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b) Zur Geburt der Tragödie.

1. Vorstufen zum » Versuch einer Selbstkritik«

(Frühjahr 1886).

 

35.

Im Anfang des Jahres 1872 erschien in Deutschland ein Buch, daß den befremdlichen Titel führte »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« und nicht bloß durch seinen Titel reichlich Anstoß zu Verwunderung und Neugierde gab. Man erfuhr, daß sein Urheber ein junger Philologe sei, insgleichen daß gegen ihn von Seiten philologischer Handwerker, und vielleicht sogar auf Anregung irgend eines philologischen Schulhauptes und Kuhhirten, – –

– ein Buch voll Jugend und Ungeschick, schwül, übervoll, aussi trop allemand, – in dem sich fast entgegengesetzte Begabungen drängten und stießen.

– mit einer Geistigkeit, welche auf die Sinne wirkt,

– man gesteht sich mit einigem Schauder ein (vorausgesetzt daß man an der Haut empfindlich ist –), daß hier Jemand von der unheimlichen Welt der dionysischen Dinge wie aus Erfahrung redet, wie nach großer Nähe und Berührung zurückgekehrt aus dem fremdesten aller Länder, nicht alles sagend, nicht alles verschweigend, unter die Kutte und Kapuze des Gelehrten versteckt und nicht genug versteckt.

– ein unabhängiges selbstgenugsames Buch, dem die Zeichen einer mystischen Seele aufgeschrieben waren, ohne Absicht auf Beifall.

– Richard Wagner errieth aus der Tiefe jenes wahrsagerischen Instinktes heraus, der so sehr in Widerspruch zu seiner mangelhaften und zufälligen Bildung stand, daß er jenem verhängnißvollen Menschen begegnet sei, der das Schicksal der deutschen (und nicht nur der deutschen) Cultur in den Händen habe.

 

36.

Zur Geburt der Tragödie.

Ein Buch aus lauter Erlebnissen über ästhetische Lust- und Unlustzustände aufgebaut, mit einer Artisten-Methaphysik im Hintergrunde. Zugleich ein Romantiker-Bekenntniß ( der Leidendste verlangt am tiefsten nach Schönheit, – er erzeugt sie); endlich ein Jugend-Werk voller Jugend-Muth und -Melancholie.

Psychologische Grunderfahrungen: mit dem Namen » apollinisch« wird bezeichnet das entzückte Verharren vor einer erdichteten und erträumten Welt, vor der Welt des schönen Scheins als einer Erlösung vom Werden: mit dem Namen des Dionysos wird andrerseits das Werden aktiv gefaßt, subjektiv nachgefühlt, als wüthende Wollust des Schaffenden, der zugleich den Ingrimm des Zerstörenden kennt.

Antagonismus dieser beiden Erfahrungen und der ihnen zu Grunde liegenden Begierden. Die erstere will die Erscheinung ewig: vor ihr wird der Mensch stille, wunschlos, meeresglatt, geheilt, einverstanden mit sich und allem Dasein; die zweite Begierde drängt zum Werden, zur Wollust des Werden-machens, d. h. des Schaffens und Vernichtens. Das Werden, von Innen her empfunden und ausgelegt, wäre das fortwährende Schaffen eines Unbefriedigten, Überreichen, Unendlich-Gespannten und -Gedrängten, eines Gottes, der die Qual des Seins nur durch beständiges Verwandeln und Wechseln überwindet: – der Schein als seine zeitweilige, in jedem Augenblick erreichte Erlösung; die Welt als die Abfolge göttlicher Visionen und Erlösungen im Scheine.

Diese Artisten-Metaphysik stellt sich der einseitigen Betrachtung Schopenhauer's entgegen, welcher die Kunst nicht vom Künstler aus, sondern vom Empfangenden aus allein zu würdigen versteht: weil sie Befreiung und Erlösung im Genuß des Nicht-Wirklichen mit sich bringt, im Gegensatz zur Wirklichkeit (die Erfahrung eines an sich und seiner Wirklichkeit Leidenden und Verzweifelnden) – – Erlösung in der Form und ihrer Ewigkeit (wie auch Plato es erlebt haben mag: nur daß dieser auch im Begriff schon den Sieg über seine allzu reizbare und leidende Sensibilität genoß). Dem wird die zweite Thatsache, die Kunst vom Erlebniß des Künstlers aus, entgegengestellt, vor Allem des Musikers: die Tortur des Schaffen-müssens, als dionysischer Trieb.

Die tragische Kunst, an beiden Erfahrungen reich, wird als Versöhnung des Apoll und Dionysos bezeichnet: der Erscheinung wird die tiefste Bedeutsamkeit geschenkt, durch Dionysos: und diese Erscheinung wird doch verneint, und mit Lust verneint. Dies ist gegen Schopenhauer's Lehre von der Resignation als tragische Weltbetrachtung gelehrt.

Gegen Wagner's Theorie, daß die Musik Mittel ist, und das Drama Zweck.

Ein Verlangen nach dem tragischen Mythus als einer abschließenden Glocke, worin Wachsendes gedeiht (nach »Religion«, und zwar pessimistischer Religion).

Mißtrauen gegen die Wissenschaft: obwohl ihr augenblicklich lindernder Optimismus stark empfunden ist; »Heiterkeit« des theoretischen Menschen.

Tiefer Widerwille gegen das Christentum: warum? Die Entartung des deutschen Wesens wird ihm zugeschoben.

Nur ästhetisch giebt es eine Rechtfertigung der Welt. Gründlicher Verdacht gegen die Moral (– sie gehört mit in die Erscheinungswelt).

Das Glück am Dasein ist nur möglich als Glück am Schein (– das »Sein« als die Erdichtung des am Werden Leidenden).

Das Glück am Werden ist nur möglich in der Vernichtung des Wirklichen, des »Daseins«, des schönen Anscheins, in der pessimistischen Zerstörung der Illusion: – in der Vernichtung auch des schönsten Scheins kommt das dionysische Glück auf seinen Gipfel.

 

37.

»Wie weit reicht die Kunst in's Innere der Welt? Und giebt es abseits vom ›Künstler‹ noch künstlerische Gewalten?« Diese Frage war, wie man weiß, mein Ausgangspunkt: ich sagte Ja zu der zweiten Frage; und zur ersten: »die Welt selbst ist nichts als Kunst«. Der unbedingte Wille zum Wissen, zur Wahr- und Weisheit erschien mir in einer solchen Welt des Scheins als Frevel am metaphysischen Grundwillen, als Wider-Natur: und billigerweise wendet sich die Spitze der »Weisheit« gegen den Weisen (– insofern Weisheit durch die Vision hindurch und hinter der Illusion bleiben will). Das Widernatürliche der Weisheit offenbart sich in ihrer Kunstfeindlichkeit: erkennen wollen, wo der Schein eben die Erlösung ist, – welche Umkehrung, welcher Instinkt zum Nichts!

 

38.

Ich fieng an mit einer metaphysischen Hypothese über den Sinn der Musik: aber zu Grunde lag eine psychologische Erfahrung, welcher ich noch keine genügende historische Erklärung unterzuschieben wußte. Die Übertragung der Musik in's Metaphysische war ein Akt der Verehrung und Dankbarkeit: im Grunde haben es alle religiösen Menschen bisher so mit ihrem Erlebnis; gemacht. – Nun kam die Kehrseite: die unleugbar schädliche und zerstörerische Wirkung eben dieser verehrten Musik auf mich – und damit auch das Ende ihrer religiösen Verehrung. Damit giengen mir auch die Augen auf für das moderne Bedürfnis; nach Musik (welches gleichzeitig in der Geschichte erscheint mit dem zunehmenden Bedürfnis; nach Narcoticis). Gar das »Kunstwerk der Zukunft« erschien mir als Raffinement des Aufregungs- und Betäubungsbedürfnisses, wobei alle Sinne zugleich ihre Rechnung finden wollen, eingerechnet der idealistische, religiöse, hypermoralische Widersinn, – als eine Gesammt-Exzitation der ganzen nervösen Maschinerie. Das Wesen der Romantik gieng mir auf (– der Mangel einer fruchtbaren Art von Menschen ist da zeugend geworden), zugleich die Schauspielerei der Mittel, die Unechtheit und Entlehntheit aller einzelnen Elemente, der Mangel an Probität der künstlerischen Bildung, die abgründliche Falschheit dieser modernsten Kunst: welche wesentlich Theaterkunst sein möchte. Die psychologische Unmöglichkeit dieser angeblichen Helden- und Götterseelen, welche zugleich nervös, brutal und raffinirt sind gleich den Modernsten unter den Pariser Malern und Lyrikern. Genug, ich stellte sie mit hinein in die moderne »Barbarei«. – Damit ist über das Dionysische Nichts gesagt. In der Zeit der größten Fülle und Gesundheit erscheint die Tragödie, aber auch in der Zeit der Nerven-Erschöpfung und -Überreizung. Entgegengesetzte Deutung. – Bei Wagner ist bezeichnend, wie er schon dem Ring des Nibelungen einen nihilistischen (ruhe- und endesüchtigen) Schluß gab.

 

39.

Dionysisch. Welche unglückliche Schüchternheit, von einer Sache als Gelehrter zu reden, von der ich hätte als »Erlebter« reden können. Und was geht Den, der zu dichten hat, die »Ästhetik« an! Man soll sein Handwerk treiben und die Neugierde zum Teufel jagen!

2. Vorstufen zu einer Charakteristik der Geburt der Tragödie aus dem Herbst 1888.

 

40.

Über das Verhältniß der Kunst zur Wahrheit bin ich am frühesten ernst geworden: und noch jetzt stehe ich mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt. Mein erstes Buch war ihm geweiht; die Geburt der Tragödie glaubt an die Kunst auf dem Hintergrund eines anderen Glaubens: daß es nicht möglich ist mit der Wahrheit zu leben: daß der »Wille zur Wahrheit« bereits ein Symptom der Entartung ist ...

Ich stelle die absonderlich düstere und unangenehme Conception jenes Buches hier noch einmal hin. Sie hat den Vorrang vor anderen pessimistischen Conceptionen, daß sie unmoralisch ist: – sie ist nicht wie diese von der Circe der Philosophen, von der Tugend, inspirirt. –

 

41.

Es giebt zwei Zustände, in denen die Kunst selber als eine Art Naturgewalt im Menschen auftritt: einmal als Vision, andrerseits als der dionysische Orgiasmus. Dieselben sind physiologisch vorgebildet im Traum und im Rausch: ersterer als Einübung jener Kraft zur Vision verstanden, als eine Lust am Gestalten-sehen, Gestalten-bilden.

Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, »metaphysischer« als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein. Die Lust ist ursprünglicher als der Schmerz; der letztere ist selbst nur die Folge des Willens zur Lust (– zum Schaffen, Gestalten, Zu-Grunde-richten, Zerstören) und, in der höchsten Form, eine Art der Lust ...

 

42.

Was muß, unter solcher Voraussetzung, aus der Wissenschaft werden? Wie steht sie da? In einem bedeutenden Sinne beinahe als Gegnerin der Wahrheit: denn sie ist optimistisch, denn sie glaubt an die Logik. Es wird physiologisch nachgerechnet, daß es die Niedergangszeiten einer starken Rasse sind, wo der Typus des wissenschaftlichen Menschen in ihr reif wird. Die Kritik des Sokrates macht den Haupttheil des Buches aus: Sokrates als Gegner der Tragödie, als Auflöser jener dämonisch-prophylaktischen Instinkte der Kunst: der Sokratismus als das große Mißverständniß von Leben und Kunst: die Moral, Dialektik, Genügsamkeit des theoretischen Menschen eine Form der Ermüdung; die berühmte griechische Heiterkeit nur eine Abendröthe ... Die starken Rassen, solange sie noch reich und überreich an Kraft sind, haben den Muth dazu, die Dinge zu sehn, wie sie sind: tragisch ... Für sie ist die Kunst mehr als eine Unterhaltung und Ergötzlichkeit: sie ist eine Cur ...

Das Buch lehrt, »allen modernen Ideen und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz«, daß die Griechen – p. 7 der Vorrede.

 

43.

Das Wesentliche an dieser Conception ist der Begriff der Kunst im Verhältniß zum Leben: sie wird – ebenso psychologisch als physiologisch – als das große Stimulans aufgefaßt, als Das, was ewig zum Leben, zum ewigen Leben drängt ...

 

44.

Was das tragische Pathos angeht, so nimmt dies Buch nicht die alten Mißverständnisse des Aristoteles wieder auf.

Das Dionysische als eine Überströmung und Einheit vielfacher, zum Theil schrecklicher Erregungen: als Transfiguration von Wollust und Grausamkeit in's Griechische: Elemente, welche in den orgiastischen Festen –

 

45.

Die neue Conception der Griechen ist das Auszeichnende dieses Buches; wir haben bereits seine beiden andern Verdienste angedeutet – die neue Conception der Kunst, als das große Stimulans des Lebens, zum Leben; insgleichen die Conception des Pessimismus, eines Pessimismus der Stärke, eines klassischen Pessimismus: das Wort klassisch hier nicht zur historischen, sondern zur psychologischen Abgrenzung gebraucht. Der Gegensatz des klassischen Pessimismus ist der romantische, jener, in dem sich die Schwäche, die Ermüdung, die Rassen- décadence in Begriffen und Werthungen formulirt: der Pessimismus Schopenhauers z. B., insgleichen der Alfred de Vigny's, Dostoiewsky's, Leopardi's, Pascal's, der aller großen nihilistischen Religionen (des Brahmanismus, Buddhismus, Christenthums;–sie dürfen »nihilistisch« genannt werden, weil sie alle den Gegensatzbegriff des Lebens, das Nichts, als Ziel, als höchstes Gut, als »Gott« verherrlicht haben).

 

46.

Diese Schrift ist antimodern: sie glaubt nicht an die moderne Kunst, sondern an die moderne Musik, und im Grunde nicht an die moderne Musik überhaupt, sondern nur an Wagner's Musik, ... Und im Grunde vielleicht nicht einmal an Wagner, – es sei denn faute de mieux.

p. 143. »Was wüßten wir sonst zu nennen – heißt es mit einer schmerzlichen Gebärde –, was in der Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur irgend welche tröstliche Erwartung für die Zukunft erwecken könnte?«

(Schopenhauer. Dürer.)

Es glaubt daran, daß eine Musik kommen wird, eine dionysische Musik ...

 

47.

Diese Schrift gebärdet sich deutsch, selbst deutschthümelnd, – sie glaubt selbst noch an den »deutschen Geist« ... Ihre Nuance ist, daß sie deutsch-antichristlich ist. »Das Schmerzlichste, heißt es in ihr auf S. 170, ist für uns die lange Entwürdigung, unter der der deutsche Geist, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer Zwerge lebte.« Diese tückischen Zwerge sind die Priester. – An einer andern Stelle wird die Frage aufgeworfen, ob der deutsche Geist noch stark genug sei, sich auf sich selbst zurückzubesinnen; ob er mit der Ausscheidung fremder Elemente noch Ernst machen könne oder fortfahren werde, sich wie ein sieches, verkümmertes Gewächs in krankhaftem Mühen zu verzehren. In diesem Buche gilt die Überpflanzung eines tief widerdeutschen Mythus, des christlichen, in's deutsche Herz als das eigentlich deutsche Verhängniß.

 

48.

Dies Buch ist antipessimistisch: es lehrt eine Gegenkraft gegen alles Neinsagen und Neinthun, ein Heilmittel der großen Müdigkeit.

 

49.

Was das Buch auszeichnet: die Spontaneität seiner psychologischen Vision, eine schwindelerregende Weite der Umschau, des Erlebten, Errathenen, Erschlossenen, die Furchtlosigkeit vor der Härte und gefährlichen Consequenz.


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