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e) Zur Morgenröthe.

 

75.

Was vielleicht am schwersten an diesem schwerverständlichen Buche zu begreifen ist, das ist die Ironie des Gegensatzes zwischen seinem Thema, einer Auflösung und Aufdröselung der moralischen Werthe, – und seinem Tone, dem der höchsten, mildesten, weisesten Gelassenheit: ein beständiger Widerspruch, an dem ein Schwer-Leidender, ein dem Leben Abgewandter sich wie an seinem letzten Muthwillen ergötzte.

 

76.

Vielleicht giebt es ein paar Menschen in Europa, auch in Deutschland, welche an das Problem dieses Buches reichen, und nicht nur mit ihrer Neugierde, nicht nur mit den Fühlhörnern ihres verwöhnten Verstandes, ihrer errathenden Ein- und Nachbildungskraft, ihrem »historischen Sinn« zumal, sondern mit der Leidenschaft des Entbehrenden: deren Seele Höhe genug hat, um meine Conzeption des »freien Geistes« als ein Ausdrucksmittel, als eine Feinheit, wenn man will, als eine Bescheidenheit zu verstehn. Diese werden sich nicht über meine Dunkelheit beklagen.

 

77.

– Und vielleicht habe ich ein Recht, über diese Zustande mitzureden, weil ich ihnen nicht nur zugesehen habe.

Ich zweifle nicht: es war der Zustand des Weisen, wie ihn das Volk sich denkt, über den ich damals mit einer ironischen Selbst-Überlegenheit hinweg lebte: über das Abseits und Jenseits des »Rein-Erkennenden«, dem der gute Wille zur That, zur Zeugung, zum Schaffen in jedem Sinne abhanden gekommen ist. Wer fühlt mir das wunderliche Glück jener Zeit nach, in der das Buch entstand! die sublime Bosheit einer Seele, welche sich beständig über das Volksideal des Weisen lustig macht!

 

78.

Meinem Geschmacke von Heute sagt etwas Anderes zu: der Mensch der großen Liebe und der großen Verachtung, den seine überflüssige Kraft aus allem »Abseits« und »Jenseits« mittenhinein in die Welt treibt, den die Einsamkeit zwingt, sich Wesen zu schaffen, die ihm gleich sind, ein Mensch mit dem Willen zu einer furchtbaren Verantwortlichkeit, an sein Problem geschmiedet.

 

79.

Mit den bisherigen Moral-Historikern hat es wenig, auf sich: sie stehen gewöhnlich selbst unter dem Kommando einer Moral und thun im Grunde nichts Anderes, als deren Propaganda zu machen. Ihr gewöhnlicher Fehler ist, daß sie die thörichten Meinungen eines Volkes über seine Moral (also über deren Herkunft, Sanktion, Vernünftigkeit) kritisiren und ebendamit glauben, die Moral selbst kritisiert zu haben, welche mit diesem Unkraut von Unvernunft überwachsen ist. Aber der Werth einer Vorschrift »du sollst« ist unabhängig von der Meinung über dieselbe, so gewiß der Werth eines Medikaments unabhängig davon ist, ob ich wissenschaftlich oder wie ein altes Weib über Medizin denke. Sie stehen selbst unter dem Regiment einer Moral, ohne es zu wissen, und thun im Grunde nichts Anderes, als ihrem Glauben an sie zum Siege zu verhelfen: ihre Gründe beweisen nur ihren eigenen Willen, daß das und das geglaubt werde, daß das und das durchaus »wahr« sein solle.]

Oder wiederum sie behaupten irgend einen consensus der Völker, mindestens der zahmen Völker über gewisse Dinge der Moral und schließen daraus auf deren unbedingte Verbindlichkeit, auch für dich und mich: was Beides gleich große Naivetäten sind.

 

80.

Für Jeden, der mit einem großen Fragezeichen wie mit einem Schicksale zusammengelebt hat und dessen Tage und Nächte sich in lauter einsamen Zwiegesprächen und Entscheidungen verzehren, sind fremde Meinungen über das gleiche Problem eine Art Lärm, gegen den er sich wehrt und die Ohren zuhält: überdies gleichsam etwas Zudringliches, Unbefugtes und Schamloses, von Seiten Solcher, welche, wie er glaubt, lein Recht auf ein solches Problem besitzen: weil sie es nicht gefunden haben. Es sind die Stunden des Mißtrauens gegen sich selbst des Mißtrauens gegen das eigne Recht und Vorrecht, wo den einsiedlerisch Liebenden – denn das ist ein Philosoph – zu hören verlangt, was Alles über sein Problem gesagt und geschwiegen wird; vielleicht daß er dabei erräth, daß die Welt voll solcher eifersüchtig Liebenden ist, gleich ihm, und daß alles Laute, Lärmende, Öffentliche, der ganze Vordergrund von Politik, Alltag, Jahrmarkt, »Zeit« nur erfunden zu sein scheint, damit Alles, was heute Einsiedler und Philosoph ist, sich dahinter verstecken könne – als in ihre eigenste Einsamkeit; Alle mit Einem beschäftigt, in Eins verliebt, auf Eins eifersüchtig, gerade auf sein Problem. »Es wird gar nichts Anderes heute gedacht, wo überhaupt gedacht wird« – sagt er sich endlich; »es dreht sich Alles gerade um dies Fragezeichen, Was mir vorbehalten schien, darum bewirbt sich das ganze Zeitalter: es begiebt sich im Grunde gar nichts Anderes: ich selbst – aber was liegt an mir!«


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