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1.
Das Stille-werden vor dem Schönen ist ein tiefes Erwarten, ein Hören-wollen auf die feinsten, fernsten Töne, – wir benehmen uns einem Menschen ähnlich, der ganz Ohr und Auge wird: die Schönheit hat uns Etwas zu sagen, deshalb werden wir stille und denken an Nichts, an was wir sonst denken. Die Stille, jenes Beschauliche, Geduldige ist also eine Vorbereitung, nicht Mehr! So steht es mit aller »Contemplation«,
Aber die Ruhe darin, das Wohlgefühl, die Freiheit von Spannung? Offenbar findet ein sehr gleichmäßiges Ausströmen von unserer Kraft dabei statt: wir passen uns dabei gleichsam den hohen Säulengängen an, in denen wir gehen, und geben unsrer Seele solche Bewegungen, welche durch Ruhe und Anmuth Nachahmungen Dessen sind, was wir sehen. So wie uns eine edle Gesellschaft Inspiration zu edlen Gebärden giebt. (Zuerst Assimilation an das Werk, später Assimilation an dessen Schöpfer, der nur in Zeichen redete!)
2.
Bei der Schönheit bleibt das Auge an der Oberstäche stehn. Aber es muß Schönheit noch in jedem inneren Vorgänge des Leibes geben: alle seelische Schönheit ist nur ein Gleichniß und etwas Oberflächliches gegen diese Menge von tiefen Harmonien.
3.
Seit Kant ist alles Reden von Kunst, Schönheit, Erkenntniß, Weisheit vermanscht und beschmutzt durch den Begriff »ohne Interesse«.
Mir gilt als schön (historisch betrachtet): was an den verehrtesten Menschen einer Zeit sichtbar wird, als Ausdruck des Verehrungs- Würdigsten.
4.
Vom Ursprung der Kunst. – Die Fähigkeit, zu lügen und sich zu verstellen, am längsten entwickelt: Gefühl der Sicherheit und der geistigen Überlegenheit dabei beim Täuschenden. Bewunderung des Zuhörers: beim Erzähler, wie als ob er dabei gewesen wäre. Ebenso Sicherheit des Zuhörers, zu wissen, daß es Täuschung ist und daß diese gefährliche Kunst nicht zu seinem Schaden geübt wird. Bewunderung übermenschlicher Beihülfe. – Beim Dichter häufig Entfremdung seiner Person: er fühlt sich »verwandelt«. Ebenso beim Tänzer und Schauspieler, mit nervösen Krisen, Halluzinationen u. s. w. Künstler auch jetzt noch lügenhaft und gleich Kindern. Unfähigkeit, zwischen »wahr« und »Schein« zu scheiden.
5.
Der Schauspieler hat das Gefühl nicht, das er darstellt. Er wäre verloren, wenn er es hätte.
6.
Manche der ästhetischen Werthschätzungen sind fundamentaler, als die moralischen, z. B. das Wohlgefallen am Geordneten, Übersichtlichen, Begrenzten, an der Wiederholung, – es sind die Wohlgefühle aller organischen Wesen im Verhältnis; zur Gefährlichkeit ihrer Lage, oder zur Schwierigkeit ihrer Ernährung. Das Bekannte thut wohl, der Anblick von Etwas, dessen man sich leicht zu bemächtigen hofft, thut wohl u. s. w. Die logischen, arithmetischen und geometrischen Wohlgefühle bilden den Grundstock der ästhetischen Werthschätzungen: gewisse Lebensbedingungen werden als so wichtig gefühlt und der Widerspruch der Wirklichkeit gegen dieselben so häufig und groß, daß Lust entsteht beim Wahrnehmen solcher Formen.
7.
Die Verfeinerung der Grausamkeit gehört zu den Quellen der Kunst.
8.
Das Urtheil »angenehm«, »unangenehm« (vgl. Musik) wechselt und formirt sich nach Dem, was wir als »gesetzlich«, vernünftig, sinnvoll, bedeutsam empfinden.
9.
Der erste Sinnen-Eindruck wird bearbeitet vom Intellekt: vereinfacht, nach früheren Schematen zurechtgemacht, die Vorstellung der Erscheinungswelt ist als Kunstwerk unser Werk. Aber das Material nicht. – Kunst ist eben Das, was die Hauptlinien unterstreicht, die entscheidenden Züge übrig behält, Vieles wegläßt. Dies absichtliche Umgestalten in etwas Bekanntes, dies Fälschen –
»Historischer Sinn« ist dasselbe: ist den Franzosen gut gelehrt durch Taine, die Hauptthatsachen voran ( Rangordnung der Fakta feststellen ist das Produktive des Historikers). Das Nachfühlen-können, die Impression haben ist freilich die Voraussetzung: deutsch.
10.
Das Kunstwerk als ein Zeugniß unfrei Lust an der Vereinfachung, an dem Fort-Schaffen durch Concentration unter Ein Gesetz.
11.
Die Identität im Wesen des Eroberers, Gesetzgebers und Künstlers, – das Sich-hinein-bilden in den Stoff: höchste Willenskraft; ehemals sich als »Werkzeug Gottes« fühlend, so unwiderstehlich sich selber erscheinend. Höchste Form des Zeugungs-Triebes und zugleich der mütterlichen Kräfte. Die Umformung der Welt, um es in ihr aushalten zu können – ist das Treibende: folglich als Voraussetzung ein ungeheures Gefühl des Widerspruchs. Bei den Künstlern genügt schon, sich mit Bildern und Abbildern davon zu umgeben, z. B. Homer unter den »erbärmlichen Sterblichen«,
Das »Los-sein von Interesse und ego« ist Unsinn und ungenaue Beobachtung: – es ist vielmehr das Entzücken, jetzt in unserer Welt zu sein, die Angst vor dem Fremden loszusein!
12.
– Dagegen: das Objekt, in der ästhetischen Betrachtung, ist durch und durch gefälscht.
»Reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniß« – durchaus nicht »Erkenntniß«!
Der Wille, der alles Das unterstreicht (und das Übrige eliminirt), was ihm an einem Objekte dazu dient, mit sich selbst zufrieden und harmonisch zu sein.
Die Erdichtung und Zurechtmachung einer Welt, bei der wir selbst, in unsern innersten Bedürfnissen, uns bejahen. Farben, Töne, Gestalten, Bewegungen, – unbewußtes Gedächtniß thätig, in dem nützliche Eigenschaften dieser Qualitäten (oder Assoziationen) erhalten bleiben.
Eine im höchsten Grad interessirte, und rücksichtslos interessirte Zurechtmachung der Dinge. Eine wesentliche Fälschung, eine Ausschließung gerade des bloß feststellenden, erkennenden, objektiven Sinnes. Das Vereinfachen, Hervorheben des Typischen; Genuß an der Überwältigung durch Hineinlegen eines Sinnes.
Das Wegdenken aller schädigenden und feindseligen Faktoren im Angeschauten (z. B. einer Landschaft, eines Gewitters). Interesse für die Ursachen und das Typische (Dominirende).
– Der ästhetische Zuschauer gestattet ein Überwältigen, und thut das Gegentheil von Dem, was er sonst gegen das von Außen Kommende thut, – er hängt sein Mißtrauen aus: keine Defensive; ein Ausnahmezustand: das zutrauende, ehrfurchtsvolle, liebevolle Empfangen.
13.
Mittheilung von Zuständen, – da reicht die Prosa lange nicht aus; – die Wissenschaft aber kann nur den wissenschaftlichen Zustand mittheilen und soll nichts Anderes!!
Von der Vielheit der Sprachen (durch Bilder, Töne) als Mitteln des volleren Menschen, sich mitzutheilen.
14.
Der Genuß an Formen in den bildenden Künsten: sie theilen einen Zustand des Künstlers mit (ruhig-verehrend). Der Musiker ist von den Affekten bewegt, ohne daß er Objekte dazu sieht – und theilt seinen Zustand mit: viel umfänglicher als die Zustände des Malers.
15.
Die Musik offenbart nicht das Wesen der Welt und ihren »Willen«, wie es Schopenhauer behauptet hat (der sich über die Musik betrog wie über das Mitleiden, und aus dem gleichen Grunde, – er kannte beide zu wenig aus Erfahrung –): die Musik offenbart nur die Herrn Musiker! Und sie wissen es selber nicht! – Und wie gut vielleicht, daß sie es nicht wissen! –
16.
Ich halte, mit Doudan, die große Mehrzahl der Musiker für charlatans und auch für dupes.
– chantaient déjà, faute d'idées.
17.
Es giebt
18.
Es ist sehr interessant, einmal Menschen ohne Zügel und Grenze zu sehn: fast alle höheren Menschen (wie Künstler) fallen in irgend eine Unterwerfung zurück, sei es das Christenthum oder die Vaterländerei.
19.
Die Künstler fangen an, ihr Werk zu schätzen und zu überschätzen, wenn sie aufhören, Ehrfurcht vor sich selber zu haben. Ihr rasendes Verlangen nach Ruhm verhüllt oft ein trauriges Geheimniß: das Werk gehört nicht zu ihrer Regel, sie fühlen es als ihre Ausnahme. Vielleicht auch wollen sie, daß ihr Werk Fürsprache für sie einlege, vielleicht, daß Andere sie über sie selber täuschen. Endlich: vielleicht wollen sie Lärm in sich, um sich selber nicht mehr zu »hören«.
20.
Der große Landschaftsmaler Turner, der, statt zu den Sinnen, zur Seele und zum Geiste reden will, malt philosophische und humanitäre Epopeen. Er giebt sich für den Ersten der Menschen, und starb toll. »Inmitten eines Sturmes, die Sonne in den Augen, den Schwindel im Kopf« – so fühlt sich der Zuschauer. »Infolge der tiefen Aufmerksamkeit auf das Moralische am Menschen ist seine optische Sensibilität désaccordée. Unangenehm für's Auge! Übertrieben, brutal, schreiend, hart, dissonant.« (Taine).
Ingres: l'inventeur au XIX. siècle de la photographie en couleur pour la reproduction des Pérugin et des Raphaël.
Delacroix: c'est l'antipôle – Bild der décadence dieser Zeit, le gâchis, la confusion, la littérature dans la peinture, la peinture dans la littérature, la prose dans les vers, les vers dans la prose, les passions, les nerfs, les faiblesses de notre temps, le tourment moderne. Des éclairs du sublime dans tout cela. (Delacroix eine Art Wagner.)
21.
Die Deutschen haben keine Cultur: sie sind nach wie vor von Paris abhängig: – die Ursache ist, sie haben noch keinen Charakter.
Unsere großen Menschen bezeichnen keine Rasse, sondern Einzelne. Was ist aber Das, was ich ehemals ausnahm und worauf ich Hoffnungen gründete, die deutsche Musik? –
22.
Die Musik als Nachklang von Zuständen, deren begrifflicher Ausdruck Mystik war, – Verklärungs-Gefühl des Einzelnen, Transfiguration. Oder: die Versöhnung der inneren Gegensätze zu etwas Neuem, Geburt des Dritten.
23.
Musik und ihre Gefährlichkeit: – ihre Schwelgerei, ihre Auferweckungskunst für christliche Zustände, vor Allem für jene Mischung von versetzter Sinnlichkeit und Gebets-Brünstigkeit (Franz von Assisi) – geht Hand in Hand mit der Unsauberkeit des Kopfes und der Schwärmerei des Herzens; zerbricht den Willen, überreizt die Sensibilität, – die Musiker sind geil.
NB. Ursachen (innere Zustände), aus denen die Kunst wächst: und, sehr verschieden davon, die Wirkungen.
24.
Kant: »Der Musik hängt ein gewisser Mangel an Urbanität an«, »sie drängt sich gleichsam auf«, »sie thut der Freiheit Anderer Abbruch«.
Die Musik und die Farbenkunst bilden eine eigene Gattung unter dem Namen des »schönen Spiels der Empfindungen«.
Malerei und Gartenkunst zu einander gesellt.
25.
Die vorletzten Jahrhunderte.– Deutschland hat erst in dem 17. und 18. Jahrhundert seine eigenste Kunst, die Musik, auf die Höhe gebracht: man vergebe es einem mitunter melancholischen Beobachter, wenn er die deutsche Musik des 19. Jahrhunderts auch nur als eine glänzende, vielfache und gelehrte Form des Verfalls zu erkennen vermag. Es hat in denselben vielverlästerten Jahrhunderten ebenfalls in den bildenden Künsten eine verschwenderische Lust und Kraft gezeigt: der deutsche Barockstil in Kirche und Palast gehört als Nächstverwandter zu unsrer Musik, – er bildet im Reiche der Augen dieselbe Gattung von Zaubern und Verführungen, welche unsere Musik für einen anderen Sinn ist. Zwischen Leibniz und Schopenhauer (geboren 1788) hat Deutschland den ganzen Kreis origineller Gedanken ausgedacht, also ebenfalls innerhalb jener Jahrhunderte: –und auch diese Philosophie, mit ihrem Zopf und Begriffs-Spinngewebe, ihrer Geschmeidigkeit, ihrer Schwermuth, ihrer heimlichen Unendlichkeit und Mystik gehört zu unsrer Musik und ist eine Art Barocco im Reiche der Philosophie.
26.
Die Vertrauensseligkeit des vorigen Jahrhunderts. Ducis. Zärtlichkeit, Schwung, Delikatesse – Beethoven.
Das Vertrauen in die Weltordnung (»in Gott«) als Ausfluß nobler Gefühle.
Mozart – städtisch, sozial, höfisch.
Haydn ländlicher, vielleicht Zigeunerblut (schwarz); »Heide« ( paganus)?
27.
Beethoven gehört zu Rousseau und zu jener humanitären Strömung, welche der Revolution theils vorauslief, theils verklärend nachlief, noch mehr aber zu dem Hauptereigniß des letzten Jahrtausends, dem Erscheinen Napoleon's.
Mozart die Gesellschaft des Rokoko-Zeitalters voraussetzend.
28.
Brahms – kein »Ereigniß«, keine Ausnahme, kein Riß der Kette vor Wagner, vielmehr ein Ring mehr. Wenn man von Dem absieht, was er gleichsam einem gastfreundlichen Genius fremder Arten und Menschen gelegentlich geopfert hat – auch Opfer der Pietät gegen große Lehrer, alte und neue, hinzugerechnet – so ist er der Musiker, welcher bisher allein auf die Bezeichnung »der norddeutsche Musiker« Anspruch hat.
29.
Wie heute die brave Mittelmäßigkeit in Deutschland sich bei der Musik ihres Brahms wohl, nämlich verwandt fühlt!
30.
Die nordische Unnatürlichkeit: Alles mit silbernen Nebeln überzogen, man muß künstlich erst zum Wohlgefühle kommen; die Kunst ist dort eine Art Ausweichen vor sich selber. Ach, diese blasse Freude, dies Oktober-Licht auf allen Freuden!
31.
Die russische Musik bringt mit einer rührenden Einfalt die Seele des Muschik, des niederen Volkes an's Licht: Nichts redet mehr zu Herzen, als ihre heiteren Weisen, – die absolut traurige Weisen sind. Ich würde das Glück des ganzen Westens eintauschen gegen die russische Art, traurig zu sein. – Aber wie kommt es, daß die herrschenden Kasten Rußlands nicht in seiner Musik vertreten sind? Genügt es, zu sagen »böse Menschen haben keine Lieder«?
32.
Es gab ein Jahrhundert lang nur einen Gegensatz von französischer und italienischer Musik.
Im Kampfe Gluck's mit Piccini verschärfte er sich und kam auf seine Spitze: Gluck wurde hierbei durchaus als Vertreter des französischen Geschmacks empfunden – als Vertreter des Vornehmen, Pomphaften und Rationalistischen.
Die Deutschen als Musiker haben bald nach Frankreich, bald nach Italien hingehorcht; einen eigenen deutschen Geschmack in der Musik giebt es auch heute noch nicht.
Es scheint mir, daß Wagner noch einmal den französischen Geschmack zum Übergewicht über den italianisirenden gebracht hat (d. h. über Mozart, Haydn, Rossini, Bellini, Mendelssohn), aber es ist der Geschmack Frankreichs von 1830: die Litteratur Herr geworden über die Musik wie über die Malerei: »Programm-Musik«, das » sujet« voran!
33.
Wie die Pasta einmal gegen Mérimée bemerkte: »Man hat seit Rossini keine Oper gemacht, welche Einheit hätte, und wo die Stücke alle zusammenhalten. Das, was Verdi z. B. macht, gleicht alles einer Harlekins-Jacke.«
34.
Unter guten Musikern gilt Verdi für reich, gegen Wagner gerechnet: der Gründe hatte, sparsam zu sein und seine »Erfindungen« gut »anzulegen«, Wucher mit »Leitmotiven« zu treiben und sein »Gold« bei sich zu behalten, daß man daraufhin einen tausendfach zu großen Credit gewährte. Hat es Wagner den Juden abgelernt?
35.
Rossini, nach der ersten Vorstellung der Hugenotten, wurde gefragt: »Nun, Maestro, was halten Sie von dieser Musik?« –» Musik? ... Ich habe Nichts davon gehört.«
36.
Über das »Genie«. Wie wenig Begabung z. B. bei Richard Wagner! Gab es je einen Musiker, der in seinem 28. Jahre so arm war (nicht so unentwickelt, unaufgeschlossen, sondern so arm), daß er auf Meyerbeer neidisch war – so arg neidisch, um sich sein Leben lang darüber zu ärgern? um folglich, mit der Folgerichtigkeit »schöner Seelen«, es ihm sein Leben lang nachzutragen? Andererseits lernte man, wie Kant mit Recht Fleiß und Beharrlichkeit als Das rühmt, was u. s. w.
37.
[Die erfinderischen und bahnbrechenden Geister in den Wissenschaften, die sogenannten »großen Köpfe« – urtheilt Kant – sind spezifisch vom Genie verschieden: was sie entdeckt und erfunden haben, hätte auch durch Fleiß und Beharrlichkeit können gelernt werden und ist vollständig begriffen und gelernt worden. In Newton's Werk ist nichts Unlernbares; Homer ist nicht ebenso begreiflich als Newton! » Im Wissenschaftlichen also ist der größte Erfinder vom mühseligsten Nachahmer und Lehrlinge nur dem Grade nach verschieden.«
Psychologischer Idiotismus!!]
38.
Wie Winckelmann am Laokoon, gleichsam am Ende des Alterthums, den Sinn für dasselbe sich erwarb, so Richard Wagner an der Oper, der schlechtesten aller Kunstgattungen, den Sinn für Stil, d. h. Einsicht, daß es nicht möglich ist, Künste zu isoliren.
Der demagogische Charakter der Kunst Wagner's: zuletzt mit der Consequenz, daß er sich vor Luther beugte, um Einfluß zu bekommen.
Die deutsche Musik steht nicht außerhalb der Cultur-Bewegung: in Mozart ist sehr viel Rokoko und jene Zärtlichkeit des achtzehnten Jahrhunderts. In Beethoven die Luft von Frankreich her, die Schwärmereien, aus denen die Revolution entsprang: immer Nachklang, Ausklang. Wagner und die Romantik.
Wie steht es mit dem Zusammenhang der Musik und der bildenden Kunst? Und der Poesie? Verhältnismäßige Einsamkeit des Musikers: er lebt weniger mit, seine Erregungen sind Nachklänge früherer Gefühle.
Es fehlt immer noch der große Stil in der Musik; und es ist dafür gesorgt, daß er jetzt nicht wächst!
39.
Die Größe eines Musikers mißt sich nicht nach den schönen Gefühlen, die er erregt – das glauben die Weiber –: sie mißt sich nach der Spannkraft seines Willens, nach der Sicherheit, mit der das Chaos seinem Befehl gehorcht und Form wird, nach der Nothwendigkeit, welche seine Hand in eine Abfolge von Formen legt. Die Größe eines Musikers – mit Einem Worte – wird gemessen an seiner Fähigkeit zum großen Stil.
40.
Der große Stil besteht in der Verachtung der kleinen und kurzen Schönheit, ist ein Sinn für Weniges und Langes.
41.
Der Künstler und der Wille zur Macht. Der Eindruck von Neutralität ist bezaubernd für Heerdentiere. – Palazzo Pitti und Phidias. Kunst, je nach der Moral, für Heerde oder Führer.
42.
Vor dem Kunstwerk kann man sich gehn lassen. Vor dem großen Menschen nicht! Daher die Pflege der Künste bei den Unterworfenen, die sich eine Welt der Freiheit schaffen; – die Künstler sind meistens Solche, welche nicht Herrscher sind.
Die Herrscher lieben die Kunst, weil sie Abbilder von sich wollen.
43.
Ich stelle das Problem von der Rangordnung des Künstlers neu; zugleich bilde ich den Künstler so hoch ich kann. Thatsächlich finden wir alle Künstler unterworfen unter große geistige Bewegungen, nicht deren Leiter: oft Vollender, z. B. Dante für die katholische Kirche, Richard Wagner für die romantische Bewegung, Shakespeare für die Freigeisterei Montaigne's.
Die höheren Formen, wo der Künstler nur ein Theil des Menschen ist – z. B. Plato, Goethe, Giordano Bruno, Diese Formen gerathen selten.
44.
Vielheit der Eigenschaften und deren Band – mein Gesichtspunkt. Die Doppel-Zwillings-Kräfte, z. B. bei Wagner Poesie und Musik; bei den Franzosen Poesie und Malerei; bei Plato Poesie und Dialektik u. s. w. Die Vereinzelung einer Kraft ist eine Barbarei, – »umgekehrte Krüppel«.
45.
Zusammenhang des Ästhetischen und Sittlichen: der große Stil will Einen starken Grundwillen und verabscheut am meisten die Zerfahrenheit.
Der Tanz und eine leichte Entwicklung aus einer Phase in die andere ist äußerst gefährlich, – ein Schwertertanz. Denn die große Consequenz und Hartnäckigkeit geben dem Individuum sonst die Dauerhaftigkeit.
Am schwersten vereinigt: Ein Wille, Stärke des Grundgefühls und Wandel der Bewegungen (Verwandlungen).