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Bekenntnisse einer weltlichen Seele.


So wenig hat wohl nie ein Kind von sich selbst gewußt, als ich bis in mein neuntes Jahr. Frühere Erinnerungen sind mir fast gar nicht übrig geblieben, und nur eines einzigen bestimmten Gefühls erinnere ich mich sehr deutlich. Dies war, daß mich Vater und Mutter gar nicht liebten, und mir nie ein Vergnügen machten. Und noch eine Aeußerung ist mir im Gedächtniß geblieben, denn welches Mädchen würde so etwas nicht behalten? Nämlich, daß einst der Pfarrer unseres Orts sagte, er habe noch nie ein Kind so hübsch lachen gesehn, wie mich. Es ist seltsam, daß manches Wort, das wir als Kind in der ungewissen Dämmerung unserer Sinne nur wie aus weiter Ferne über uns hören, wie ein Blitz in uns einschlägt, und, ich glaube, noch auf dem Sterbebette uns wieder einfallen kann. Diese Aeußerung, daß ich hübsch lachen konnte, habe ich nie vergessen. Ich muß also doch schon auf meine eigene Hand viel gelacht haben, ungeachtet mir meine harten Eltern nie Vergnügen machten. Aber der freundliche Pfarrherr schenkte mir auch ein Rothkehlchen, das ich sehr lieb hatte, mit dem ich viel sprach und mich freute. Es durfte auch nicht oft aus der Stube gehen, sowie ich, und mußte sich in seinen jungen Tagen damit abgeben, Fliegen zu fangen, sowie ich Sorgen. Ich half ihm redlich Fliegen fangen, und es half mir seinerseits, durch seine possirlichen Sprünge, über die ich herzlich lachen mußte, mir die Sorgen zu verscheuchen. Nur die Dummheit konnte ich ihm nie vergeben, daß er sich die Flügel hatte stutzen lassen, und wenn ich ihn mir auf die Hand stellte, und ihn vor mir aufrichtete, setzte ich ihn ordentlich deshalb zur Rede. Hätte ich Flügel, dachte ich, nie sollten sie mir die stutzen. Ich flöge gerade mitten ins Leben hinein, über alle die finstern böhmischen Berge hinweg, hinter denen ich geboren bin. Aber das Rothkehlchen wetzte sich den Schnabel, und schien sich mit seinen grellen närrischen Augen über mich lustig zu machen.

Ich hatte, ich weiß nicht mehr wo, etwas vom Leben gehört oder in meiner Bilderfibel gelesen, denn ich konnte schon lesen. Ich stellte mir unter diesem räthselhaften Worte etwas vor, das weder in meinem böhmischen Dorfe zu Hause ist, noch von dem Vater oder Mutter eine Ahnung hätten. Etwas ganz außerordentlich Liebreiches und Angenehmes, das hinter den Bergen zu haben wäre. Nie ging ich ins Bett, ohne beim Abendgebet daran zu denken, und jedesmal bat ich den lieben Gott von ganzem Herzen um Leben. So that ich in meinem thörichten Sinn auch beim Morgengebet. Mein Vater durfte nichts davon wissen, weil er mich sonst geschlagen hätte. Freilich wußte ich auch selbst nicht, um was ich bat, aber es war mir doch unbeschreiblich süß, immer auf ein so ahnungsvolles Wort meine Hoffnung zu setzen. Es war wie eine geheime Liebschaft, welche die Kinderseele mit der Zukunft führte, und oft jauchzte es in mir auf, wenn ich mir lebhaft vorstellte, was Alles hinter den Bergen sein müsse. Entweder hinter dem großen Milleschauer oder dem ernsten Erzgebirge dachte ich mir das Leben verborgen. Ich stand oft stundenlang, und wartete ab, bis die Sonnenscheibe hinter diesen Berggipfeln untersank.

So stand ich auch einstmals am Fenster, als ich plötzlich hinter mir die Worte hörte, daß ich nach Dresden solle. Ich sah mich erschrocken um, und die Thränen stürzten mir vor Ueberraschung aus den Augen. Der Vater hatte einen Brief in der Hand, und die Mutter sah ihm, mit lang vorgestrecktem Hals, lesend über die Schulter. Endlich erfuhr ich, daß eine reiche Tante in Dresden mich als ihr Kind anzunehmen wünsche, und daß sich nichts Vortheilhafteres für mein Glück finden lassen könne. Ich hörte zum ersten Mal etwas von Dresden, und fragte, indem alle Sehnsucht in mir losbrach, ob es hinter dem Milleschauer liege, wo auch das Leben sei? Dann wolle ich mit Freuden hingehn. Ich wurde über meinen Vorwitz ausgescholten, und nur die Mutter, die etwas milder war, lächelte, und nahm mich auf den Schooß, und machte mir die Zöpfchen zurecht, damit ich hübsch aussähe, wann ich nach Dresden käme. Der Vater ging aus dem Zimmer, um seine Schulstunden abzuhalten, und sagte kein Wort. Ich ließ mir doch im Stillen die Hoffnung nicht nehmen, daß ich in Dresden das Leben finden würde.

In dieser Hoffnung sah ich vergnügt zu, wie meine wenigen Sachen eingepackt wurden. Nur der Abschied von meinem Rothkehlchen, das ich nicht mitnehmen durfte, war mir schwer, und ich weinte bittere Thränen. Es betrug sich aber so unempfindlich bei unserer Trennung, daß ich es endlich laufen ließ, und noch in der Thür zu ihm sagte: fange Du nur Deine Fliegen; ich will von jetzt an keine Sorgen mehr fangen, denn ich gehe nach Dresden ins Leben! Dann kam der Vater mit seinem langen Rohrstock aus der Schule, und ich mußte zu ihm Adieu sagen. Er hob mich mit beiden Armen, ohne sich zu bücken, in einer steifen Stellung zu sich empor, betrachtete mich mit hintenübergebeugtem Kopf eine Zeitlang ernsthaft, küßte mich einmal auf die Stirn und stellte mich wieder herunter an den Boden. Darauf schenkte er mir ein Amulet, segnete mich, und befahl mir, von dem strengen katholischen Glauben nie einen Finger breit zu weichen. Ich verstand ihn nicht, und versprach, daß ich in Dresden Alles thun wolle. Die Mutter fiel mir um den Hals, und schluchzte, und sagte, daß sie mich noch einmal als große Dame wiedersehen würde. Sie starb einige Jahre darauf.

Indem ich in den Wagen gesetzt wurde, nahm ich mir in meinen geheimen Gedanken vor, den ganzen Schatz meiner Liebe, den ich bisher an das Rothkehlchen verschleudert, nun auf die hellblinkende Zukunft, der ich entgegenging, zu übertragen. Ein rieselnder Schauer durchlief mich, indem ich mich in die unbestimmte Ferne hineinzuträumen suchte, und die Haare sträubten sich mir ordentlich vor geheimnißvoller Erwartung empor. Noch heut ist mir dieses seltsame Gefühl in aller seiner Lebhaftigkeit gegenwärtig. Da fing der Wagen an fortzurollen, ich sah die Eltern noch einmal am Fenster stehen, und jetzt überfiel mich plötzlich eine früher nie gekannte, starke Empfindung für ihre Gestalten. Ich streckte die Hände nach ihnen aus, ich begann zu weinen, ich rief Vater und Mutter, und der liebe Klang dieser Namen fiel zum ersten Mal mit einer süßen Beklemmung auf mein Herz. Aber der Wagen rollte immer weiter, ich war allein in die Welt hinausgeschickt.

Nur eine alte Frau saß neben mir, in einer großen, schwarzen Enveloppe, die von der Tante abgesandt worden war, um mich zu geleiten. Nachdem wir einen halben Tag gefahren waren, wurde es wunderschönes Wetter, und ich wußte mich nun vor Lustigkeit gar nicht zu lassen. Der Sonnenschein lachte mich an, die grünen Thäler breiteten sich meinen Träumen wie ein hoffnungsfarbener Teppich unter, die Häupter der Berge waren plötzlich freundlicher und mannigfaltiger geworden, als in unserm Böhmen, und ein schöner, heller Strom begegnete uns oft, den wir bald durchschneiden, bald zur Seite liegen lassen mußten. Dann ging es eine steile Anhöhe hinauf, die man den Nollendorfer Berg nannte. Hier wurde einen Augenblick Halt gemacht, und ich mußte von hier aus die Augen noch einmal zurückwenden auf Böhmen, das wie ein gesegnetes Wunderland, mit unzähligen in das Himmelblau verfließenden Bergspitzen, vor unsern Blicken ausgebreitet lag. Es verfloß Alles vor meinen Augen, so rührte mich diese Aussicht, die ich mit meiner noch unentwickelten Vorstellungskraft natürlich nur wie ein unklares Mährchen mit Herzensschauern aufnehmen konnte. Endlich schlief ich, von aller der Aufregung ermüdet, ein, und erwachte nicht eher, als bis ich gegen Abend den Wagen über das Straßenpflaster rasseln hörte. Da hieß es, daß wir in Dresden angelangt wären, und ich war Kind genug, mir vor Freuden in die Hände zu klatschen.

Die Tante saß auf dem Sopha, eine kleine, sehr starkbeleibte Frau, mit freundlichen, blitzenden Augen. Sie wußte mich gleich durch ihren überaus zärtlichen Empfang für sich einzunehmen, obwohl ich mir eigentlich gestehen mußte, daß ich mich vor ihren freundlichen Augen fürchtete. Es fiel mir unsere Katze dabei ein, wenn sie mir liebkoste, und ich dann nachher mit einer blutigen Hand fortschlich. Aber ich verfolgte diesen Gedanken nicht weiter. Es wurden mir gleich am andern Morgen schönere Kleider angezogen, als ich bisher weder getragen, noch überhaupt gesehen, und ich schlug die Hände über den Kopf zusammen, als ich ans Fenster trat und auf die Straße hinunterschaute. Wir wohnten in einem schönen großen Hause in der Schloßgasse, und konnten noch den schräg gegenüberliegenden Altmarkt mit seinem bunten, heitern Treiben aus unsern Fenstern übersehen. Diesen ganzen Tag war ich fast gar nicht vom Fenster fortzubringen, und wollte auch nichts essen. Ich sah mir nur immer die hübschen, geputzten Leute an, die stattlichen Herren und die zierlichen Damen, die Equipagen und Reiter, die Soldaten mit schallenden Trommeln und Pfeifen, die Ausrufer, die Karrenschieber, die Käufer und Verkäufer, die da unten alle, wie es schien, bloß zu ihrem Vergnügen vorüberspazierten. Und wir selbst wohnten in herrlichen, mit Tapeten, Seide und Purpurstoffen ausgeschmückten Zimmern. So hatte ich mir auf meinem böhmischen Dorfe das Leben nicht gedacht. Es war Alles reicher, wie ich es mir vorgestellt, und doch wieder auch um Vieles ärmer; aber Das, was fehlte, wußte ich noch gar nicht zu nennen, es war wie in mir selbst verhüllt und eingewickelt. Ich lief zur Tante hin, und hätte ihr gern gesagt, wie mir Alles gefiele, und doch etwas fehle. Aber sie saß in einer Ecke des Kanapees, und las in einem schön eingebundenen Buche, das einen goldenen Schnitt hatte. Ich getraute mir nicht, sie zu fragen, doch fiel mir in meiner Thorheit ein, ob vielleicht in dem schönen Buch stehen möchte, was mir da draußen fehle. Es waren lauter Gedichte gewesen, in denen sie gelesen hatte, wie ich nachher bei Tische auf mein naseweises Andringen von ihr erfuhr. Bei Tische fiel mir sonst noch auf, daß nicht gebetet wurde, und ich von selbst wollte nicht anfangen. Auch schlug die Tante nie ein Kreuz, und als ich ihr mein Amulet zeigte, lachte sie mich dermaßen aus, daß ich es vor Unwillen unter die alten, von Hause mitgebrachten Kleider warf, die ich hier hatte ablegen müssen.

Seit dieser Zeit aber hatte ich eine große Sehnsucht nach schönen Büchern, und ich folgte mit Lust und Liebe, als ich nun fleißig zum Lernen angehalten wurde. Ich führte jetzt ein beneidenswerthes Leben, und war über die Maßen glücklich. Meine Lehrer kamen und gingen, ich erfuhr viel Neues, wurde in allen Dingen unterrichtet, und erfreute mich besonders an meinen ersten Versuchen in der Musik, die mir zur Zufriedenheit Aller gelangen. So gingen die Tage wie stiller, sinniger Wellenschlag vorüber, und Abends war es mir leid, wenn ich mich zu Bette legen mußte, so sehr gefiel mir Alles, was ich that und trieb. Ich hatte mein eigenes, kleines Zimmer, in dem ich mir Jedes einrichten und stellen durfte, wie ich es wollte, und so konnte ich zugleich an meiner Umgebung den Haushaltungstrieb befriedigen, der ein Mädchen so gern beschäftigt. Ich schmückte mir mein Fenster mit Blumentöpfen, die ich nach einer gewissen Ordnung gruppirte, und meine Wände mit Bildern, welche ich geschenkt bekam. Vor meiner kleinen Ottomane stand immer ein rundes Tischchen, auf dem Bücher aufgeschlagen lagen, und zwar waren es jedesmal Gedichte aus der Bibliothek der Tante, welche ich so zur Schau legte. Ich hatte große Ehrfurcht vor Gedichten, und wenn mich so zuweilen das Nachdenken beschlich, glaubte ich in meiner Einfalt, daß meine Erziehung, von der ich immer die Lehrer sprechen hörte, dann beendigt wäre, wann ich die Gedichte alle würde verstehen können. Auch fiel mir, als ich einmal in der Abenddämmerung auf dem Sopha saß, der Gedanke ein, daß ich, obwohl nun schon fast zwölf Jahr geworden, doch bis jetzt noch gar nicht recht gewußt habe, was Leben sei? Jetzt weiß ich es, setzte ich in meiner kindischen Zuversicht hinzu, und legte den Finger altklug an die Nase. Das Leben ist Lernen, und wenn man ausgelernt hat, wird das Leben Genießen. Ich freute mich, daß mir das eingefallen war, und legte den Kopf träumend hintenüber, und geheime, lockende, dunkel reizende Bilder von einer Zeit, wo das Leben aus Genuß bestehen würde, zogen mit einer unverstandenen Ahnung durch meine Seele. Als ich aus diesen Träumereien erwachte, war es Nacht um mich geworden, aber ich empfand mein Blut in einer stürmischen Wallung, die Wangen waren mir von Röthe und Hitze wie überglüht, der Kopf schmerzte mich, das Herz klopfte in pochenden Schlägen, und eine halb süße, halb drückende Beklemmung schien sich wie ein unbefriedigtes Verlangen über meine ganze Brust gelegt zu haben. Ich fing an zu weinen, und lächelte gleich wieder darauf. Schon seit einiger Zeit war ich manche Veränderungen an mir gewahr geworden, die mich bald befremdeten, bald erfreuten. Ich wurde größer, und unter dem Kinderkleide hob sich wie ein Drang junger Knospen mein Busen. In den Musikstunden mußte ich plötzlich Altstimme singen.

Die Tante bekümmerte sich sonst wenig um mich. Sie sah viele Gesellschaft bei sich, von der ich jedoch noch entfernt blieb, und nur Gelächter und Geräusch derselben, Klingen der Gläser und Klappern der Tassen, tönte zuweilen in mein verborgenes Stübchen herüber. Etwas muß ich jedoch jetzt erwähnen, von dem ich eigentlich schon früher hätte sprechen sollen, wenn es nicht meiner Zunge schwer würde, hier die zögernden Laute zusammenzufügen. Schon seit meinem ersten Eintritt in dies Haus hatte ich öfter einen schönen, vornehmen Mann gesehen, der von Zeit zu Zeit die Tante besuchte, und mir, dem Kinde, dann jedesmal eine besondere Aufmerksamkeit widmete. Gleich am andern Tag nach meiner Ankunft aus Böhmen war er gekommen, um sich nach mir zu erkundigen, als schiene er um mein ganzes Schicksal gewußt zu haben, und die Tante hatte mich ihm, nachdem ich geputzt und geschmückt worden war, mit einer Art von triumphirendem Wohlgefallen gezeigt. Er küßte mich immer, und zwar so lange, daß ich es nicht leiden konnte, und mich mit Unwillen und Fußstampfen ihm entriß, denn ich konnte sehr heftig werden. Auch brachte er mir jedesmal kostbare Geschenke aller Art, die ich hastig nahm, weil ich nach solchen Dingen ein großes Gelüst hatte. Ehe ich es dachte, kam er jetzt, und ich erschrak immer vor ihm. Wenn ich fortgehen wollte, begegnete er mir auf der Treppe, und ich mußte wieder mit ihm hinauf; wenn ich zur Tante ins Vorderzimmer ging, um zum Fenster hinauszusehen, (denn mein Stübchen ging nach hinten,) war er unversehens auch da, und ich mußte mich ihm auf den Schooß setzen, so sehr ich mich sträubte. Die Tante ließ Alles geschehen, und schalt mich nachher derb aus, wenn ich gegen den Herrn Grafen – denn so wurde er von ihr genannt – nicht recht freundlich und schmeichlerisch gewesen war. Oft kam er auch auf mein Zimmer, wann ich unterrichtet wurde, und hörte aufmerksam zu, und gab den Lehrern manche Winke über Das, was sie mit mir vornehmen sollten. Dies war das Einzige, was mir an ihm gefiel, obwohl es mir auch räthselhaft däuchte. Aber es schien ihm viel daran gelegen zu sein, daß ich die feinste und sorgfältigste Ausbildung erhielte, ich sah nicht ein warum? Er war ein großer hochgewachsener Mann in den mittlern Jahren, mit immer lächelnden Gesichtszügen, etwas verzogenen Mundwinkeln, blassen Wangen, und einem funkelnden Ordensstern auf dem Rock. Ich mochte ihn nicht leiden, und als Grund dazu wußte ich noch kaum etwas Anderes, als das Gefühl, daß er mir meine unbefangene Kinderfreiheit beschränkte.

Außerdem war noch in der letzten Zeit ein junger Theologe, Namens Mellenberg, in unser Haus gezogen, dem die Leitung meines Unterrichts anvertraut wurde. Er war häßlich, finster, einsylbig, und bekümmerte sich um nichts als seine Bücher, weshalb auch der Graf ein unbedingtes Vertrauen in ihn zu setzen schien. Sein düsteres, in sich versunkenes Wesen hatte dennoch etwas sehr Anziehendes für mich, und da er sich zugleich große Mühe mit mir gab, so lernte ich bei ihm viel und in wenigen Stunden mehr als bei allen frühern Lehrern. Er war Protestant, und belehrte mich zuerst über die Verschiedenheit beider Glaubensformen, die mir augenblicklich sehr überzeugend einleuchtete. Diese Ueberzeugung, die ich gewann, eröffnete mir zugleich einen freieren Blick über die Weltgeschichte und deren Fortschritte, da mir bis dahin, wie jedem Mädchen, alles historische Interesse ziemlich fremd geblieben war. Doch schärfte mir Mellenberg ein, daß ich unsere Unterredungen über diese Gegenstände geheim halten müsse, da er nur den Auftrag habe, die neueren Sprachen mit mir zu treiben. Dies gab dem Verhältniß zu ihm in meiner Vorstellung einen noch größeren Reiz, da nun etwas Geheimes zwischen uns obwaltete, in dem und durch das wir uns verstanden. Ich wurde aus ganzem Herzen Protestantin, fühlte mich klar, frisch und gesund dabei, und wenn ich an den lieben Gott dachte, geschah es mit einem lebensfrohen Muth, wie niemals. Um so schmerzhafter drückte es mich, daß ich nächstens, wie mir die Tante angekündigt hatte, durch den Bischof eingesegnet werden sollte auf den katholischen Glauben. Denn obgleich die Tante, wie ich wohl gemerkt hatte, gar keine Religion besaß, so ging sie doch alle Sonntage um 11 Uhr nach der Schloßkirche in die Messe. Mit lautem Weinen klagte ich dies meinem protestantischen Candidaten. Er aber wehrte meine Arme, die ich in der Leidenschaft des Schmerzes um seinen Hals schlingen wollte, langsam und erröthend von sich ab, und verwies mich an die Macht Gottes, die Alles zum Besten lenke. Mich verdroß seine Kälte, da ich geglaubt hatte, in einem innigeren Verhältniß mit ihm zu stehn, und obwohl ich ihm nicht gram werden konnte, nahm ich mir doch vor, ihm nächstens etwas zum Tort zu thun. Ich bewies mich nämlich jetzt dem Grafen, der immer öfter und öfter kam, freundlicher und anhänglicher als je, ungeachtet daß sein Benehmen gegen mich von Tag zu Tag seltsamer und auffallender wurde, und meinte damit den guten Mellenberg zu kränken, während ich doch selbst nur davon litt, und heimlich manche Nacht durchweinte.

Jetzt trat plötzlich eine Wendung in meinen Ansichten und Schicksalen ein, die, wie ich bei allen Begegnissen des Lebens bemerkt habe, gleichsam mit dem Hauch einer einzigen Stunde, welche die entscheidende ist, herbeigeweht zu kommen schien. Ich war vierzehn Jahre alt geworden, und sah schon wie ein völlig aufgeblühtes Mädchen aus, denn das heißere Wachsthum meiner Seele und meiner Sinne mochte auch mein Aeußeres früher gezeitigt und in die Fülle der Gestalt hervorgetrieben haben. Der Graf, mich mit einem ganz besonderen Blick betrachtend, vor dem ich blutroth wurde, hatte mir an diesem Tage ein wunderschönes Kleid geschenkt, und mir dabei viele Schmeicheleien gesagt, daß ich meinen Ohren kaum traute. Es war mir in der letzten Zeit nur zu klar geworden, daß ich ganz auf seine Kosten gepflegt und gebildet wurde, denn die Tante, gegen deren Lebensweise mich bei näherer Beobachtung ein immer widerwilligeres Mistrauen beschlich, besaß kein eigenes Vermögen, wie ich bald erfuhr. Zuweilen war es mir in meinen Gedanken, als wenn ich in einen entsetzlichen Abgrund hinunterspringen müßte, vor dessen bodenloser Tiefe und Schwärze mir jeder Nerv bis in den Tod erbebte, aber an diesem meinem Geburtstage erfaßte mich auf Einmal ein ungeheuerer Leichtsinn in meinem innersten Herzen, es war ein Moment, ich wußte nicht, wie mir geschah, und mein ganzes Denken flog plötzlich, wie von rosigen Sommerwolken fortgetragen, in eine an endlosen Freuden, Blüthen, Farben und Tönen reiche Ferne hinaus. Als der Graf fortgegangen war, lachte und sang ich, und beeilte mich, das neue, aus den kostbarsten Stoffen gewählte Kleid, das mir außerordentlich gefiel, anzulegen. Die Tante war mir dabei behülflich, und sagte zugleich, daß es nun, da ich so schön und groß geworden, Zeit sei, mich in die Welt einzuführen, wie sie sich ausdrückte. Ich horchte auf, wie nach einem seltsamen, goldenen Klang, der mir in die Seele ziehen wollte, und stellte mich dann vor den Spiegel, aus dem mir meine ganze geschmückte Gestalt in blendender Ueberraschung entgegenstrahlte. Dieser Blick in den Spiegel traf mich wie ein verwirrender Zauber. Es war mir, als besänne ich mich jetzt auf mich selbst, daß ich bisher eigentlich noch gar nicht gelebt hätte. Ich seufzte, und der Spiegel überthaute sich von dem Hauch meines Mundes. Da schienen, indem ich noch träumend stand, aus der überzogenen Fläche des Glases holde Genien, verlockende Gestalten, zu mir herauszusteigen, sie hatten die Hände voll bunter Blumen und die Augen voll lockender Gefühle, sie steckten mir eine große, volle, rothe Rose zwischen die schlagende Brust. Zusammenfahrend, wischte ich schnell den Spiegel wieder ab, und lachte laut, als ich keine Geister, sondern nur den Glanz meiner Jugend darin sah. Dieser Augenblick aber war das für mich, was für die Gespenstermährchen die Mitternachtstunde ist. Sie müssen diesen Moment abwarten, ehe der Zauber in ihnen wirksam werden kann. Und so war es, als hätte ich gerade an diesem Tage und in diesem Augenblick in den Spiegel sehen müssen, um seitdem plötzlich andern Sinnes zu werden. Der Spiegel, der jetzt mein Freund wurde, war der Magier gewesen, der mich verzaubert hatte.

Von nun an zeigte sich die Tante öfter mit mir auf Spaziergängen, in Gesellschaften und im Theater, auf Bällen, Concerten und bei andern öffentlichen Gelegenheiten. Es wurde, wie es schien, Alles hervorgesucht, um mir Vergnügen zu machen, und meine Sinne in einen beständigen Taumel zu wiegen. Von Vergnügen hatte ich ja schon immer geträumt, und danach mit Herzklopfen verlangt, und nun konnte ich den ganzen Flitter von dem vollen Goldstrom der Welt wegschöpfen, wie und wo ich nur wollte. Kein Wunsch blieb mir versagt, jeder Gegenstand, den ich gern hätte erhaschen mögen, war auch schon mein, und ich war unerfahren und zugleich leidenschaftlich genug, um mich sogar an Alltäglichkeiten zu berauschen. Jede Promenade im Mittagssonnenschein, auf der ich den Vorübergehenden auffiel, war mir ein festliches Ereigniß, und ich konnte nachher vor Freuden ordentlich in der Stube herumhüpfen. Nur dämpfte es einigermaßen mein aufjauchzendes Temperament, wenn ich einmal zufällig daran dachte, daß ich diese neue feiertägige Lust, die ich am Leben kennen gelernt hatte, dem Grafen verdanken sollte. Dann war ich einige Tage traurig und von trüben Ahnungen geplagt, bis er mich durch ein neues Geschenk wieder heiter machte. Seinen Liebkosungen hatte ich mich übrigens noch immer standhaft widersetzt, und mit einer Entschlossenheit, vor der ich nachher selbst erschrak, denn was mein Gefühl zuletzt am meisten gegen ihn empört hatte, war die Bemerkung, daß er sich nie öffentlich mit uns zeigte, sondern uns nur immer ganz im Geheimen zu besuchen schien. Dagegen hatte die Tante mit mehreren Familien Umgang, zu denen ich geführt wurde, und wo es Feste, Landpartieen, Kränzchen und Tanzgesellschaften in Ueberfluß gab. Ich tanzte außerordentlich gern, und war immer auf dem Platze und die gesuchteste Tänzerin. Der Tanz kam mir wie eine festliche Dithyrambe zu Ehren einer Göttin vor. Sonst gefielen mir alle diese Menschen nicht, mit denen mich die Tante in Berührung brachte. Sie erschienen mir einfältig, ungebildet, seelenlos, unsittlich und doch ohne Leidenschaft, verworfen und doch ohne Verzweiflung, leichtsinnig und doch ohne Genialität, trübseelig und doch ohne Melancholie, mithin ohne jedes menschliche Interesse. Ich schauderte zuweilen unwillkürlich vor diesem Blick in die Menschenverhältnisse, aber dennoch ließ ich mich nicht nüchtern machen aus meiner selbstvergessenen Trunkenheit, die mich wie ein rascher Wirbeltanz von einer Stelle zur andern bewegte. Und die Tante sagte in ihrer allerliebsten fetten Naivetät, das seien die Freuden der großen Welt, wenn wir spät um Mitternacht aus einem Pickenick von reichen Kaufmannssöhnen und jungen heirathslustigen Offiziers- und Beamtentöchtern nach Hause kehrten. Dann warf ich mich erschöpft und seufzend in einen Stuhl, und betrachtete mir beim Auskleiden noch einmal meinen schimmernden Putz, und ließ mein Geschmeide und meine Juwelen durch die Finger gleiten. Ich betete nicht mehr zu Gott, den ich als kleines böhmisches Mädchen so heiß um Leben angerufen hatte. Also statt des Lebens hatte ich jetzt die große Welt, wie es die Tante genannt, gefunden. Welt, Welt, große Welt, ist das Leben? Doch ich dachte jetzt über nichts genau, und flatterte nur, mochte es Welt oder Leben sein, das ich mit meinen flüchtigen Sohlen berührte. Auch konnte ich um diese Zeit fast den ganzen Rossini vom Blatte singen.

Ich muß doch auch wieder ein Wort von Mellenberg sagen. Obwohl ich fast keinen Unterricht mehr bei ihm nahm, blieb er doch immer noch in unserm Hause, da er sehr arm war und die Tante ihm wenigstens die freie Wohnung gelassen hatte. Er schien mir, seitdem ich mich so in diese glänzenden Zerstreuungen gestürzt hatte, heimlich zu zürnen, und doch war es anfänglich von mir nur aus Trotz geschehen, weil ich mich in meiner Zuneigung zu ihm – der ersten wahrhaften, die seit der Trennung von meinem Rothkehlchen in mein Herz gekommen war – geirrt zu haben glaubte. Ach wo war Rothkehlchen, wo war Böhmen, wo waren die abendrothen Gipfel des großen Milleschauers? Dennoch schien es mir auch wieder, als thäte ich Mellenberg Unrecht, wenn ich ihm eine von Büchern und Wissen erkältete Seele zuschrieb. Obgleich er mich vermied und ich ihn, so betrachtete er mich doch zuweilen, wenn wir uns begegneten, mit einem seltsam schmerzlichen und theilnehmenden Blick, der tief in mich hineinfuhr und nachher lange in mir haften blieb. Dann konnte er ordentlich schön aussehen, wann er mich so anblickte, und sein edles, ernstes, tiefliegendes Auge beleuchtete sein ganzes Gesicht mit einer stillen, sinnreichen Anmuth. Ueber den Protestantismus hatten wir nie wieder gesprochen. Diese klaren Ausstrahlungen meines erwachten Selbstbewußtseins waren für jene Zeit ganz in mir verdunkelt worden. Hätte er daran wieder angeknüpft, so würden wir uns wieder inniger genähert haben, und zu meinem Heil. Aber er war stumm, verschlossen, und hatte nicht den freien und kecken Muth der Seele, welcher einem Mädchen sonst immer als das Liebenswertheste am Manne erscheint. Und einmal kam mir sogar der wunderliche Gedanke ein, wie ein so edler, begabter junger Mann, als er, in einem so schlechten Hause, wie dem unsrigen, zu bleiben vermochte! Ich schrak ordentlich zusammen, als mir dieser Gedanke klar zu werden anfing. Ich dachte, wenn ich ein Mann wäre, wollte ich fortlaufen, und mich lieber in eine Bodenkammer bei einer armen Weberfamilie einmiethen, als hier bleiben! Hier, wo ein zweideutiges Weib der raffinirten Unterhaltung eines Grafen Opfer erzieht. Und am andern Morgen war immer Alles wieder vergessen, was ich gedacht hatte.

Inzwischen muß ich noch bemerken, wie ich schon früher, gleich nach dem Anheben meiner großen innern und äußern Verwirrung, durch den Bischof die Firmelung auf den alleinseeligmachenden Glauben erhalten hatte, obwohl, während ich sie empfing, Etwas in mir war, was dagegen protestirte. Ich ging nun öfter mit der Tante in die Messe, oder auch allein, und so sehr mich auch diese feierliche musikalische Mystik theilweise anlockte und zuweilen wie mit Wunderkerzen in meine horchende Seele hineinleuchtete, so ging ich doch nie mit einem befriedigten Gefühl aus der Kirche weg, sondern war betäubt, ermattet, muthlos. Zudem bemerkte ich, daß sehr Viele nur kamen, um die beiden italienischen Castraten singen zu hören, und diese letzteren waren es gerade, die mir eigentlich Alles verleideten und meine Andacht verdarben. Meine ganze physische Natur wurde nämlich empört und aufgeregt, sobald der unendlich weiche, lauliche, wollüstig hingeschlürfte, bald weibisch aufkreischende, bald in gedämpften Mitteltönen sich lächelnd kitzelnde, bald brünstig zitternde, bald in banger Lust klagende und sich verhauchende Ton dieser Sänger an mein Ohr fiel, und auf meine Nerven zu wirken anfing. Dieses empfindliche Mißbehagen ging einigemal sogar in Krämpfe und Anfälle von Ohnmacht bei mir über, und ich mußte aus der Kirche fortgetragen werden. Das weibliche Gefühl muß es überhaupt verletzen, einen Castraten zu sehn, der für einen Mann bloß lächerlich, für eine Frau aber immer nicht anders, als unerträglich und beleidigend sein kann. Dagegen wurde mir jedesmal wohl, wenn ich von der Kirchentreppe heruntertrat und die herrliche Aus- und Fernsicht über die schöne freundliche Elbe, mit den dahinterliegenden, weit in den blauen Horizont sich verlierenden Gegenden, vor mir erblickte. Diese Aussicht verlor nie ihren aufheiternden Reiz für mich, so oft ich mich auch darin erging, und wenn ich allein nach Hause kehrte, machte ich jedesmal einen Umweg und stieg die breiten steinernen Stufen zur Brühlschen Terrasse hinauf, dort oben unter den schattengebenden Alleen langsam und mit oft verweilenden Umblicken hinwandelnd. Da lag unten zur Seite die lange prächtige Elbbrücke auf ihren hohen Pfeilern und Bögen, drüben jenseit der Elbe kamen vom Linckeschen Bade die verlorenen Klänge eines Morgenconcerts herüber, und rings um mich her ging in eleganten Gruppen und Gestalten das Gedränge der schönen Welt Dresdens an mir vorbei. Solche Spaziergänge genoß ich mit harmloser Lust. Die Gesichter der Dresdener hatten im Ganzen eine gewisse Gefälligkeit für mich, sie sind fast immer fein, weiß und nett, wenn auch ohne Ausdruck, gebildet, und obwohl man ihnen im Durchschnitt weder Gemüthlichkeit noch Gutmüthigkeit zuschreiben kann, so ersetzen sie diese doch oft durch eine, ich möchte sagen, technische und hübsch zugeschnitzte Freundlichkeit. –

Jetzt ereigneten sich einige Vorfälle, die mein Schicksal zeitigen halfen. Ich fühlte nämlich, daß unwiderstehliche Leidenschaften in mir rege geworden waren, mehr in der allgemeinen heißen Strömung meiner Natur, als daß sie noch einem besondern Gegenstande gegolten hätten, am allerwenigsten aber Dem, welcher sie durch absichtliche, künstliche und immer dringender werdende Mittel in mir hervorzulocken suchte. Es war ein mächtig lodernder Funke, den die Kraft meiner Phantasie aus den überschwenglichen Formen des reichen Lebens sich herausgeschlagen und zündend in mein Blut geworfen hatte, und dieses trieb nun stärkere Wellen zu dem Herzen hinauf, welches erbangend und überwältigt nirgend Befriedigung und Frieden für sich ersah. Wenn ich zuweilen spät aus einer geräuschvollen Gesellschaft, einem aufregenden Ball nach Hause kam, fand ich Niemand mehr zu beneiden, als den stillen, fleißigen, sinnigen Mellenberg. Er saß dann immer noch in tiefer Mitternacht auf seinem Zimmer, das in einer andern Ecke des Hofgebäudes dem meinigen gegenüber lag, und hatte Licht. Ich konnte ihm gerade in die Stube sehn, jede seiner Bewegungen belauschen, auf jedes Blatt Papier, das er beschrieb, mit hinblicken. Wahrhaftig, zuerst war es dann das Gefühl eines großen Neides, das in mir aufstieg, wenn ich ihn so vor seinem Arbeitstisch dasitzen sah. Ich hatte die Zeit wild hingebracht, und nach Glück und Vergnügen mich matt und müde gejagt, und er war in wohlthuender Ruhe bei seinen Büchern zu Hause geblieben. Der Friede ämsiger Gedankenvertiefung lächelte auf seiner gewölbten Stirn. Ich sah lange, lange zu ihm hinüber. Den dunkellockigen Kopf in die Hand gestützt, machte er sich mit großen Büchern zu schaffen, in denen er bald ganz versunken Seite für Seite umschlug und las, bald auf einem neben ihm liegenden Zettel etwas daraus notirte, oder wieder andere Bücher herbeiholte und darin etwas nachblätterte. So trieb er es unermüdlich bis ein, zwei Uhr, und mein Neid vermischte sich bald mit einer innern Ehrfurcht für seine stille Beschäftigung, und die Ehrfurcht ging mir ins Herz über und weckte darin allmälig eine leise Flamme. Zugleich dachte ich daran, wie gleichgültig ich ihm im Grunde zu sein schien, und dies reizte meine ganze Mädchenempfindlichkeit, nicht gegen ihn, sondern heimlich für ihn, auf. Ich lag gewöhnlich schon im Bett, während ich mich damit unterhielt, ihm drüben zuzusehen. Er konnte in mein Zimmer nicht hineinblicken, weil ich gleich, nachdem ich die Vorhänge wieder heruntergelassen, das Licht löschte, und er selbst, wie überhaupt nachlässig in allem Aeußern, war auch darin unvorsichtig, daß er die Gardine vor seinem Fenster nie zusammenzog. Dann, wenn sein Licht ihm auszubrennen drohte, legte er Alles bei Seite, und begann sich zu entkleiden. Doch hier muß ich erröthend abbrechen. –

Der Sommer des Jahres 1830 war herangekommen. Es war ein schöner heller Tag, als der Graf uns die Einladung zu einer Landpartie zuschickte, das erste Mal, daß er uns dabei mit seiner Gegenwart zu beehren gedachte. Mit peinigenden Ahnungen setzte ich mich in den Wagen, die freie, reine, himmelblaue Luft wehte mich vergeblich an, und ich konnte mich heut zu dem sorglosen Leichtsinn, der über der Natur schwebte, nicht stimmen. Ich war melancholisch, wie Appiani in Emilia Galotti. Der Graf gesellte sich erst eine gute Strecke vor dem Thore zu uns. Er war zu Pferde und ritt in lebhaften Gesprächen, die er immer anzuknüpfen verstand, neben dem Wagen her. Er war ohne Zweifel ein sehr gebildeter Mann, und ich mußte mir oft gestehen, daß ich ihn heimlich bewunderte, wenn er sprach und erzählte; aber das ängstigende Verhältniß, in dem ich zu ihm stand oder zu dem ich vielmehr noch gezwungen werden sollte, nöthigte mich, jede Beipflichtung auch des Verstandes für ihn zu unterdrücken. Denn nichts verfehlt mehr seinen Endzweck auf ein jugendliches, scharf wahrnehmendes Herz, als die zur Schau getragene Absicht. Nur das Unabsichtliche verführt und verlockt uns am wirksamsten. Und doch verdanke ich seinen Absichten die sorgfältige Erziehung und Bildung, die ich genoß, obwohl ich, bei näherer Ueberlegung, ihm keine Dankbarkeit dafür schulden zu dürfen glaubte. Denn ich war selbst nur als Mittel dabei gedacht, und nur für den größern Reiz seiner Unterhaltung hatte er klug gerechnet, wenn er es vorzog, sich lieber ein gebildetes Schlachtopfer zu erwählen, als ein unverständiges Werkzeug, das keine geistigere Wirkung empfand und wiedergab. So sollte, was ich Schönes und Gutes lernte und mir aneignete, nur die Koketterie eines Putzes sein, womit ich mich, um ihm mehr zu gefallen, behing, aber Gott lenkte es anders, daß die Gaben des Geistes, die nur wie Blumenblätter über den Abgrund meines Verderbens hingebreitet werden sollten, vielmehr Wurzel schlugen in meiner eigenen Seele, und frei und stark machten meinen Willen, um in der Welt nur dem innersten Trieb und Zug meines Gefühls zu gehorchen. Und wenn ich auch bald an diesem meinem eigenen Gefühl mich verirrte und sank, so muß es doch, glaube ich, weniger Schande bringen, durch sich selbst, durch das inwendige und unwiderstehliche Schicksal unserer Brust, gefallen und gescheitert zu sein. Ich bin keck und frei genug, die Augen noch dreist und harmlos aufzuschlagen, wenn mich die Südwinde meiner eigenen Leidenschaft verschlagen haben an gefahrvolle Klippen; ich bin dann noch ein Kind meines Willens, ein Kind meines Schicksals, und ein Kind meines Gottes. Aber fremder Leidenschaft widerwillig gefallen zu sein, ist eine Beschimpfung des ganzen Daseins, gegen die nichts Anderes mehr als Lucretia's Tod hilft. Ich war in der letzten Zeit oft auf die Dresdener Gallerie gegangen, und hatte mir mit stillem Zucken die Lucretia angesehen, die in dem letzten Zimmer, nicht weit von der Sixtinischen Madonna, ganz oben hängt.

Aber ich vergesse in diesem Hinundherreden über meine Lebenswirren ganz, von unserer Landpartie zu erzählen. Wir fuhren nach Plauen, das zu den reizendsten Umgegenden Dresdens gehört. Der liebliche Plauensche Grund, mit der schäumenden Weiseritz, die sich hier durch hohe Felsen ihre Bahn bricht, machte einen wohlthuenden Eindruck auf mich, und erleichterte zuerst wieder meine Vorstellungen. Ich konnte immer entsetzlich bald Alles vergessen, was mich drückte, selbst im Angesicht der Gefahr. Ich wurde heiter, nahm den dargebotenen Arm des Grafen an, ging lachend und hüpfend an seiner Seite, und sang auf sein Begehren sogar die tanti palpiti. Ich war im Stande, mir einzubilden, wenn ich wollte, daß er mein wahrer Freund sei, mit dem ich ganz gut sein müsse. Auch bezeigte er sich jetzt durchaus unbefangen, sodaß ich meinen Argwohn zurückdrängte. Nur die Figur der Tante ärgerte mich zuweilen, wenn sie mir mit ihren listigen, freundlichen, vielsagenden Augen bedeutungsvolle Blicke zuwarf. Wir hatten Wagen und Pferde im Dorfe gelassen, und spazierten zu Fuß weiter bis zu den Steinkohlenwerken. Der Graf erzählte mir manches Lehrreiche über den Grubenbau, und ich hörte mit Aufmerksamkeit zu. Auch besahen wir die Dampfmaschinen. Dann kehrten wir nach Plauen zurück, wo wir Abendbrot aßen und uns gut unterhielten, und erst spät am Abend langten wir wieder in Dresden an.

Meine fröhliche Laune trübte sich, als ich sah, daß der Graf vor unserer Wohnung mit abstieg und uns hinausbegleitete. Ich fühlte, daß ich zitterte, und mein Blut stieg mir in dunkelrother Wallung ins Gesicht. So seltsam war mir noch nie zu Muthe gewesen, und als ich ins Zimmer trat, erschien mir Alles wie verändert. Es dünkte mich, als hätte ich früher weit wo anders gewohnt, und käme zum ersten Mal in dies Gemach, um hier die unglücklichste Stunde meines Lebens zu erleiden. Ich sah mich betroffen um, und wirklich, das Zimmer, in das man uns geführt hatte, war mir in seiner ganzen Einrichtung neu. In der Ecke stand ein großer Amor von Bronze, mit einer brennenden Fackel in der Hand, und beleuchtete mir durch diese auf magische Weise das ängstigend geheimnißvolle Gemach. Ich war wie im Traum, und halb besinnungslos ließ ich mich von dem Grafen, der mich mit raschen Arm umfaßte, zu ihm auf die Ottomane ziehen. Diese war in Form eines Himmelbettes mit rothen seidenen Vorhängen, die sich aus den goldenen Klauen eines Greifs falteten, überdeckt, und sie drohten eben rauschend über mich zusammenzuschlagen, als ich, plötzlich mich besinnend, mich aufriß, und in wilder Bewegung fast einen Tisch umstürzte, der mit Wein und Confecten vor uns gestanden. Ich machte einige Schritte durch das Zimmer, während der Graf, nach seiner Art lächelnd, sitzen blieb und mir einige begütigende Worte zurief. Es war im Zimmer ein seltsamer starker Duft, wie von abgebranntem Räucherwerk, der mich noch mehr drückte, so daß ich das Fenster aufriß. Die Tante war nirgend zu sehn und zu hören. Draußen auf der nächtlichen Straße lag ein beneidenswerther, ungetrübter Friede, und kaum ging mehr ein Mensch vorüber, kaum ließ sich noch ein Geräusch vernehmen.

Was soll das Alles? fragte ich endlich mit ermuthigter Stimme, und wandte mich wieder zu dem Grafen ins Zimmer zurück.

Indem er mich von neuem an sich zu ziehen suchte, sagte er, heut sei die schöne Feier unseres Bündnisses. Er nannte mich ein wunderliches Kind, und fragte, warum ich mich so fürchte. Ich sei jetzt zu einer holden Braut herangewachsen. Jede Blüthe habe ihren Augenblick, wo sie sich plötzlich wie auf sich selbst besinne, daß sie Blüthe geworden sei. Von diesem Augenblick an beginne ihr der Genuß ihres Seins. Heut sei dieser Augenblick.

Nein! Nein! rief ich aus allen Kräften, und wand mich gewaltsam aus seinen Armen. Nein! Nein! schrie ich, daß die Wände erdröhnten, daß mir das Herz im Busen fast sprang.

Er hielt meine beiden Hände fest, und hob sie an seinen Mund empor. Er küßte sie lange, und ich fühlte durch meine Finger das elektrische Feuer seiner Lippen rieseln. Ich zog sie, als hätte ich sie an einer Flamme versengt, zurück, und verhüllte mir damit in tiefster Scham die Augen. Ich weinte.

Er trat vor mich hin, und umfaßte mich so unwiderstehlich, daß ich glaubte, er habe ein Netz über meine Glieder geworfen. Er war sanft und stark, mild und gewaltig zugleich, wie er mich umschlungen hielt, und ich wagte mich nicht zu regen. Ich hörte auf zu weinen, und sah ihn mit stillen ruhigen Augen an. Seine Blicke begegneten den meinigen so nahe, daß sie mich wie verzehrende Blitze trafen. Doch ich hielt seine Blicke aus, ich erwiederte sie immer noch mit stillen ruhigen Augen. In diesem Moment erfuhr ich zuerst in mir, daß es eine Macht des Mannes gebe, die unserer Natur weit überlegen sei. Er kam mir schön vor in der Glorie des Mannes, wie noch nie, und ich dachte, daß mich nichts mehr retten könne, als Bitten. Da beschloß ich, ihn unendlich zu bitten, und flüsterte ihm viele, gute, flehende, schmeichelnde Worte ins Ohr, daß er mich nur eine einzige Minute lang freilassen möchte. Ich könne nicht mehr athmen. Nur eine einzige Minute lang.

Er ließ mich los, und ich seufzte laut auf, als ich von ihm floh. Ich eilte zur Thür, ergriff die Klinke, und fand sie verschlossen. Ich ging auf und ab, und empfand jetzt erst, daß eine unbeschreibliche Angst in meinem Herzen poche. Da fielen meine Augen auf ein Klavier, das, an der Wand stehend, noch nicht von mir bemerkt worden war. Es war ohne Zweifel ein neues Geschenk von ihm, die Tasten standen offen, ein Musikblatt lag auf dem Notenpult. In meiner Verwirrung war ich davor stehen geblieben, und griff, wie in krampfhafter Betäubung, einige Töne auf dem klangreichen Instrument. Dann schrie ich entsetzt auf, als hätte ich etwas Unrechtes begangen.

Bravo! Bravo! rief eine Stimme hinter mir. Ich sah mich um, es war der Graf. Er hatte einen vollgeschenkten Becher in der Hand, der schäumende Wein perlte und duftete mir daraus entgegen. Er hielt mir den Becher mit freundlichem Wort an die Lippen, und ich ließ Alles mit mir geschehen, ich sog in langen durstigen Zügen die stärkende Labung tief in mich hinein, als könne mir das helfen. Er freute sich, und küßte mir dabei die Stirn, während ich trank.

Nun glaubte er meinen ganzen Starrsinn überwunden und führte mich in sanfter Umschlingung wieder zum Kanapee. Ich aber fühlte plötzlich einen neuen glühenden Muth in mir gewachsen, und dachte, daß es jetzt nur auf mich ankäme, ihn zu brauchen, und anzuwenden alle Stärke meines Willens. Er zog mich auf seinen Schooß nieder, und legte mit schmeichelnder Bewegung meinen Kopf auf seine Schulter. Das Tuch war mir vom Nacken geglitten, ich empfand selbst, wie heiß ich war, und fragte nicht danach. Ich lag mit dem Kopf auf seiner Schulter, und dachte über etwas nach, ich weiß selbst nicht, über was. Ich fühlte sein Herz hörbar an mir schlagen, und es kam mir der Gedanke ein, daß wir beide nie zusammengehörten. Weil ich ihm jetzt so nahe war, empfand ich die ungeheuere Trennung zwischen uns um so überzeugender, um so schneidender. Jetzt erst, auf seinem Schooß, wo er mich ganz gewonnen zu haben meinte, sah ich es deutlich ein, wie fern ich ihm war. Fern, fern, ewig fern, und weit auseinander. Sein dicht an meiner Wange gehender Athem fing mir an abscheulich zu werden. In meiner auf- und niederwogenden Brust regte es sich wie ein großer heldenmüthiger Haß. Ich richtete mich langsam von ihm auf, und sah ihn an. Er hatte meine Busenschleife ergriffen, und zog sie auf, sodaß mir das Gewand voneinanderschlug. Ich dachte an Lucretias Dolch, wie er ihren schneeweißen Busen durchschnitten, ich faßte mich noch einmal in meiner ganzen Entschlossenheit zusammen, es zuckte in meiner Hand, und ich schlug mit allen Kräften nach seiner Wange, als führte ich ein Schwert der Rache. Dann war ich aufgesprungen, rannte ans Fenster, schrie laut um Hülfe auf die Gasse hinaus, und wollte mich hinunterstürzen. Darauf wieder zurück durch das Zimmer, noch einen flüchtigen, zitternden Blick auf ihn, der erblaßt und halb ohnmächtig vor Schreck und Zorn dasaß, dann griff ich mit aller Gewalt an die Thür, sie wich aus dem Schloß, und ich eilte, auf athemloser Flucht, mit der Geberde einer Wahnsinnigen, die Treppe hinab.

Unversehens war ich in den Hof getreten, der kühle Nachtwind schlug mit feuchten Flügeln mein heißes Gesicht, und brachte mich zuerst wieder zur Besinnung. Ich stand still, Alles war ruhig, nichts bewegte sich. Ich richtete die Augen zum Himmel auf, wo einige Sterne in dunkler Gluth brannten. Da fielen meine Blicke auch auf zwei erleuchtete Fenster des Hofgebäudes. Es war Mellenbergs Zimmer, er war es, der Gute, der Verständige, der wieder, wie sonst, auch diese späte, unglückliche Nacht mit seinem Fleiß durchwachte. Seine Gestalt trat vor meine Seele, ich sehnte mich unbeschreiblich nach ihm, ich wollte von ihm Trost und Frieden. Plötzlich war mir jedoch, als hörte ich vorn im Hause gehn und sprechen, es kam die Treppe herunter, ich glaubte die Stimme des Grafen zu unterscheiden, die Tante auch, beide in einem heftigen Wortwechsel, immer näher und näher, dann Licht, und mein Name wurde genannt. Nun wähnte ich mich verfolgt, und sah keine andere Rettung mehr vor mir, als die Hoftreppe hinaufzuflüchten. Geradezu war Mellenbergs Zimmer, ich stürze hinein, und noch ehe er, von seinem Tisch aufsehend, mich gewahr geworden, habe ich schon hinter mir die Thür verriegelt. Dann springe ich mit weit geöffneten Armen auf den Erschrockenen zu, um mich an seine Brust zu werfen, in seinen Schutz zu geben. Ich sagte es mir mit einer unendlichen Innigkeit und Genugthuung, daß er der einzig Redliche im ganzen Hause sei. Unter den Schirm seiner Redlichkeit wollte ich meinen Schmerz, mein Unglück, den Bruch meiner Verhältnisse, stellen. Er sollte mir rathen, mir Mittel angeben, und auf Hülfe für mich denken. Er war klug und gut. Ich deutete ihm Alles an, soviel ich konnte und mir mein Gefühl erlaubte. –

Und hier hätte ich wohl Grund, den Faden dieser Selbstbekenntnisse abzubrechen, wenn ich nicht auch die schonungsloseste Aufrichtigkeit gelobt hätte. Vielleicht ist es auch gut, daß man Alles sagt, für sich und für die Andern. Denn vor sich und vor den Andern kann man sein Herz nur rechtfertigen, wenn man es ganz und offen erschließt, und ein offenes Herz, mit allen seinen Strudeln und Untiefen, ist ein Schauspiel für Götter. Daher schäme ich mich nicht, die Wahrheit aufzuzeichnen, weil sie die Wahrheit ist. Die Feder zittert mir bloß hinundher in der Hand. Und auf das Wort Wahrheit, das ich da hingeschrieben, fällt mir eine große Thräne. Ja, ich schäme mich der Wahrheit nicht. Ich habe immer gehört, daß die Wahrheit endlich zum Gedicht werde, nachdem sie mit ihren herben Stoffen in den Läuterungsflammen der Buße geschmolzen. Wohlan denn, mein Gedicht!

Ich hatte mich schutzsuchend an die Seite des Jünglings geschmiegt, und dachte gar nicht daran, wie ich aussah. Das Haar hing mir aufgelöst und flatternd herunter, der Busen war mir halb entblößt, und alle Theile des Gewandes hatten sich in dieser beispiellosen Verworrenheit verschoben. Er schien unschlüssig, ob er mich fliehen, ob er mich aufnehmen solle. Dann drückte er mich mit einem glühenden Blick an sich, sein Antlitz verschönte sich mit einer hohen Röthe, wie ich es noch nie an ihm gesehen hatte. In seine Augen trat der lodernde Funke des Mitgefühls hervor, nach dem ich immer bei ihm gesucht und geforscht. Er griff nach meiner Hand, ich fühlte, daß die seinige bebte zwischen meinen Fingern, und dann führte er mich zu seinem in der Ecke stehenden Sopha. Ich folgte ihm gern, gern. Wie einfach, wie arm, wie dürftig war hier Alles in seinem kleinen Gemach, und doch, wie traulich und beruhigend wehte mich zugleich Jegliches daraus an. Ich hätte um Alles in der Welt gewünscht, daß ich ganz glücklich gewesen wäre, um mich recht mit ihm freuen zu können. Ich hätte ihm zu Füßen sinken mögen. Er sah so freundlich, so unschuldig, so heilig, und doch so liebesinnig aus in diesem Augenblick heut.

Wir saßen nebeneinander auf dem Sopha. Ich legte meinen Kopf erschöpft auf seine Schulter, und athmete schwer. Hier war ich sicher, hier vermutheten meine Feinde mich nicht. Keine Nachstellung traf mich hier in der stillen Werkstatt des Fleißes. Das spärlich flackernde Licht erhellte kaum den heimlichen Winkel, in dem wir aneinander ruhten. Er sagte, er habe Alles längst geahnt, gewußt, daß es so kommen würde. Er habe im Stillen über mich geklagt, und doch nichts zu thun vermocht. Darüber sei ihm das Herz zerrissen, und er habe sich stumm zurückgezogen in seine liebesarme Einsamkeit.

Ich weiß, daß mir nicht zu helfen ist! sagte ich mit leiser, gefaßter Stimme. An mir ist Alles verloren, ich sehe nicht mehr ein noch aus. In der Ferne kein Ziel, in der Nähe kein Anker. Hoffnungslos, grundlos. Doch still davon, Freund! Laß uns gar nicht mehr daran denken, wie unglücklich ich bin. Nur zwei Minuten lang, zwei schöne Minuten lang laß mich noch an Deiner Schulter ohne Gedanken ruhen. Ich bin matt, ich bin wundgejagt, ich will an gar nichts denken. Nur still, still! Ganz still! Laß mich genug haben an diesem einzigen Augenblick Deiner Gegenwart, wenn mich auch mein Schicksal bald zum Aufbruch mahnt. Ich meine, dieser Augenblick sei mein ganzes Leben, und weiter brauche ich nicht. Höre, laß mich auch an mein Schicksal nicht denken. Laß mich an gar nichts denken. Nur still, still! Ganz still! Und weißt Du denn, wie sehr ich Dir Freund bin? Doch still! Ach, vom Kinderherzen ging es in das größer werdende Mädchenherz über, wie lieb Du mir bist. O still, still! Lieb in Gestalt und Wesen, im Sinnen und Handeln, im Reden und im Schweigen. Laß mich bei Dir bleiben, bei Dir und Deinen Büchern. Sprich nicht von liebesarmer Einsamkeit. Hier ist es gut. Still will ich an Dir ruhen. Still, still, still!

So plauderte ich zu ihm hin, meinen Schmerz ersterben lassend in süßer Sehnsucht. Er sagte, ihm sei das Glück wie eine Königin der Nacht aufgeblüht. Wer könne ihn schelten, wenn er an das Wunder ihrer Blüthe glaube. Denn in der Liebe sei seine Seele wundergläubig. Er frage nicht, wie es dauern werde und ob. Er liebe mit seiner ganzen Seele, mit seinem ganzen Glauben, mit seinem ganzen Ernst und seinem ganzen Leichtsinn. Nie habe er zu träumen gewagt, was jetzt Leben geworden. Und zum Leben fühle er sich erwacht, nachdem er es lange an todtes Wissen verloren. Nachdem er lange kaum um sich hergeblickt in der Welt, habe sie sich ihm plötzlich bevölkert, und ein Liebesauge zu ihm aufgeschlagen. Er sei unbegreiflich beglückt.

Es war das erste Mal, daß ich ihn so glühend reden hörte, und das bewegte mich tief. Ich sah ihn mit meinen besten und zärtlichsten Blicken an, und aus der selbstvergessenen Ruhe, in die ich mich noch eben in halber Verzweiflung eingewiegt, begann wieder eine heiße Unruhe in meiner Brust zu entlodern. Er spielte mit seiner Hand in meinen aufgebundenen Haarflechten. Doch war er schüchtern und zart, kindlich und zurückhaltend, daß ich mich vor ihm schämte.

Ich fühlte eine solche Wallung bis in die Stirn, daß es mich nicht mehr an seiner Seite ließ. Es war mir, als hörte ich seinen auf und niedergehenden Athem inwendig in meinem Herzen zum zweiten Mal schlagen, und als drücke sich die Nähe seiner Gestalt so fest und unwiderstehlich in mich ein, daß ich mich selbst darüber ganz und gar verlieren müßte. Da wurde mir ängstlich, ich sprang auf, und durchmaß, von einer wilden Hast getrieben, mit raschen Schritten das Zimmer. Er blieb sitzen, und sah mir tief sinnend nach, als kämpfe er noch mit Wirklichkeit oder Traum unserer Scene.

Auf dem Fußboden standen und lagen viele Bücher umher, es waren die stillen Mitbewohner des kleinen Gemaches. Ein großer, breiter Foliant erhob sich dicht neben dem Arbeitstisch, und ich setzte mich endlich, um auszuruhen, auf die starke, feststehende Schaale des Buches. So saßen wir uns lächelnd gegenüber, ich fern von ihm, nur mit den Blicken einander erreichbar. Wir sprachen nichts, eine große Stille herrschte rings um uns her. Draußen die späte Mitternachtstunde, die vom Thurm erklang, hatte uns nichts zu sagen, wir waren nur vertieft in den Moment unsres Beisammenseins. Ich hätte gern wieder neben ihm gesessen. Ich sehnte mich nach ihm. Das Roth auf meiner Wange mochte sich noch röther entflammen. Da ergriff ich ein Buch, das neben mir auf der Erde lag, und blätterte, um mein Gesicht darin zu verbergen. Nachher bemerkte ich erst, daß es Hebräisch war, was ich so dicht an meine Wange hielt. Schnell schleuderte ich es wieder von mir, wie aus Gespensterfurcht vor diesen entsetzlichen Schriftzeichen, und sprang dann lachend auf, und stellte mich wieder vor den guten theuern Freund hin, mit übereinandergeschlagenen Armen, die Hand nachdenklich betrachtend an das Kinn gelehnt. Unsere Augen trafen mit einem kühner sich begegnenden Feuer zusammen, und ließen sich nicht wieder los. Er hatte mich leise an seine Brust gezogen. Auf dem Tisch verlosch das Licht, das sonst nur vor dem arbeitsamen Fleiß niederbrannte. Heut verlosch es – –

Doch nichts will und darf ich mehr sagen. Erst spät schlich ich mich, halb bewußtlos, wieder fort, um mein eignes Zimmer zu erreichen. Es gelang mir, und ohne mich vor Erschöpfung aller meiner Sinne auskleiden zu können, sank ich dem tiefsten Schlaf in die Arme.

Als ich am andern Morgen erwachte, schien bereits die helle Sonne auf mein Bett. Alles war still um mich her, und indem ich mich nachsinnend aufrichtete, war es mir, als hätte ich mein ganzes Gedächtniß für den gestrigen Tag verloren. Ich sprang rasch auf, mir war wunderbar wohl zu Muthe, bis in mein innerstes Wesen hinein. In allen Theilen meiner Natur fühlte ich mich erquickt und gehoben, und mich dünkte, als riesele in mir ein frischer Strom von Leben durch jede Ader hin. Ich kam mir auf Einmal aufgeblühter, entwickelter vor, voller in meinen Formen und reicher in meinen Gedanken, und, neben einer unendlich wohlthuenden, warmen Stimmung meiner physischen Natur, empfand ich eine tiefe, ruhige, befriedigte Heiterkeit in der Brust, wie ich mich ihrer nie erinnern konnte. Es war mir, als hätte ich jetzt erst einen kräftigen Blick ins Leben gewonnen. Alles schien an mir klarer, bestimmter, herausgetretener, gerundeter geworden, Alles hatte Ton, Klang und Duft in mir von innen und außen. Ich war mehr geworden, diese Ueberzeugung drängte sich mir lächelnd auf. Kein harmloses Mädchen, kein unschuldiges Kind mehr, aber gewachsen und erwachsen, gereift und gezeitigt. So seltsam war meine Sinnesart, daß ich, in diesem Moment an gar nichts Anderes denkend, mich nur unbeschreiblich glücklich pries. Ja, das eigene Wonnegefühl, das tief aus mir herausschlug, überwältigte mich so sehr, daß ich mich nicht halten konnte, ich sank auf mein Knie nieder, und betete, was ich so lange nicht gethan hatte, zu Gott. Seit jenen guten Kinderworten, mit denen ich ihn um das Leben gefleht, das ich mir noch weit hinter den böhmischen Bergen gedacht, hatte ich nicht aus so voller und hingebender Seele gebetet. Ich betete und dankte, daß er mich nicht verlassen, und daß ich fühle, wie er mit mir sei, und sein geistbeflügelnder Hauch mich im Innersten durchdringe, selbst bis in Fleisch und Blut hinein. Er möge mich glücklich führen und leiten durch das große Labyrinth der Welt. So lange mir gut und fröhlich zu Muthe sei, wolle ich immer glauben, daß ich Alles, was ich auch gethan, recht und mit seinem Willen gethan. So sei ich. Ich sei eine weltliche Seele. Ein Kind der Welt. Und durch die Welt empfände ich ihn, meinen Gott, heraus. Ich könne nicht anders. Jetzt sei mir wohl, sehr wohl. Dank, Dank und Amen! –

Als ich aufstand, fühlte ich, daß meine Gedanken, allmälig wieder nüchtern werdend, zu den Bildern des vorigen Tages in scharfer Erinnerung zurückkehrten. Nur an Mellenberg dachte ich noch einmal mit solchem süßen Zug der Anhänglichkeit und Zugehörigkeit, daß ich mich wie durch geheimnißvolle Fesseln an ihn gebunden empfand. Dann aber verdunkelte und verschüttete sich plötzlich in mir Alles durch die schreckenerregendsten Vorstellungen. Meine Verhältnisse in diesem Hause, was sollte aus ihnen und was aus mir werden! Ich fürchtete, daß ich gestern meine bisherige sorglose Lage auf immer verändert und zerstört hätte, und zugleich wünschte ich es. Denn wie konnte ich anders gegen den Grafen handeln! Es empörte mich, an ihn und an die Tante zu denken, und neben der zagenden Besorgniß für meine Zukunft regte sich in mir zugleich der Zorn. Dann schüttelte es mich wieder, wenn ich in die Ferne dachte, mit Grauen und Angst.

Niemand ließ sich blicken, und ich war entschlossen, heut allein auf meinem Zimmer zu bleiben, es werde auch wie es wolle. Endlich brachte mir die Aufwärterin mein Frühstück, und ich fragte weder nach der Tante, noch wurde mir etwas von ihr gesagt. Ich kleidete mich um, setzte mich nieder, und wollte erst zeichnen, dann lesen. Nichts gelang mir, und ich vermochte nicht, meine Anschauungen auf einen bestimmten Gegenstand zu fesseln. Die Kreide zitterte mir in der Hand, die Buchstaben verschwammen mir vor den Augen, und Alles, was ich anrührte, benetzte sich bald mit Thränen. So ging die schöne helle Stimmung, mit der ich diesen Morgen erwacht war, bald in immer versunkenere Schmerzen über, und wich dem näher und näher heraufziehenden Schicksal dieses Tages, welcher der entscheidende für mich werden sollte.

Indem ich so saß und an den Bildern meiner eigenen Phantasie mich abängstigte, dann wieder hin und her dachte, um meine Gedanken zu zerstreuen, fiel mir plötzlich ein, daß heut ein Festtag sein müsse, über den ich schon früher viel in den Zeitungen gelesen. Freilich kein Festtag für mich. Es war die Jubelfeier der augsburgischen Confession, welche in dieses Jahr und auf diesen Tag fiel, und über deren festliches Begehen man aller Orten sprechen gehört hatte. Es war in der letzten Zeit davon um so mehr die Rede gewesen, und deshalb auch zu meinen, oft mitten im Wirrwarr Manches erlauschenden Ohren gedrungen, weil, wie man sagte, die Protestanten in Dresden zu manchem drückenden Argwohn, welcher sie eine Beeinträchtigung ihrer Glaubensrechte besorgen ließ, damals Anlaß gefunden. Ich erinnerte mich jetzt, da es mir wohlthat, auf andere Vorstellungen zu kommen, aus meinen früheren Geschichtsstunden bei Mellenberg deutlich des ganzen Herganges, den die Reformation genommen, und wodurch eine lebhafte Gedächtnisfeier jener augsburgischen Confession für die Anhänger dieser Kirchenpartei so bedeutend werden mußte. Daß aber die Feier in Dresden keineswegs mit solchem Glanz vor sich gehen werde, als es dieser historischen Bedeutung würdig gewesen, hatten die Protestanten, die sich in ihrer Stellung zu der herrschenden katholischen Partei nichts weniger als in ihrem Rechte glaubten, gefürchtet. Mir fiel manches Wort wieder ein, was Mellenberg in unsern damaligen Unterhaltungen über diesen Gegenstand gesagt. Ich wiederholte mir ordentlich Alles, soweit ich es noch im Gedächtniß hatte, um jetzt alle andern Gedanken nur immer weiter von mir zu scheuchen. Zugleich war es mir süß, weil es mit Mellenberg zusammenhing. Bald aber dachte ich bloß an ihn selbst, und jedes übrige Bild verwischte sich dagegen in mir.

Da klopfte es leise an meine Thür, und ein kleiner Knabe brachte mir einen versiegelten Brief. Ich griff hastig danach, denn ich war überzeugt, ich weiß nicht warum, daß er von Mellenberg sein müsse. Ich steckte ihn rasch in den Busen, und entfaltete ihn erst, nachdem der Knabe fortgegangen, denn es war mir, als läge ein großes Geheimniß hinter seinem Siegel verborgen. Endlich las ich mit Entsetzen, ohne daran glauben zu können, die folgenden Worte:

»Arme Freundin! Ich habe ein großes Unrecht an Dir begangen. Dies treibt mich von Dir, und treibt mich in den Tod. Arme Freundin! Ich habe ein großes Unrecht an meinem Gott begangen. Nur ihm und seiner Erkenntnis hatte ich in stetem Forschen und Trachten mein Dasein gelobt. Dies Gelübde und mit ihm der Gottesfriede meines Lebens ist gebrochen. Die irdischen Gedanken sind nun über meine Andacht hergestürzt, und fangen an, mein dem Himmel geweihtes Herz zu verwildern. Ich fühle, daß ich seit der gestrigen Nacht nicht mehr beten kann. Lebe wohl! Ich will und darf nicht mehr leben. Gott behüte und schütze und erleuchte Dich! Mir wird er drüben verzeihen, denn ich muß vor seinem Thron erscheinen. Lebe wohl! Lebe wohl! Arme Freundin!« –

Ich weiß nicht, wie lange ich diese Zeilen anstarrte, aber es wurde mir so schwer, ihren Sinn zu begreifen und in mich aufzunehmen, daß sie mich anfänglich ganz kalt ließen. Dann setzte sich mein Schrecken in eine dumpfe Betäubung um, in der ich mehrere Stunden verharrte. Durch ein Geräusch wurde ich zuerst wieder erweckt. Es war meine Aufwärterin, welche mir, auf mein am Morgen gegebenes Geheiß, den Tisch deckte und das Mittagessen auftrug. Ich ließ Alles stehen, und nahm nur den Brief, um ihn noch einmal zu lesen. Dann ergoß sich meine Brust in ein langes, unendliches Weinen, das nicht aufhören und nachlassen wollte.

Ich wußte nicht, was ich beginnen sollte. Nicht einmal getraute ich mir, mich von meinem Zimmer zu entfernen, wie ein banges Kind, das im Dunkeln keinen Schritt zu thun wagt. Es schien mir, als müsse draußen etwas Entsetzliches sich zusammengerottet haben, wie eine Verschwörung wider mich, aus der ich mit meinem Leben nicht wieder entkommen würde. Und zugleich fühlte ich in diesem Augenblick – fast stärkte mich die Wahrnehmung – wie sehr mir noch immer das Leben lieb sei. Ich saß den ganzen Nachmittag, und es wurde Abend. Zuweilen schmeichelte ich mir sogar mit der Vorstellung, daß nur ein Augenblick der Hypochondrie, wie ich wohl früher hinundwieder ihn davon befallen gesehn, ihn diesen Brief schreiben ließ, ohne daß es in der Wirklichkeit zu dem Schrecklichen käme, das darin angedeutet wurde.

Endlich, als die Abenddämmerung mein Zimmer immer mehr verdunkelte, und die Einsamkeit um mich her banger und unerträglicher wurde, ergriff mich ein unbeschreibliches Zagen. Ich konnte es nicht mehr allein mit mir aushalten, und beschloß, die Tante aufzusuchen, um zu sehen, was vorgehe, was beschlossen worden, was mir bevorstehe. Langsam schlich ich durch den Gang hin, welcher mein Zimmer von den ihrigen trennte, Alles war still und lautlos, und das ganze Haus kam mir wie verlassen und ausgestorben vor. In den vorderen Zimmern fand ich Niemand, und von der Gasse herauf schlug ein dumpfer, ungewöhnlicher Lärmen an mein Ohr. Ich erbebte in meinem Innersten, ich war krampfhaft gespannt auf das Entsetzlichste, das sich, wie ich überzeugt war, irgendwo jetzt ereignet haben müßte. Ich eilte in die Küche, und erfragte von einer halbtauben Magd mit großer Anstrengung so viel, daß die Tante bereits seit Mittag das Haus verlassen und noch nicht wieder zurückgekehrt sei. Drüben auf dem Altmarkt aber wäre ein Volksaufruhr ausgebrochen. Ich sprang rasch wieder nach vorn, riß die Fenster auf, und blickte auf die Straße hinunter. Eine dichtgedrängte wogende Menge bewegte sich in schwarzen Massen auf und nieder, man konnte nichts unterscheiden, und Alles floß in einem wilden Geschrei, mit einem hohlen, gleich Gespenstern durch die Gassen laufenden Gemurmel ineinander. Von dem Markt schien ein heller Lichterschimmer herüber. Da erdröhnte die Lärmtrommel, daß ich vor Schrecken aufschrie, und mir nach dem Herzen greifen mußte. Ich wähnte meiner Tage und der ganzen Welt Ende herangekommen, meine ungewisse Angst ließ mich die ungeheuersten Schrecknisse glauben. Hier allein vermochte ich nicht zu bleiben, ich fühlte bei weitem mehr Muth dazu, mich unten in die Nähe des dichtesten Getümmels zu wagen. Mein verzweifelter Entschluß trieb mich hinunter. Ich warf rasch einen Shawl über, und stürzte die Treppe hinab. Vor der Thür blieb ich stehen, und eine Schaar dort versammelter Menschen nahm mich alsbald, ehe ich es gewahr wurde, in ihre Mitte. Niemand merkte auf mich, und ich suchte mir aus den verworrenen Reden der Leute zu entnehmen, was vorgegangen sein möchte. So viel verstand ich, daß das Volk durch die Nichtachtung, welche die obern Behörden dem heutigen kirchlichen Fest bewiesen, zuerst in Aufregung gerathen war. Es hatte sich auf dem Markt versammelt, der fast ringsum feierlich erleuchtet worden, und auf dem nur das Rathhaus dunkel und ohne ein festliches Zeichen blieb. Wilder Ausruf erscholl von allen Seiten, und die gereizte Stimmung steigerte sich immer mehr. In einem Hause waren Luthers und Melanchthons Bildnisse an den Fenstern ausgestellt, und zugleich hatte man in der Nähe desselben, man wußte kaum woher, Spottlieder vernommen, welche die erhitzte Menge auf ihre Glaubenshelden bezog. Nun hörte man Verwünschungen gegen die Katholischen ausstoßen, den Anhängern des Protestantismus aber ein Lebehoch bringen, während Andere Hand anlegten, die Thür eines Hauses, gegen dessen Bewohner man einen besondern Argwohn gefaßt hatte, gewaltsam zu sprengen. Der Aufruhr war nicht mehr zu bändigen, die einschreitende Polizei erwies sich ohnmächtig in allen von ihr ergriffenen Mitteln. So wuchs die Verwirrung, ein endloses Gedränge war entstanden, man schob sich in taumelnden Gruppen hin und her, und ein banges Grauen begann sich aller Gemüther zu bemächtigen.

Indem ich so stand, und auf die wüste Volksmasse hinblickte, fing ich fast an, meine eigenen Schmerzen zu vergessen. Da theilte sich, links von der Schloßgasse her, die Menge, und es schien ein neuer Auflauf entstanden zu sein. Bald näherte sich ein abgesonderter Zug von Leuten, dem überall Platz gemacht wurde. Die Vorübergehenden sagten, man bringe einen jungen Menschen, der sich in die Elbe gestürzt habe. Man könne noch hoffen, ihn wieder ins Leben zurückzurufen, da er kurz nach der That aufgefunden worden sei. Ich schauderte im tiefsten Innern zusammen, mein Bewußtsein verdunkelte sich. Noch ein Blick des Entsetzens auf den näher kommenden Zug, dann verloren sich meine Sinne, ich wußte nicht mehr, wo ich war. Ich fühlte mich wie fortgetragen, der Strom des Gedränges hatte mich ergriffen. Von allen Seiten stieß und schob man mich, und ich wurde so aus meinem ohnmächtigen Zustande allmälig wieder emporgerüttelt. Doch sah ich nicht um mich her, ich ließ mich mit geschlossenen Augen immer weiter tragen und drängen. Zuweilen blitzten Lichter, Fackeln, seltsame Schimmer aller Art, durch die Finsterniß meiner Augen. Dann war wieder einen Augenblick lang Alles still und dunkel, und ich wiegte mich mit Ergebenheit der Verzweiflung in der schwarzen Nacht, die mich umrauschte. Nun zogen Soldaten mit klirrendem Gewehr an mir vorüber, ich wurde Jegliches gewahr und sah doch nicht. Dann merkte ich wieder, wie ich in das wildeste Gewühl fortgerissen wurde. Ueber den Markt war ich längst hinweggeführt, und das ganze Ziehen, Drängen, Treiben und Stoßen wurde immer rascher, tosender, gefahrvoller. Es war mir, als säße ich auf einer Meereswelle, ein armes, verlorenes Kind, das Schiffbruch gelitten. Dann kam es mir wieder vor, als befinde sich die ganze Menschheit auf einer großen Flucht, weil sie es auf der Erde nicht mehr aushalten könne, und ich Einzelne, die den allertiefsten Schmerz davongetragen, zog mit, nicht wissend, wohin. Doch ich freute mich, daß es weiter und weiter, und immer vorwärts ging, und das war mir klar, daß ich nie wieder zurück könne und wolle. Hinter mir lag es, wie Todesschauer, wie ein giftspeiender Drache, der an alles Gut und Glück meines Lebens die Kralle gelegt. Und neben mir und um mich her drängte es mich mit immer gewaltsamerer Eile fort, als käme etwas darauf an, daß ich gerettet würde. Da fiel mir auf Einmal, mitten in dieser seltsamsten Verwirrung, die Gestalt meines Vaters ein. Ach, wie lange hatte ich nicht an ihn gedacht, wie war ich, seit jener Kinderfurcht, mit der ich ihm nur angehörte, ihm entrückt und entwachsen! Und doch dünkte es mich, als gewinne ich in diesem Augenblick der Gefahr und des Gedränges, wo ich wie im Wirbelwind ohne Rath und Trost umhergetrieben wurde, an ihm ein festes Bild, an das ich mich halten und fassen könne. Was war mir denn noch übrig geblieben von den Bildern des Lebens? Jedes war zerstört, ausgelöscht, eingeäschert. Ich hatte keine einzige Gestalt mehr in der weiten Wüste der Zukunft, an die ich durch Gefühl oder Natur gewiesen war, als die des Vaters. O es muß etwas ungeheuer Großes sein, wenn ein Mädchen einen Vater hat, der ihre Liebe und ihre Hülfe ist! Und wie mochte es dem alten Vater ergehn? So wogten meine Vorstellungen mit dem mich hin und her drehenden Gewühl auf und nieder.

Endlich fühlte ich, wie ich allmälig dem verworrensten Getümmel entzogen wurde. Schon fernab hinter mir verbrausten die wilden Stimmen des auseinander stiebenden Aufruhrs. Eine kalte Zugluft wehte mich an, ich blickte umher, und fand mich schon in einer einsamen Gasse. Mein Entschluß war gefaßt, und zur Ausführung desselben trat mir plötzlich ein hoher Muth in die Seele. In Dresden konnte ich nicht bleiben, ich mußte fort nach Böhmen, zu den alten geliebten grünen Bergen, in mein altes böhmisches Dorf, in die Hütte des Vaters. Ich befand mich am entlegensten Ende der Pirnaischen Gasse, und eilte, ohne Aufenthalt, dem Thore zu. Ich gedachte nicht, daß die späte Nacht heraufzog, daß ich leicht bekleidet, daß ich ermattet, erschöpft und hülflos war. Mit schnellen Schritten zog ich über die öde, finstere Landstraße hin. Ich hatte eine solche innere Zuversicht auf meinen Plan gesetzt, daß er mich, je weiter ich ging, zu beleben und zu erkräftigen begann. Nicht schreckten mich die Gespenster der nächtlichen Haide, nicht die drohenden Schatten des Wolkenhimmels, nicht die schwarzen Gestalten der Bäume und Sträucher, nicht die in mein Ohr säuselnden und in mein Haar schlagenden Winde. Mit einer mir selbst unbegreiflichen Kraft legte ich, ohne zu rasten, ohne mich umzublicken, die ungeheuersten Strecken Weges zurück. Ich lief wie eine Pilgerin, welche die Buße über Stock und Stein treibt, und die in allen Mühsalen der Flucht ein Heil findet. Endlich, nachdem ich viele Stunden gegangen, sank ich mit völlig aufgelösten Gliedern vor der Schwelle einer Bauerhütte zusammen. Ich konnte nicht weiter, mein Athem ging mir aus in der Brust. Es war noch Licht in der Hütte, und auf mein Seufzen kam die alte Bauerfrau heraus. Sie legte mich in ein großes hohes Bette, in dem mich bis gegen Morgen ein fast todähnlicher Schlaf umfing. Aber ich fühlte mich unbeschreiblich danach erquickt, und meine gesunde tüchtige Natur erwies sich hier in den entscheidendsten Augenblicken von einer siegenden Stärke. Von der Bauerfrau erfuhr ich, daß ich mich hier nur noch eine halbe Stunde von Pirna entfernt befinde. Ich hielt es selbst kaum für glaublich, daß mich in der vorigen Nacht mein fliehender Fuß so weit getragen hatte. Der Frau erzählte ich eine Geschichte, die sie glaubte. Ihr Mann fuhr diesen Morgen nach Tetschen, und nahm mich auf seinem Wagen mit. So gelangte ich wieder nach Böhmen. Von Tetschen ging ich zu Fuß über grüne Feldwege langsam in mein Dorf zurück. Jauchzende Thränen, möcht' ich fast sagen, entstürzten mir, als ich unser kleines Haus wieder erkannte. Den Vater fand ich sehr krank und alt. Er konnte sich gar nicht auf mich besinnen. Und noch heut ist es kaum, als sähe er in mir eine Tochter. –

Doch ich will jetzt jedes weitere Ausmalen unterlassen. Es fehlt mir auch von nun an aller Muth der Farben dazu. Diese Blätter zu schreiben, hat mir ohnehin schon viele Mühe und viele Ueberwindung gekostet, und dann muß ich doch am Ende mit Wehmuth sehen, daß sie eigentlich gar kein Resultat liefern. Mich hat Gott als eine der unverwüstlichen Naturen geschaffen, die ihre Hoffnungen auf das Leben nie aufgeben können, selbst nach der Strandung aller ihrer Güter nicht. Und so sitze ich jetzt hier in einer gänzlich verlorenen und vereinsamten Existenz auf meinem Dorfe, und pflege meinen armen kranken Vater mit so viel Liebe, als ich kann und als er versteht. Schon mehreremal hat die Schwalbe neue Frühlinge gebracht, und im Herbst hat der Kranich meine Wünsche mitgenommen in ferne Länder. Bald lache, bald weine, bald spotte ich, und kann den Sonnenschein nicht fahren lassen aus meinen Gedanken. Ich kann mich an kein unbesonntes Dasein gewöhnen. Darum hoffe ich und hoffe, ich hoffe mit einer wahren Leidenschaft. Denn alle die Seiten, die mein bisheriges Schicksal in mir anrührte, sind noch ungelöst geblieben in meiner jungen Brust. Noch immer falte ich die Kinderhände zu Gott, als müßte ich ihn um das Leben bitten. Und wenn ich an Mellenbergs abgeschiedene Gestalt denke, schlagen ernstredende Stimmen in mir empor, die von unverstandener Liebe und von unverstandener Religion sprechen. Er hatte meine Liebe nicht verstanden, und ich seine Religion nicht. Zuweilen kommt mir dann auch ins Gedächtniß zurück, wie er mir damals den protestantischen Glauben zu erklären unternahm, und es ist mir dann, als warte diese Klarheit, zugleich mit einem zukünftigen Glück, noch in schöner Ferne auf mich. Unverstandene Liebe. Unverstandene Religion. Ist das nicht unendlich viel, was noch gelöst werden muß? Darum hoffe ich. Ich hoffe, ich hoffe! O Gott! O Leben! – –


 


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