in der Hand geschickt, auf dem Kampfplatz und in Ehrensachen muthig und unerschrocken, dort Mars und hier Adonis an den Toilettentischen der Damen, im Ballsaal graziöser Tänzer, im Laboratorium erfahrener Chemiker, auf der Landstraße Ehrenretter bedrängter Frauenzimmer, im Walde Schatzgräber, am Schmelztiegel Goldmacher, in den magischen Kreisen der Kabbala Eingeweihter, an der Pharaobank ein unüberwindlicher Feldherr, wer zweifelt noch, daß in ihm das perpetuum mobile der menschlichen Physik gefunden worden sei? Am meisten aber ist an ihm dies zu bewundern, daß er sich selbst nie zum Ekel geworden. Doch die Stärke seines Geistes, die Frische seiner Organe, die Dauer seines Charakters im Wechsel der Formen, das kräftige Selbstbewußtsein bei aller scheinbaren Selbstverlorenheit, hielten in ihm eine immer glückliche Harmonie des Daseins aufrecht. Denn nachdem er auf dem Schlosse Dux bei dem Grafen von Waldstein, der Casanovas Goldmacherwissenschaft zu benutzen gedachte, endlich einen erwünschten Ausruhepunkt seiner Irrfahrten gefunden, dachte er an sein vergangenes Leben nicht mit Reue zurück, sondern mit Liebe und ernsthafter Betrachtung. Er bereute sein Leben nicht, sondern er schrieb es auf, wie er es gelebt hatte, und malte einen romantischen Sumpf, und ließ oben die Sterne darüber leuchten. In ernster Beschäftigung mit den Wissenschaften wurde er alt, und starb, von ihm kann man wohl sagen: lebenssatt, erst zu Anfang dieses Jahrhunderts. Den Achtzigern nahe, hatte er ein biblisches Alter erreicht und einen glänzenden Beweis für die epikuräische Behauptung geliefert, daß Lebensgenuß das Leben erweitert und stärkt, statt es abzuschwächen. Der fleißige Meusel hat seine Schriften verzeichnet. – – –

Ich hielt hier inne, und sah mich nach meinem Zuhörer um. Er saß noch immer mit den eingewickelten Füßen, und seinem Reliquienknochen, da, und schien mir mit verwunderlicher Aufmerksamkeit gefolgt zu sein. Ich wartete erst ein wenig, ob er nicht etwas sagen würde, und stand dann auf, um mich zu empfehlen. Es war unterdeß Abend geworden, dämmernde Schatten fielen in des Schulmeisters kleines Zimmer, und draußen im Thal mußte der Sonnenuntergang Kühle gebracht haben. Ich machte also meinem versteinert dasitzenden Saturn einen Diener, bedauerte ihn seines Podagras wegen, das er für sein Theil gewiß nicht einem zu starken Lebens- und Weltgenuß schuldete, und griff dann nach der Thür. Nun winkte er mir mit der Hand, zu bleiben, und sagte, ich möchte ihm doch das Alles ein wenig aufschreiben, wovon ich so viel geredet. Es schien ihn also doch interessirt zu haben.

Da öffnete sich hinter meinem Rücken die Thür, deren Klinke ich noch in der Hand hielt. Guten Abend, Vater! sagte eine schöne helltönende Mädchenstimme. Es war mir, als müßte ich diese Stimme schon irgendwo gehört haben, ich blickte mich überrascht um. Aber seltsam, nicht den Klang dieser Stimme hatte ich schon vernommen, wohl aber das liebliche blasse Gesicht des Mädchens schon gesehn, dem sie angehörte. Kein Wunder aber, daß man den Gegenstand, der uns erst durch das Auge lieb und bedeutsam geworden, auch in sich gehört zu haben und durch das Gehör wiederzuerkennen glaubt. Denn man denke sich: es war meine Madonna!

Ich trat mit einem unwillkürlichen Ausdruck des Erstaunens einige Schritte zurück. Und aus der Bewegung, die sie machte, als sie meiner ansichtig wurde, schien mir ebenfalls hervorzugehen, daß ich ihr bekannt sei.

Also sie die Tochter dieses alten Saturns? Madonna ein Kind der Zeit! Und sie war keine Heilige, die nur am heutigen Feiertage zur Belohnung der Frommen sich auf diese Erde niedergeschwungen? Diese wunderbaren trunkenen Augen gehörten einer fühlenden Sterblichen an? Und dieses feine, von Geist und Empfindung überschattete Antlitz, diese sinnende weiße Stirn, die mit tieferem Leid und Lust menschlichen Seelenlebens vertraut schien, diese zartbewegten Glieder der jungfräulichen Gestalt sollten in einer niedrigen Schulmeisterhütte ihre Heimath haben?

Unmöglich! Ich sage, unmöglich! Sie begrüßte mich mit einem so sichern, weltgebildeten Anstand, sie war, obwohl sie schüchtern den Kopf senkte, wie ein trauerndes Blumenglöckchen, doch so wenig verlegen, daß ich es ihr gegenüber fast zu sein schien. Sie nöthigte mir Ehrfurcht ab, sie war gewohnt, gehuldigt zu werden.

Der alte Vater war sehr unfreundlich gegen sie. Du bist lange ausgeblieben, Maria! schalt er in seinem brummenden Ton.

Maria! nannte er sie. Ich wurde immer verwirrter in meiner erhitzten Einbildungskraft. Madonna! Maria! Und wie ähnlich sah sie der von Rafael gemalten Madonna del Giardino, wenn man die Augen abnimmt. Rafael hatte schöne heilige Augen jener Madonna gegeben, die Augen dieser Maria waren weltlich. Weltlich, welttrunken, weltgroß. Wahrhaftig, ich wußte es nicht, welchen Augen der Vorzug gegeben werden müsse.

Und nun stelle man sich vor, daß ich durch Casanova so sehr in die Gunst des Alten gekommen war! Er lud mich nämlich ein, bei ihm zum Abendbrot zu bleiben. Am Fest von Mariä Heimsuchung sollte ich ein frugales christlich katholisches Abendbrot, wie er sich ausdrückte, bei ihm nicht verschmähen. Maria wurde von ihm ausgescholten, daß sie nicht schon Licht angezündet, da es dunkel sei. Sie entfernte sich, mehr gegen mich als gegen den Vater um Entschuldigung bittend, mit einer anmuthigen Bewegung aus dem Zimmer.

Ich saß wieder bei ihm allein, und wußte nicht, was ich sagen sollte. Ihn zu fragen, ob er wirklich diese herrliche Tochter gezeugt, hatte ich nicht den Muth. Von etwas anderem, als von ihr zu sprechen, hatte ich nicht die Lust.

Er bat nur immer, mit ihm vorlieb zu nehmen.

Bald erschien sie wieder, mit einem Licht in der Hand, und beleuchtete sich selbst einen Augenblick lang in den lieblichsten Reflexen. Nun traf sie lächelnd Anstalt, den kleinen Tisch zu unserer Abendmahlzeit zu decken. Sie besorgte Alles selbst, und wußte sich mit dem Kleinsten eine zierliche Beschäftigung zu machen. Ich fand den beneidenswerth, dem auf diese Weise der Hausstand geführt würde, und begriff nicht, wie man in der beständigen Nähe einer so wunderthätigen Erscheinung, deren warmes Incarnat gewiß mehr Heilkraft in sich haben mußte, als ein ganzer Reliquienknochen, am Podagra leiden konnte.

Jetzt war Alles bereit. Der Tisch wurde vor den Alten, der sich nicht von seinem Platze bewegte, hingeschoben, und Maria und ich nahmen jeder zu beiden Seiten von ihm Platz. Vorher sprach sie jedoch stehend das Abendgebet, und mit einem Ton der Stimme, der mich mehr als Alles befremdete, was ich bisher in diesem Hause wahrgenommen. Es ist wahr, das Gebet bestand aus den hergebrachten überlieferten Floskeln, und Maria, man sah und hörte es ihr an, konnte schöner beten aus ihrem eigenen Herzen heraus. Daher lag im zitternden Ausdruck ihrer Worte, während sie sprach, bald etwas schneidend Wehmüthiges, bald etwas erhaben von innen her sich Aufschwingendes. Ihre schwankende Stimme klagte bald, bald zürnte sie über ihren eigenen Text, bald gewann sie wieder Flügel von der geheimsten Seele her, und bat rührend und lieblich zu ihrem Gott aufwärts, daß er doch nur Alles möge gut sein lassen. Dann wurde die betende Stimme wieder rauh, sie schien zu grollen über ein allzu eisernes Mädchenschicksal, und erstarb endlich leise und wie vor sich selbst erschrocken in einem halb verschwiegenen Seufzer. In dieser Bewegung, welche das Mädchen so plötzlich ergriffen, war sie ganz roth geworden, und der schöne Busen arbeitete mit den heftigsten Schlägen auf und nieder. Als sie geendet, warf sie einen scharfen, spähenden Blick, den ich wohl zu verstehen glaubte, auf den Vater hin, der aber ruhig mit gefalteten Händen dem gewöhnlichen Sinn des Textes gefolgt war. Lange dauerte es jedoch, ehe sie, mir gegenübersitzend, die vorige Freiheit ihres Wesens wiedergewann. Nur schienen wir, da ich ihr verstehend in die Augen blickte, von diesem Moment an, ohne es uns gesagt zu haben, vertrauter, bekannter.

Das Abendessen war wirklich ein christlich katholisches. Eine vortreffliche Mehlspeise, wie man sie nur in katholischen Ländern zubereitet findet, würde jedem Andern, als mir, vorzüglich behagt haben. Ich aber konnte meine Augen und Gedanken nicht von dem auffallenden Wesen dieses Mädchens abbringen. Wir schienen alle mit etwas Anderem beschäftigt, als mit dem gegenwärtigen Augenblick, und das Gespräch schlich wie eine stockende Stubenuhr, welche der eilenden Stunde ihre schwerfälligen Gewichte an die Ferse hängt. Nur einzelne Blitze fuhren oft lebhaft zwischen uns auf. Und hierin war gerade Maria stark, daß sie, unter unsern abgerissenen Bemerkungen, Einzelnes unabsichtlich hinzuwerfen wußte, was in einen tieferen Zusammenhang ihres Geistes hineinblicken ließ. Sie steckte kleine Feuerzeichen der Laune auf und deutete damit die Gluth einer ganzen Seele an. Sie streute einen zufälligen Witz aus, und verrieth daran eine sorgfältige Bildung. Nur war sie nicht in der Lage, sich ganz gehen lassen zu können. Es drückte etwas in dieser Atmosphäre auf sie, das die freie Entfaltung ihres eignesten Wesens niederhielt. Und der gute Alte, was that er? Warum sprach er kein Wort? Dachte er noch immer verwundersam nach über Casanova? Seine Sprosser, die draußen vor den Fenstern in ihren Käfigen hingen, begannen schon gewaltig in das Nachtdunkel hinein zu schlagen. Auf diese machte er uns endlich aufmerksam, und wir horchten beide still, und dachten nicht an die Sprosser.

Mir fing an Manches klar zu werden, und ich glaubte mir dies Verhältniß zwischen Vater und Tochter nach und nach zu enträthseln. Sie hatte unter andern schönern Umständen ihre über diese Hütte hinausgehende Erziehung genossen, und war jetzt, wer kann wissen durch welche Wendung ihres jungen Geschicks, an die Pflege des alten, mürrischen und ihr völlig fremden Vaters gefesselt. Was früher göttlich frei gewesen, auserkoren für das heitere Glück gebildeter Umgebungen, hatte wieder unter das niedrige Dach sorgenvoller Beschränkung heimkehren müssen. Was sich ausgedehnt hatte in Lust und Liebe, in zarten reinlichen Formen des Daseins, in Glorie gottgefälliger Frauenschönheit, war wieder unter harte Bande der Nothdurft gelegt, an die kalte, freudlose Alltäglichkeit, ohne Genuß und ohne Blüthen, geschmiedet worden. Ich verstand es, ich verstand es! Nicht zum ersten Mal begegnet mir solch ein Leben, dem die Blüthen und die Sterne genommen sind. Ja, es gibt viele Wesen, die ganz ohne Sterne leben müssen. Ein Leben ohne Sterne, ohne Duft, ohne Grün, ohne Laub, ohne Fluß in der Nähe, ohne Abendgold in der Ferne. Alles wird ihnen abgeschnitten; es rauscht nichts um sie her, es spiegelt sich nichts bei ihnen; kein Strauch wirft ihnen ein Myrtenblättchen ins Haar. Und gerade weibliche Naturen sind es am häufigsten, welche man an ein solches Leben ohne Sterne verbannt findet, sie, denen sonst die Seele dazu gegeben ist, immer einen Himmel in sich frei zu haben. Aber das häusliche Leben engt sich über ihnen zusammen, die stillen Wände des Familienzimmers drücken nieder auf ihre Brust. Eine fromme Pflicht bindet sie an eine abgeschiedene Alltäglichkeit, Pflegerinnen am Sorgenstuhl der menschenfeindlichen Alten, Wärterinnen in der verhüllten, verdunkelten Krankenstube, versäumen sie jedesmal die Stunde, wann draußen ein Frühling aufbricht, und der goldene Mädchenmuthwille läßt allmälig die Vogelschwinge sinken. Sie wehren sich kaum, weil sie immer noch heimlich hoffen, denn des Weibes Geduld ist deshalb so stark, weil sie einen so großen Schatz an Hoffnung im Busen nährt. Dann, in spielender Wehmuth, binden sie wohl dem fortflatternden Schmetterling ihrer Jugend heimlich ein rothes Fädchen unter die Flügel, als Symbol ihrer verborgen gebliebenen Lieblingswünsche, und meinen, ihn daran wiederzuerkennen, wenn er einmal wieder zu ihnen heimfliegen sollte, in irgend einem Spätsommer besserer Zeiten. Nun stehen sie einmal an einem schönen Tage früh auf, sie haben das kümmerliche Leben ganzer Wochen und Monate vergessen, draußen lockt der Schmelz des Morgens zu neuen Freuden des Daseins, alte Träume werfen sich ihnen jubelnd ans Herz, sie begreifen nicht, warum sie nicht glücklich sein sollten. Und sie öffnen das Fenster, und stehen lange, und der Schmetterling fliegt ihnen nicht heim ins Fenster, und das rothe Fädchen ist nirgend zu sehn. Und sie treten vor den Spiegel, und eine abgeblühte Gestalt blickt ihnen entgegen, die sie sonst nicht gekannt haben, und eine bleiche Wange sagt ihnen, daß sie alt geworden sind vor der Zeit. Sie könnten noch jung sein, wenn sie gelebt hätten. Aber sie haben nicht gelebt, sie haben nicht leben und nicht lieben dürfen, denn die alte Tante war täglich und stündlich krank, und nur ein Vertrocknungsprozeß unfruchtbarer Jahre ist an ihren holden Knospen vorübergegangen. Nun lassen sich Einige von innen her sterben, Andere tröstet die Religion und das Andachtsbuch. –

Ich weiß nicht, es mußte etwas Melancholisches in der ganzen Atmosphäre dieser Stube liegen, denn ich sah in meinen Gedanken schon das holdseelige Geschöpf, welches mir gegenüber saß, hinwelken an diesem Dorfhüttenleben, an diesem freudlosen, sie nicht verstehenden Vater, an dieser Einsamkeit und Verlorenheit eines verkümmerten Daseins. Aber sie war noch so blutjung, und so blutwarm in diesen ersten raschen Pulsen der Jugend, daß ihre Hoffnungen gar nicht gezählt, ihre Zukunft nicht gemessen werden konnte. Ich sprang auf, und rief, mich selbst vergessend: Ein Madonnengesicht verbleicht nicht so bald!

Sie war ebenfalls aufgestanden, und ich glaubte sie über meine Worte lächeln zu sehn, und doch schimmerte zugleich etwas wie eine Thräne in ihrem Auge. Dann zeigte sie, als ich wieder näher zu ihr trat, auf den Vater, der, es war seine gewöhnliche Zeit, in dem Lehnsessel eingeschlafen lag. Sie winkte mir mit der Hand Stille zu, und traf, mit Hülfe der herbeigerufenen Magd, Anstalt, den Alten in sein Schlafkabinet zu bringen.

Dann trat sie wieder heraus, sichtlich erheitert und erleichtert. Sie schien freier, leichtbewegter, ja ihre Gestalt schien mir größer und gehobener geworden. Sie trat vor mich hin, als wenn sie mir etwas sagen wollte, doch sie schwieg wieder, und wiegte das Haupt mit stillem Sinnen.

Ich forderte sie auf, einen Spaziergang in den Garten zu machen. Der aufgegangene Mond schimmerte hell über den Bäumen und Gesträuchen, die Nacht war frisch, anmuthig und verschwiegen.

Sie willigte ohne Zögern ein, zutraulich hing sie ihren Arm in den meinigen. Sie war nicht zaghaft, sie besaß einen selbstständigen Muth, den Jeder geehrt haben würde. Aber sie war so heiß, daß sie das verhüllende Umschlagetuch wieder abnahm und zurückließ. –


 


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