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Karl von Österreich wurde Kaiser und König. Alles flog ihm zu.
Karl von Österreich, der Sohn des leichtlebigen, von keiner Moral beschwerten und früh verdorbenen Erzherzogs Otto, hatte alle Wirkungen einer frischen, unverbrauchten Jugend für sich. Nie strahlte sein Antlitz, wenn die leicht eingefangene Menge es sah, anderen Ausdruck, als den eines durchleuchteten Frohvertrauens, sorglose Unbefangenheit schien immer mit ihm, in ihm zu sein, so frisch, so selbstverständlich zur Schau getragen, daß man vor dem wohlgerundeten, meist rosigen Gesicht den Mangel an geistiger Zeichnung übersehen konnte. Er hatte schnelle, ungezwungene Bewegungen. Er liebte, wenn er den Mann an der Front auf die Schulter klopfte – und er klopfte unermüdlich Zehntausenden die Schulter –, die Betonung des Biederen. Etwas vom Kavallerieoffizier, der er in den ersten Jugendjahren gewesen war, haftete noch an seiner ganzen Art. Das Geistige liebte er nicht allzu sehr. Seine Jugend hatte er, der vor Franz Ferdinand zurücktreten mußte, in ziemlicher Zurückgezogenheit verbracht. Die Vorbereitungen für die Aufgabe, die seiner einst auf Habsburgs Thron harrte, betrieb er nicht mit Leidenschaft. Ihm genügte der Bildungsinhalt von fünf Gymnasialklassen, dessen Aneignung zwar willig, doch mühevoll genug gewesen war. Dem Stammbaum hatte er früh Sorge getragen. In seine Frömmigkeit, die ihm die Lebenslust nicht wehrte, paßte ein Sproß aus dem Haus der vertriebenen, katholischen Parma. Prinzessin Zita von Parma war klein, unansehnlich, unkaiserlich in jedem Sinn. Niemand durfte an den aristokratischen, schwermütigen Reiz ihrer Vorgängerin Elisabeth denken. Zita von Parma hatte wenig weibliche Reize. Sie glich einem nichtssagenden kleinen Mädchen. Ihr Haus war verarmt. Ihre Mutter indes, wie sie selbst, von brennendem Ehrgeiz beseelt. Von den Parmas gab es Linien, die zu den Bourbons hinüberführten. Die Träume von Zitas Mutter hatten die Liebeshochzeit ihrer Tochter mit dem Erben Franz Josephs erlebt. Ihre Träume wanderten gelegentlich nach Frankreichs verwaistem Thron hinüber. Sie hatte viele Söhne. Prinzessin Zita war nicht nur fromm erzogen, was so viel bedeutete, daß die Beichtväter bei ihr aus und ein gingen. Es war machiavellistischer Einschlag dabei. Sie hatte vieles gelesen, doch ohne Wahl, oder in der Wahl, die ihre Erzieher ordneten. Sie war im Intellekt stärker, als Karl von Österreich, was weder für den Fürsten, noch für die Fürstin viel besagte. Sie beherrschte den Kaiser schnell und sichtbar. Aber ihre Jugend war schwächer, als die Einschläge von Karls fast echtem Naturburschentum. Der Erzherzogin Zita kostete es einige Anstrengung, so strahlend jugendfrisch zu scheinen wie ihr Gemahl. Strahlen und Leuchten lag ihr nicht, und auch in ihrem Blitzen war nichts von Größe. Ihre Augen waren italienerhaft dunkel, mit einem Stich ins Intrigante, wie die ganze Erscheinung mit verkniffener Schattierung, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, etwas Italienerhaftes in der Auslegung des Volkes hatte. Sie war nie harmlos. Aber sie hatte sich in der Gewalt. Was ihr an heiterer Aufrichtigkeit fehlte, erlernte sie durch wohlgelernte Süße. Sie zwang sich das Lächeln ihrer Stellung ab, die sie, nachdem die Stellung erobert war, zunächst begriff. Karls natürliche Jugend, Zitas zahlenmäßige und unterstrichene Jugend wirkten. Sie wurden Kaiser und Kaiserin. Alles flog ihnen zu.
Im Kriege hatte der Prinz keine Rolle gespielt. Wenn Erzherzog Karl Franz Joseph ins Hauptquartier gekommen war, wenn Freiherr von Conrad ihm im Teschner Schloß begegnete, so schlug der Freiherr mit der zerstreuten Nachlässigkeit, die ihm manchmal eigen war, die Hacken zusammen, grüßte und ging. Der Erzherzog hatte keinen Einfluß, er wußte nichts von Strategie. Aber er war der Thronfolger. Nicht weil der einstige Erbe des Kaisertums volkstümlich werden sollte, wurde die italienische Offensive auf Asiago unternommen; aber als der Angriff auf Asiago losbrach, wurde er an die Spitze einer Gruppe gestellt, auf deren heroenhafte Haltung man zählen konnte, so daß der Thronfolgername in guter Verbindung war und eine dynastische Überlieferung aus der italienischen Jugendzeit Franz Josephs für die eigene Zukunft fortspinnen konnte. Was Erzherzog Karl mit seinem Edelweißkorps in Südtirol zu leisten hatte, war ihm vorgeschrieben; aber den Dynastien sind die Legenden nützlich: die Legende umflocht den jungen Prinzen mit dem Lorbeer, der der Haltung der Truppen und der Führung des Feldzugs gebührte, – die ersten Schranzen flüsterten ihm zu, daß auch das Volk wirklich an die Legende glaube, daß Karl von Österreich wahrhaftig ein Feldherr sei. Hier war zum erstenmal die Verwechslung von Pulverdampf und Weihrauch, hier klang zum erstenmal durch furchtbare Schlachtmusik das Leitmotiv charakterloser Hofmusikanten: Du bist der größte Feldherr! … Du bist der größte Staatsmann! … Du kannst alles! Du weißt alles! Du darfst alles! Ein Boden wurde vorbereitet.
Die neuen russischen Kämpfe des gleichen Jahres sahen Karl Franz Joseph als Kommandanten einiger Armeen. Er hatte eine Heeresgruppe. Mackensens Generalstabschef Seeckt sorgte dafür, daß kein Zwischenfall an der Siebenbürger Front sich ereignete. Der Heeresgruppenkommandant Erzherzog Karl besichtigte indes in der Hauptsache Truppen, unermüdlich und mit einer Ausdauer, die als solche eine Leistung darstellte, mit einer gleichbleibenden, frohen Leutseligkeit in fünf oder sechs, allerdings nie richtig gesprochenen Sprachen, die das Strahlen vom Antlitz des Prinzen immer auf das Antlitz des Geehrten übertrug. Es war ein allgemeines Strahlen, das Erzherzog Karl Franz Joseph hatte. Denn er blickte nie dem Mann ins Auge, mit dem er sprach. Er pflegte stets an jedem vorbeizusehen. Und wenn man auf seine Sprachfertigkeit näher hinhorchte, so fiel es wohl auf, daß er selbst das Deutsche undeutsch sprach. Über seine starken, bauschig aufgeworfenen Lippen floß es weichlich, ohne Artikulation, mit der Belanglosigkeit flacher Menschen, ein wenig mit Wiener Farben, noch mehr mit sächsischen Klängen untermischt, die er vielleicht von seiner Wettiner Mutter Maria Josepha hatte. Hart und entschlossen war nichts an ihm, der für alle eine bequeme Liebenswürdigkeit bereit hatte. Von Zorn sah ihn niemand geschüttelt, oder gar mit einem Beben, wie es Franz Ferdinand bisweilen selbst öffentlich sichtbar gehabt hatte. Wenn Ärger in ihm aufkam, stieg eine leise Röte in sein Gesicht, das bald darauf hochrot zu werden pflegte. Er zog dann die bauschige Lippe ein. Aber er sagte nichts. Den Thronfolger suchte der Ärger auch selten heim. Niemand um ihn spürte Versuchung, den Prinzen zu ärgern, der einmal Kaiser würde. Verstimmungen für Karl von Österreich gab es höchstens, wenn auch ihn die Haltung der deutschen Generale, die Haltung des deutschen Bundesgenossen streifte. Und auch hier wurde Saat für kommende Zeit gestreut: seine Umgebung schürte, übersah keinen Anlaß zu schüren, der oft genug sich bot. Daß man ihm schließlich die deutschen Anekdoten dann täglich brühwarm erzählte, mit denen die deutschen Generale, die deutschen Offiziere, wo es nur anging, die österreichisch-ungarischen Truppen herabsetzten und ins Lächerliche zogen, obwohl der Thronfolger selbst österreichisch-ungarische Truppen befehligte und von Galizien, von Asiago her wußte, wie die Wehrmacht seines künftigen Thrones in Wirklichkeit sich schlug; all das schien Karl Franz Joseph freilich mit einer gewissen Absichtlichkeit zu überhören. Nie sprach er selbst betonte Meinung aus. Selbst die Vertrauten konnten so nicht unbedingt für die Entwicklung sich verbürgen, die sie selbst erhofften, in die sie selbst ihn einzulenken suchten. Sie selbst konnten im Innersten nicht entscheiden, was naturburschenhaft, was phlegmatisch gegenüber Menschheitserschütterungen, was jesuitisch am Gebieter ihrer Zukunft war. Jeder der drei Grundzüge konnte bestimmend für Karls Wesen sein. Vielleicht verband er alle drei. In Teschen gab er sich farblos. Noch wußte niemand dort, wie der Prinz als Kaiser sein werde. Sein Kreis war übrigens verschwiegen, eine einflußlos wartende Gruppe. Da starb Kaiser Franz Joseph.
Als Herrscher überraschte dann Karl vom ersten Stundenschlag seines Regierungsantrittes. Der neue Herr eilte mit neuem Kurs. Die Überlieferung kaiserlicher Zurückhaltung wurde sofort durchbrochen und auf jeglichem Gebiet. Alles wollte Kaiser Karl selbst erkennen, überall begehrte er Einblick und Einspruch, alle Entscheidung sollte fallen durch ihn. Er wollte der Unlauterkeit zu Leibe gehen, Gerechtigkeit war der Schild, den er seinem Herrschertum vorantrug. Er schonte sich nicht. Er war unaufhörlich unterwegs. Er selbst sah sich, als Brennstoffnot die Hauptstadt quälte, die Kohlenlager der Wiener Bahnhöfe an und rechnete dem beinahe aus dem Bett geholten Bürgermeister die Wagen nach, die für die Kohlenfuhren zur Verfügung ständen. Er gab überdies Pferde aus den Hofstallungen zur Versorgung der Bevölkerung her. In Cliquenwirtschaft, in Wespennester, in denen er Bestechung witterte, fuhr er ohne Gnade. Er tat dies weithin sichtbar. Unter der Menge erschien er plötzlich und oft, jeder hatte, wenn Kaiser Karl mit seinem leuchtenden Frohvertrauen vor ihm stand, den herzlichen Eindruck einer Ansprache von Mensch zu Mensch. Als Volkskaiser war er schneller umjubelt als je ein Monarch. Er blieb nicht bei den Wienern stehen. Sein Hofzug rollte unaufhörlich. Keine Provinz und kein Stamm konnte sagen, daß Kaiser Karl ihn vergaß. Er war überall. In den Provinzen und an der Front. Sein erstes Wort war Friedensbotschaft in einem Krieg, den er nicht verschuldet hatte. Den bedrückten, immer ärmer gewordenen Völkern der Monarchie war die Botschaft Evangelium. Karl war gütig. Karl kannte das Volk. Karl wußte, was dem Volke fehlte. Karl war gerecht. Er war blitzartig, wenn er aus der Kulisse trat. Er verschleppte nichts. Berauscht neigte sich die Menge vor seinem lieben Lächeln.
Natürlich war, daß von Karl die Welle der Volksgunst auf Kaiserin Zita überschlug. Franz Joseph war alt, war kalt und einsam gewesen. Zuletzt hatte er sich nicht mehr gezeigt, durch Schönbrunn wankte offenbar nur mehr ein Schemen. Von Schönbrunn war nach aller Meinung ein Greis, der nicht mehr gewußt hatte, was um ihn her vorging, mit dem jeder gemacht hatte, was er wollte, in die Kapuzinergruft zu ewigem Schlaf gefahren. Jetzt sauste im offenen Auto ein junges, lachendes Paar über den Wiener Ring, und nicht bloß über den Ring, auch in die Vorstädte hinaus, wo Kaiserin Zita von den Speisen der Volksküche kostete. Ein halbes Jahrhundert war vergangen, seit ein junges Kaiserpaar in Wien gesehen war. Der Volkskaiser wurde umjubelt. Der Volkskaiser war der Schrecken all derer, die am Volkswohl zehrten. Mit diesem Volkskaiser konnte, wollte man durch dick und dünn. Er war die neue Sonne der schattenvergangenen Monarchie. Allerdings hatte Karl von Österreich zwei Seelen.
Hof und Heer, Minister, Politik und Verbündete sollten sofort den Geist des neuen Herrn verspüren. Deutlich und betont. Überdies in jeder Art. Kaiser Franz Joseph war das Regelmaß, die Verläßlichkeit in überlieferten Formen, die Pünktlichkeit selbst gewesen. Alles sollte anders werden. Schon die Pünktlichkeit war nicht mehr die Höflichkeit des neuen Großen. Den älteren Kaiser Wilhelm, dem er in Schloß Pleß den ersten Kaiserbesuch machte, ließ er mit gewisser Absicht eine Stunde warten. Als Wilhelm höflich den Besuch in Wien erwiderte, ließ Kaiser Karl ihn zunächst allein die Ehrenfront abschreiten. Aus seiner Welt, die diese Dinge sonst mit einer feierlichen Peinlichkeit bestimmte, kam er mit Absicht abermals zu spät. Karl trug sich mit Plänen großer Veränderungen. Wenn er auch ein Volkskaiser war, so war er doch der mächtige, einzige, durch Gott geweihte und unfehlbare Kaiser. Um ihn herum sprach niemand anders, als unter tiefster Verbeugung. Nie sah er die Köpfe derer, die zu ihm sprachen, stets sah er nur die erdwärts gekrümmten Rücken. Stets war der feiste Fürst Lobkowitz in seiner Nähe, sein Erzieher, ein Mann aus tschechischem Hochadel, dessen Wirkung und Einfluß indes unklar blieb. Der Hof hatte ein Leitmotiv, die eine früh angeklungene Melodie, deren Kehrreim jetzt täglich, stündlich, von allen Lippen sang: Du bist der größte Herrscher! Du bist der größte Staatsmann! Du bist der größte Feldherr! Du weißt alles! Du kannst alles! Du darfst alles! Dies war Gebet und Anbetung. Der Mann von dreißig Jahren horchte. Er hatte nichts gelernt. In Wahrheit wußte er nichts. Sein Geist war dürftig. Mit seinen dreißig Jahren war sein Weltbild kleiner als das eines Studenten, der im Anfang stand. Aber Millionen sahen bittend zu ihm auf. Die Höflinge erstarben. Er glaubte, was sie sagten. Er merkte nicht, wie ihn Cliquen umspannten, indes er Cliquen bekämpfte. Vielleicht war dies die Erklärung seiner zwiefachen Seele und zwiefachen Haltung. Vielleicht aber – und dies ist das Wahrscheinliche – war auch Böses in der Anlage dabei.
Er wußte alles. Er verstand und durfte alles. Er hörte es jeden Tag. Keinen einzigen durfte es darum geben, der sich anmaßte, ihm seine Handlungen zu bestimmen. Keiner stand so hoch wie Karl von Habsburg. Es war das erste, daß er daran erinnerte, daß er selbst der oberste Kriegsherr in der Monarchie war. Ihn kümmerten die Bulgaren und die Türken nicht, Kaiser Wilhelm und Hindenburg, auch Ludendorff war ihm gleich. Ihn kümmerte nicht, was schriftlich war, ihn kümmerte kein Eindruck auf die Verbündeten. Kaiser Karl setzte Kaiser Wilhelm einfach ab. Es gab keinen deutschen und gemeinsamen Oberbefehl mehr, auch wenn es ein Oberbefehl nur zum Schein gewesen war: jetzt gab es nur mehr den Oberbefehl des dreißigjährigen Kaisers Karl. Plötzlich begann auch Karl von Erinnerungen aus der Frontzeit zu sprechen. Unerträglich genug waren diese Deutschen in ihrer Anmaßung gewesen. Er hatte sich alles haarklein gemerkt, was er als Erzherzog ohne Einfluß zu überhören schien. Er hatte nicht die Gabe, über Kleinlichkeiten das Große nicht zu vergessen. Jetzt war die Zeit gekommen, dem großsprecherischen, unangenehmen Nachbar, der sich besser dünkte als alle, gründlich alles heimzuzahlen. Hämisch konnte man Abrechnung halten. Jetzt war die Falkenhaynsche Saat in reifendem Aufgehen: Kaiser Karl hieb durch, was ein Junker gepflanzt hatte. Er sah nicht, daß er damit nicht bloß das Unkraut traf. Er sah nicht, daß er damit die Sache, sich selbst sogar treffen konnte. Conrad von Hötzendorfs Überlegenheit, des Freiherrn Forderung, schon aus Vernunft sich über die Situation zu stellen, begriff er nicht. Der Hof neigte sich: Du darfst alles! Du kannst alles! Viele am Hof waren von den Deutschen verstimmt, beleidigt und verletzt. Sie pflichteten eifrig bei. Freiherr von Conrad war anderer Meinung auch jetzt. Die Macht war ohnehin unangetastet. Es hatte auch keine Vernunft, am Schein zu rütteln, wenn der Schein nützlich war. Karl von Österreich aber sprach:
»Ein Habsburger kann sich einem Hohenzollern nicht unterordnen.«
Der Volkskaiser hatte also doch Augenblicke, da der Dünkel herrschte. Der Milde hatte also doch Wünsche gehässiger Heimzahlung. Kaiser Karl nahm Kaiser Wilhelm den Oberbefehl. Armeeoberkommandant war fortan über die Heere der Monarchie der Friedenskaiser Karl.
Die Entlassung des alten Armeeoberkommandanten verfügte eine Geste der neuen Majestät. Erzherzog Friedrich mußte den Kommandostab abgeben, der freilich in Wahrheit nur ein dynastischer Ausdruck gewesen war. Es zeigte sich dabei, daß auch Kaiser Karls Formen nicht immer die Güte bestimmte. Dem Armeeoberkommandanten Erzherzog Friedrich, Kaiserliche Hoheit, rief ohne Brief und Etikette im Auftrag der Majestät ein General ins Haus – von unten, von der Straße –:
»Der Herr soll gehen –«
Manch ein Herr ging. Es kam ein völlig neuer Kurs. Stephan Tisza krümmte nie den Rücken. Den Ungarn hatte im ersten Anfang die feurige Neigung beglückt, die der junge König für alles hatte, das ungarisch war. Stephan Tisza selbst setzte Karl die Königskrone aufs Haupt. Stephan Tisza selbst gab der Königin Zita das Zepter in die Hand, das Zita kaum wieder fortzulegen sich entschloß, so hoch beglückte sie die malerische Pose. Aber Tisza hatte bisweilen Meinungen. Karl schien verstimmt, solch ein Vorrecht, das ihm allein gebührte, berührt zu sehen. Als ungarische Unstimmigkeiten die Stellung des Ministers nicht eben festigten, ließ er ihn gerne ziehen. Noch mit einem Lächeln der Huld. Aber der Hofstaat hörte den Nachruf:
»Der Tisza ist ja auch nur ein Diener.«
Im übrigen hatten die Minister kaum Zeit zu merken, ob Kaiser Karl auch lächelte, wenn er sie entließ. Im Sturze überstürzten sie sich. Der tüchtige Ernst von Körber kam. Er kam, sah: und ging wieder. Der redselige, unendlich ermüdende Baron Burian, der aus seiner trockenen, dürren Dialektik nie einen Ausweg fand, verließ den Ballplatz. Befriedigt horchte jeder, was nach Burian vom Ballplatz her Graf Ottokar Czernin der Welt zu sagen hatte. In der Art Czernins, in seinen Reden war endlich ein Klang, auf den man hörte auch außerhalb des Reiches. Der junge Kaiser wußte schon, was er tat, er wußte schon, wen er wählte … Die Ressortminister stürzten in Kavalkaden. Schwer mußte es schon sein, die richtigen zu finden. Der Hof wurde verjüngt. Jugend brauchte Jugend. Die Monarchie brauchte Jugend. Die alten Generaladjutanten wurden verabschiedet. In der Kabinettskanzlei, in der Militärkanzlei gaben die neuen Chefs einander die Tür in die Hand. Das Volk sah: nur die Tüchtigen sollten am Werke sein. Kaiser Karl kargte nicht mit Anerkennung. Es regnete Orden, Titel, Würden. Einmal wurde sogar der Generaladjutant und Chef der Militärkanzlei flüchtig besorgt. Aber noch ehe er, obgleich es die erste, dämmernde Besorgnis gewesen war, recht ausgesprochen, was er dachte, war er verabschiedet: ohne ein Lächeln der Huld. Nie war ein neuer Kurs so gründlich über die Monarchie hereingebrochen. Aber nie sah ein Volk, wie ein bezaubernder Fürst sich so heiß, so redlich um Recht und Ordnung, um Wohlfahrt und Aufstieg mühte.
Der Hof summte wie ein Bienenhaus. Es schien, daß der Kaiser Zeit für alles hatte. Er hatte eine wahre Lust, eine tiefe Freude an der Einzelheit. Die Kenntnis und Erforschung der Einzelheiten verriet dem Volk am besten, wie gründlich er war. Seine Beweglichkeit dabei schien ungeheuer, kein technisches Hilfsmittel war ihm, der die Minister am Telephon erschreckte und am Fernsprecher Würden vergab, der Ministerwechsel im Hofzug datierte, modern genug. Wenn er eine Einzelheit aufgestöbert hatte, ließ sie ihn nicht ruhen. Er hatte überall, im Hinterland und an der Front seine eigenen Sbirren, die ihn mit Einzelheiten überschütteten. Bewunderung war am Hofe, im Lande, wie er nichts vertuschen ließ. Er konnte Stunden an einen Kohlenhändler verwenden, der von besonderen Lieferungsmöglichkeiten etwa für die Kasernen sprach. Karl war für schnelle Verfahren. Er meldete den Lieferanten einfach und sofort dem Chef des Generalstabes an.
In seiner Haltung war ohne Zweifel nur der Chef des Generalstabes sehr kühn. Er sprach sichtlich einen anderen Dialekt, als die Herren bei Hofe, obgleich er einer der wenigen war, der ein völlig klares, völlig richtiges, völlig dialektfreies Deutsch unter ihnen sprach. Kaiser Karl saß vorläufig in Wien. Freiherr von Conrad saß vorläufig noch in Teschen. Er war doch bis zu einem gewissen Grade dem ordnenden Geist des Kaisers entrückt. Dies mußte anders werden. Freiherr von Conrad sollte näher seiner Aufsicht arbeiten. Kaiser Karl beschloß, das Armeeoberkommando aus Teschen abzuberufen. Armeeoberkommandant war er selbst, der Kaiser Karl. Er konnte nicht immer nach Teschen reisen. Er reiste genug. Außerdem bot diese Wirtschaft der Minister reichlich Grund zum Aufenthalt in Wien oder doch in Wiens Nähe. Das Armeeoberkommando hatte sich nach ihm zu richten. Er beschloß, das Hauptquartier nach Baden zu verlegen.
Aber Freiherr von Conrad sprach nicht nur gegen solche Absicht. Er setzte sich geradezu zur Wehr, mit einem Nachdruck und Ernst, der bei Hofe nur den verwundern konnte, der Conrads Sachlichkeit nicht kannte. Offenbar übersah Kaiser Karl nicht, was eine Verlegung des Hauptquartiers bedeutete. Schloß Pleß war von Teschen knapp eine Autostunde entfernt. Die beiden Generalstäbe hatten, seit Falkenhayn gegangen war, bis jetzt wirklich in ausgezeichnetem Einvernehmen gearbeitet, ohne daß der Freiherr sich auch nur ein einziges Mal auf seine Machtklausel berufen mußte. Seit dem polnischen Intermezzo schien Conrads Bedeutung auch dem Generalfeldmarschall von Hindenburg durchaus klar zu sein. Daß ihn der deutsche Kaiser und die deutsche Volksmeinung auch gelegentlich des rumänischen Feldzuges, dessen Gesetze bestimmt waren, als Hindenburg kam, wieder höher hoben, war vielleicht nicht einmal sein eigener Wunsch. Vielleicht trug der Generalfeldmarschall auch der Stimmung Rechnung, die einmal da war. Jedenfalls: zwischen Pleß und Teschen liefen alle Räder gleichmäßig, korrekt und gut. War Wichtiges zu besprechen, so brachte das Auto den Freiherrn nach Pleß oder den Generalfeldmarschall nach Teschen. Die engste Verbindung bestand. Der schriftliche, langwierige Weg war nahezu ausgeschaltet. Wenn das Armeeoberkommando in Baden bei Wien aufgeschlagen wurde, blieb kaum auch das deutsche Hauptquartier in Pleß, wo man es wegen der Nähe Teschens untergebracht hatte. Da der Osten nicht mehr die alte Bedeutung hatte, ging es vielleicht überhaupt nach Frankreich. Von Baden nach Kreuznach war ein weiter Weg. Die schnellsten Kuriere brauchten lange. Hindenburg und Conrad konnten sich nicht sehen, wann immer sie wollten, wann immer eine Besprechung nötig war. Es mußten die Akten herüber- und hinübergetragen werden. Mußte man aber einander dennoch sprechen, so verrannen für die Reise auch den beiden Chefs die Tage, die anders besser zu nützen waren.
Noch andere Gründe hatte Conrad. In Teschen arbeitete das Armeeoberkommando in hermetisch gesicherter Ruhe. In Ruhe reiften die Entschlüsse, Einflüsse von außen konnten gebannt werden. Man kam schwer nach Teschen, auch wenn man ein Minister war, man kam schwer aus Teschen, wo es wenig Urlaub gab. Es drang nichts aus den Kanzleien. In Baden war man nahe der Hauptstadt. In Baden war dann ein Hoflager. Tausend Menschen kamen, die der Kaiser rief, tausend jeden Tag, die zum Kaiser wollten. Sie hörten allerlei, sie waren Freunde der Adjutanten, sie trugen allerlei nach Wien. Wie dann Gerüchte, Pläne zu Lawinen schwollen, wie dann das Wichtigste unerlaubte Grenzen überschreiten konnte, war leicht auszurechnen. Conrad war gegen die Badener Übersiedlung. Der Kaiser hörte ihn an. Karl hatte auch den Kaiser Wilhelm angehört, als ihm der Ältere in Wien beim Gegenbesuch über die Angelegenheit erklärte:
»Persönlich bin ich nicht gekränkt, wenn das Hauptquartier nach Baden verlegt wird.«
Karl hatte auf den leise mahnenden Einwand des deutschen Kaisers nicht geachtet. Er erwiderte auch Freiherrn von Conrad nichts. Aber eine leise Röte stieg ihm ins Gesicht, das bald darauf hochrot zu werden begann. Kaiser Karl begriff Freiherrn von Conrad nicht recht. Es war neu, seit Karl den Thron bestiegen, daß jemand andere Ansichten hatte, als der Kaiser. Als Conrad vom Vortrag gegangen war, schickte er ihm den Befehl, mit dem Armeeoberkommando nach Baden zu übersiedeln. Auch hier begann der neue Kurs.
Keinen Widerspruch vergaß Karl. Er hatte auch für Conrad von Hötzendorf ein Lächeln der Huld gehabt: mehr als das. Auf Vorschläge, die ihm der Freiherr noch im Dezember 1916 über italienische Angelegenheiten gemacht hatte, war er eingegangen. Er hatte sie gebilligt. Er hatte den Freiherrn zum Feldmarschall ernannt. Aber der Marschall änderte darum doch an seinem Wesen keinen Zug. Er hatte ein sonderbares Auge, das sich schwer ertragen ließ. Man mußte vor diesem Auge die eigenen Blicke niederschlagen. Am Hofe hatte er allein einen eigenen Ton. Ihm war es gleich, ob er mit dem nächsten besten General sprach oder mit ihm, dem Kaiser. Im Gegenteil: er war liebenswürdig gegen Untergebene, denen er sofort alle Befangenheit nahm, er war kühl und herb, wenn er vor Kaiser Karl stand. Er war schon recht unangenehm, mit seinem ewigen Bestehen auf dem Sachlichen und Logischen. Die Hofgenerale waren jedenfalls anders. Und immer öfter bekam Kaiser Karl jetzt die Röte ins Gesicht, wenn Conrads Name fiel.
Die Mienen des Kaisers wurden ein Signal bei Hofe. Die Erzherzöge horchten. Die kaltgestellten Generale suchten alte Beziehungen bei Hof. Mancher Dinge, die nicht freundlich waren, erinnerten sich die Minister. Überhaupt alle erinnerten sich. Wer war denn eigentlich dieser Feldmarschall Conrad? Was hatte er geleistet? War kein Tüchtigerer da? Endlich war die Bahn frei. Denn selbst der Kaiser schien zu begreifen, daß der Wert des Marschalls schwankend und zu ersetzen war. Sie alle wollten es jetzt versuchen. Was bisher im Dunkel auf Lauer lag, drängte sich bei Hofe jetzt offen.
Das Kesseltreiben begann.
Groß schien für alle das Schuldkonto des Marschalls Conrad von Hötzendorf. Selbst die Erzherzöge hatten zu klagen. Es war natürlich, daß er Joseph Ferdinand, den Schuldigen von Luck, zu Unrecht hatte fortgehen lassen. Und nicht bloß das Unrecht hatte er geschehen lassen: jetzt wehrte er sich sogar bei Kaiser Karl, der selbst das Unrecht längst einsah, gegen neue Verwendung des Prinzen. Joseph Ferdinand hatte noch einen Bruder. Aber auch Peter Ferdinand stand im Schmollwinkel. Peter Ferdinand hatte bei Dub vor Komarow den Ring zu schließen gehabt, der die dort geschlagene russische Armee entwaffnet hätte. Die Meldung, daß Kosakenabteilungen im Rücken der Erzherzogsdivision aufgetaucht seien, ließ Peter Ferdinand nicht überprüfen. Er zog es auch vor, statt Seitendeckung gegen die angeblichen Kosaken auszusenden, statt weiterzumarschieren und die Einkreisung der Russen zu vollenden, überbesorgt lieber zurückzugehen. Das Loch blieb offen; die Russen entwischten. Conrad veranlaßte schließlich, daß Peter Ferdinand sein Kommando abgab. Joseph Ferdinand war begabt. Bei seiner Entlassung konnte sich Conrad darauf berufen, daß Begabung die Zuchtlosigkeit nicht ausgleiche, sondern die Begabung entwerte. Man mußte schweigen, als die Probe und das Ergebnis der Indisziplin gegeben waren. Peter Ferdinand war sonst vielleicht ein wenig indifferent gewesen. Aber nicht ohne eine gewisse Sorgfalt im Dienst. Als er im Kampfe erwies, daß er jene Fähigkeiten nicht besaß, deren Vorhandensein nur das Schlachtfeld bestätigen kann, nahm ihm Conrad auf Antrag von Peters Vorgesetzten die anvertraute Division sofort. Auch bei Peter Ferdinand war die Berufung auf Probe und Folgen noch gerechtfertigt gewesen. Aber welch eine Zurücksetzung war Erzherzog Leopold Salvator widerfahren? Welche Worte gab es überhaupt hochgekommenem, übermütigem Soldatenadel gegenüber, wenn man Conrads Haltung gegen Leopold Salvator bedachte? Bei ihm hatte der Freiherr dagegen Einspruch erhoben, daß ihm ein Kommando anvertraut wurde, wie er es nach seinem Rang beanspruchte. Armeen wären keine erzherzoglichen Spielereien. Er könne niemand eine Armee anvertrauen, nur weil er ein kaiserlicher Prinz sei. Er übernähme die Verantwortung nicht. Kaiser Franz Joseph hatte die Begründung eingesehen. Erzherzog Leopold Salvator schwieg verstimmt. Oder vielmehr: er schwieg gar nicht. Um ihm eine Beschäftigung zu geben, hatte man ihn zum Artillerieinspektor ernannt. Er fuhr von Front zu Front. Er zerrte Conrads Ansehen in den Staub. Es gab keinen Stab, den der Erzherzog aufsuchte, ohne daß die Offiziere dieses Stabes nicht alle Gossenschimpfworte von den Lippen des hohen Herrn vernahmen. Freiherr von Conrad verhinderte es schließlich, daß der Prinz an die Front gehe. Nutzen stiften konnte solch prinzliches Benehmen nicht. Jetzt aber loderte der Zorn ehrlich aus Leopold Salvator: Freiherr von Conrad verwehrte den Erzherzögen, das Vaterland zu verteidigen.
Die abgesetzten Generale hielten es mit den Prinzen. Es verstand sich, daß Brudermann nur ein beklagenswerter Sündenbock war. Es verstand sich, daß sein Stabschef ohne Verschulden seiner Stelle verlustig gegangen war. Mehr als ein entlassener Günstling steckte sich hinter die Erzherzoginnen, selbst Brudermann betrieb seine Wiederaufnahme. Auch sein Stabschef hatte an den Taten von Przemyslani nicht genug. Conrad aber blieb hart. Ihn kümmerten weder die Reden des Stabschefs, noch die Bemühungen der Erzherzoginnen, die den Freiherrn anmaßend fanden. Alle hohen Damen fanden den Freiherrn anmaßend, auch die Damen des Hochadels. Denn auch der Hochadel wollte Anstellungen im Heer. Wenn man ein Fürst, ein Prinz war, so konnte man auch ein Korps oder eine Armee führen. Da der Freiherr die Prinzen und Fürsten nicht anhörte, schickten sie ihm die Prinzessinnen und Fürstinnen. Sie baten und schmeichelten. Conrad blieb hart.
Auch der hohe Klerus konnte zu einer freundlichen Auffassung von Conrads Wirken nicht gelangen. Mit der Frömmigkeit im Heer beschäftigte er sich nicht. Zur Kirche ging er nur aus Artigkeit, um andere nicht zu verletzen. Schon mit Franz Ferdinand hatte es Szenen darum gegeben, wenn der Freiherr erklärt hatte, daß er arbeiten müßte, aber keine Zeit zum Beten besäße. Auf himmlische Bundesgenossen verließ sich Conrad auch im Kriege nicht. Und vor den Kirchenfürsten machte seine Sachlichkeit nicht halt, die als Gewaltherrschaft von den Betroffenen empfunden wurde. Er bildete sich ein, daß der Erzbischof von Trient, der seine Gesinnung nie geleugnet hatte, ein Irredentist, den selbst der fromme Franz Ferdinand scharf und ungehalten beobachtet hatte, im Kriege nicht an seinem Hirtensitz in der Festung Trient zu wirken habe. Bischof Endrici wurde eingeladen, seine Residenz unter allen Bequemlichkeiten, mit allen Ehren in Wien aufzuschlagen. Er machte aus dem Schimpf keinen Hehl, den man seiner frommen Seele angetan. Aber Freiherr von Conrad hatte den Mut, noch weiterzugehen.
Der päpstliche Nuntius in Wien genoß das Vorrecht, mit dem Vatikan ohne Zensur zu korrespondieren. Seine Briefe fuhren uneröffnet nach Italien, mit dem die Monarchie im Kriege lag. Der päpstliche Nuntius war nicht nur ein gottesfürchtiger, er war auch ein ritterlicher und galanter Herr. In ihm hatte sich schon, als er noch in Italien weilte, die süße Inbrunst für die Religion mit der Schwärmerei altfranzösischer Abbes vereint. Er hatte es in Mailand geliebt, schöne Frauen über den Zwiespalt ihrer Seelen zu trösten. In einem Nonnenkloster bei Mailand hatte er vielen heimlich und dennoch ohne Ängstlichkeit die Messen der irdischen Seligkeit gelesen. Der Heilige Stuhl hatte keinen Sinn für die Kopierung der Herren mit Bäffchen und Brevier, deren Beichtstühle die gepuderten Marquisen aus der Zeit der Manon Lescaut umdrängten. Der Heilige Stuhl stellte den Priester aus Amt und hellen Würden ins Dunkel. Aber er war ein Freund Victor Emanuels. Der savoyische Hof lachte über die Streiche im Mailänder Nonnenkloster. Die Damen des römischen Hochadels fanden den Abbe nur um so begehrenswerter. Sie halfen ihm. Victor Emanuel verwandte sich bei der Kurie. Weil königliche Fürsprache für ihn bat, wurde Victor Emanuels Schützling in Gnaden wieder aufgenommen. Er wurde Nuntius in Wien. Freiherr von Conrad wußte, wer der Nuntius war. So schien es ihm nicht gleichgültig, daß er unbehindert, was er nur wollte, in die Hauptstadt des Königs schreiben konnte, der ihm Stellung und Karriere gerettet hatte. Dem er zu lebhaftestem Danke also verpflichtet war. Conrad verlangte die Überwachung der Korrespondenz des Nuntius. Ein einziger Sturm erhob sich:
»Der General Conrad mischt sich in Angelegenheiten des Gewissens – –«
Conrad hatte die Erzherzöge gegen sich und die Generale. Rangälteste bezichtigten ihn der Günstlingswirtschaft. Er hatte den Chef seiner Operationskanzlei, einen jungen bürgerlichen General, über ein paar Dutzend Wartender hinweg zur Exzellenz ernennen lassen, denn Conrad wollte, daß für diesen General Metzger, der in der Armee einer der tüchtigsten Offiziere, der zuverlässigste Charakter war, alle äußeren Bedingungen gegeben seien, wenn er ihn selbst eines Tages ersetzen sollte. Er hatte den Hochadel gegen sich, der gegen den Soldatenadel und selbst gegen die Bürgerlichen nicht aufkam, weil sie allein behaupteten, den Geist gepachtet zu haben. Die Diplomaten und Minister fanden kein sanftes Wort für Conrad. In allen aristokratischen Salons schwirrten über ihn die Witze. Aber der Kirche war er längst ein Abtrünniger und überhaupt ein Verruchter. Für die Ehe genügte ihm staatlicher Spruch. Nicht einmal das Sakrament der Ehe war ihm heilig.
Der Badener Dunstkreis war von Spannungen erfüllt, da Freiherr von Conrad ihn betrat.
Den Kaiser erbitterte der unbequeme General. Karl hatte tschechische Freunde, tschechische Fürsprecher. Er hatte Freunde um sich, die heimlich am Bündnis mit Deutschland zerrten. Freiherr von Conrad betonte immer und überall, daß die Monarchie am deutschen Bündnis unbedingt und unter allen Umständen festzuhalten habe. Was immer ihm deutsche Überhebung, der bisweilen allzu selbstbewußte Ton der deutschen Generale ihm selbst angetan: über das Persönliche und Kleine hinweg sah er nur nach der Sache, nur nach dem Großen. In eine Konspiration gegen Deutschland willigte er nie. Er hätte sich mit aller Macht entgegengestemmt … Kaiser Karl hatte keine große Freundschaft für Deutschland. Conrads Geschmack begann sonderbar zu werden. Er hatte keinen Sinn für neue Moden, neue Kurse, neue Herren. Seine Verbrauchtheit, seine Rückständigkeit, das Betonte seiner Haltung begann zu stören. Unbequem fand ihn der Kaiser. Er hörte alles an. Gab fast in allen Dingen nach. Er unterschrieb das meiste, das Conrad ihm vorlegte. Sogar Akten, in denen Conrad ihm, dem Oberfeldherrn, in operative Dinge dreingesprochen hatte. Unterschrieb in Unmut. Doch Baron Conrad gab nichts preis, das seine Überzeugung richtig nannte. Er stand stets aufrecht. Sein Blick war nicht zu ertragen. Conrad war dem Kaiser unsympathisch. Die fromme Fürstin fand das längst.
Der Marschall wußte, daß er unsympathisch war. Seinem Adjutanten hatte ein Offizier aus des Kaisers Umgebung selbst bestätigt, daß das Wort von Karls Lippen gefallen war. Merkwürdig erschien nur, daß man ein paar Tage darauf die Äußerung in französischen Zeitungen lesen konnte. Wie ging dies zu? Stand man nicht bloß mit dem Haus Savoyen in Korrespondenz? Reisten die Kuriere auch nach Paris? Im Heer der Alliierten dienten zwei Brüder der Kaiserin von Österreich, der Italienerin Zita. Begann man jetzt Hochverrat auch am kaiserlichen Hoflager zu treiben? Und wieweit oben war der Hochverrat zu suchen? Man mußte das untersuchen. Aber die Ereignisse überstürzten sich jetzt. Freiherr von Conrad hatte kaum Zeit, über die merkwürdigen Zusammenhänge nachzudenken.
In der Kriegführung der Mächte war die U-Bootfrage aufgerollt. Der Kampf der Tauchboote sollte, so wollte es Deutschland, fortan uneingeschränkt die Zufuhren feindlicher Länder sperren. Admiral von Holtzendorff legte im Auftrage des deutschen Admiralstabes in Wien eine Rechnung der reichen Mittel vor, mit denen der Tauchkrieg nach der Aufstellung des Admirals von Tirpitz geführt werden sollte. An der Richtigkeit der Rechnung durfte niemand zweifeln: die Fülle der Mittel war in der Tat groß – –
Conrad bedachte noch einmal die Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika. Er bedachte zugleich die Schlußentwicklung, die Aussichten des Krieges. Stephan Tisza und Graf Czernin waren gegen den uneingeschränkten Unterseeboot-Krieg. Sie fürchteten die Einwirkung auf die Neutralen, die man brauchte, sie fürchteten vor allem die Wirkung auf Schweden. Amerika spielte eine geringere Rolle. Freiherr von Conrad fürchtete die Neutralen des Kontinents nicht. In Schweden spürte er leise Sympathien, oder glaubte, sie zu spüren. Der Rest der Neutralen war den deutschen Waffen zu nahe. Anders lag die Frage mit Amerika. Nur Amerika hatte für Conrad hier Bedeutung.
Amerika stand auf der Seite der Alliierten seit Kriegsbeginn. Es führte mit den Mittelmächten Krieg eigentlich schon seit 1914: nur ohne Erklärung und ohne ausgesprochene Form. Es versorgte England und Frankreich, den ganzen Vierverband mit Lebensmitteln und Kriegsmitteln aller Art. Nach den Häfen der Mittelmächte verirrte sich kein Schiff Amerikas. Für alle Schiffe, die nach den Hafenplätzen der Mittelmächte steuerten, hatte England das stillschweigend von Amerika anerkannte Recht, die Schiffahrt im Kriegsgebiet und überhaupt auf den Meeren zu sperren. Für alle Schiffe, die nach den Hafenplätzen der Alliierten dampften, hatte Deutschland kein Recht – Amerika betonte es ausdrücklich – die Schiffahrt zu unterbinden. Amerika sah kühl und unbewegt einer Kriegsführung zu, die den Hunger zu einer Angriffswaffe machte. Amerika erhitzte sich sofort, als der Hungerbedrohte sich mit einer Verteidigungswaffe wehrte. In Amerika rüsteten die Industrien um; sie wurden Kriegsindustrien. Die öffentliche Meinung Amerikas war, daß die Deutschen das verabscheuungswürdige Verbrechen des Krieges heraufbeschworen hatten. Es sah alle Ungeschicklichkeiten der deutschen Politik seit mehr als einem Jahrzehnt: die ungeschickte Haltung in der Marokkofrage – das zwecklose Telegramm des deutschen Kaisers an die Buren – die unvernünftige Ablehnung englischer Annäherungsversuche – die Schaffung einer Handelsflotte und einer Kriegsflotte, die zu besitzen außerhalb Amerikas nur noch das Recht Englands, keinesfalls aber das Recht eines Volkes von gut siebzig Millionen Menschen war. Auf solche Art hatte Deutschland, von den unüberlegten Reden getrieben, die der Kaiser unter den Mißfallenszeichen vieler Deutscher hielt, die Welt in das verabscheuungswürdige Verbrechen gedrängt.
Aber Amerika hatte von den russischen und französischen Sendboten nichts gehört, die die Monarchie an der Donau überschwemmten. Die italienische Irredenta bestand für Amerika nicht. Harmloser als die Serben war kein Volk. Eduard von England, dem Kaiser Franz Joseph in Ischl einfach die Tür gewiesen hatte, war nur ein anspruchsloser Sommergast gewesen. In ganz Amerika wußte man: Deutschland allein war, als sich die beiden Reiche endlich zur Wehr setzten, Deutschland allein war, ob auch Rußland schon seit Monaten rüstete und die Mobilisierung zum Schluß mit einem Gewaltwillen zu kriegerischer Entscheidung anordnete, die schuldtragende Macht an dem Verbrechen. So verabscheuungswürdig das Verbrechen indes auch war, die öffentliche Meinung unterstützte gleichwohl die Überzeugung, daß es nicht verabscheuungswürdig und abscheulich genug war, um nicht Gewinn daraus zu ziehen. Die Vereinbarungen der Haager Konvention halfen dieser Auffassung. Völkerrechtlich einwandfrei und durchaus menschlich blieb es, daß Amerika einer kriegführenden Macht jede Art von Rüstzeug schickte. Im russisch-japanischen Krieg hatte das auch Deutschland getan. Darum hatte noch kein japanisches Unterseeboot die deutschen Waffensendungen nach Rußland torpediert. Es kam dabei nicht in Betracht, daß Japan den deutschen Sendungen auf dem europäischen Landweg nichts anhaben konnte. Jedenfalls: Deutschland hatte ungehindert Waffen geliefert. Wenn es aber völkerrechtlich einwandfrei und durchaus menschlich war, daß Amerika Rüstzeug an die Alliierten schickte, so war es doch völkerrechtlich und menschlich durchaus unerlaubt, daß Deutschland sich jetzt wehren wollte, daß Deutschland nicht gelassen zusehen wollte, wie Amerika unaufhörlich die Zerstörungsmittel gegen den deutschen Körper herantrug. Deutschland hatte zuzusehen, wie Munition auf Munition von Amerika herankam, um die deutschen Heere zu töten. Es war seine Pflicht. Deutschland hatte kein Recht, sich dagegen aufzulehnen, daß seine Heere von Amerika, mit dem es nicht im Kriege stand, mitgetötet würden. Freilich war das Verbrechen des Krieges nicht ganz so verabscheuungswürdig, daß Amerika nicht unter Umständen auch Deutschland, wenn schon nicht Nahrungsmittel, so doch Munition geliefert hätte. Aber England hatte die Blockade verhängt. Sie zu durchbrechen, hatte Amerika nie versucht. Da war man wieder, wo man am Anfang war. England durfte eine Blockade verhängen. Deutschland durfte es nicht. Granatenschiff um Granatenschiff fuhr nach England und nach den Schlachtfeldern in Frankreich.
So war alles in Ordnung. Es war für Amerika ein Zustand, aufs innigste zu wünschen. Der Krieg lief weiter, die amerikanischen Munitionslieferungen gingen weiter. Amerikas Leben blühte vom Tode Europas.
Dem amerikanischen Kriege war nicht zu entrinnen. Amerika führte ihn weiter, wie es ihn bisher geführt hatte. Amerika führte ihn endlich offen, wenn man den verkappten Aufmarsch über das Wasser störte. Früher oder später kam es zum offenen Konflikt. Gar zu arg konnte man sich selbst in Amerika nicht entrüsten, wenn die Deutschen nur Granatenschiffe versenkten. Aber niemand behinderte die Amerikaner, Granaten und Menschen zu mischen. Der amerikanische Staatsbürger war unantastbar. Ihn mußte man unberührt über die Meere lassen. Der amerikanische Staatsbürger fuhr im Oberdeck. Die Granaten fuhren im Zwischendeck. Man mußte auch die Granaten unberührt lassen, wenn man die Menschen unberührt lassen wollte. Schließlich kam eine Zeit, da Deutschland auch solche Methoden nicht mehr still mit ansehen konnte. Schließlich war die amerikanische Munitionsfrage, die Haltung gegenüber der Aushungerung, die Nichteinmischungsfrage mit ihrer nüchternen Geschäftsausbeutung der Vernichtung ein wenig überzeugendes Zeichen von Menschlichkeit. Alle Alliiertenphrasen, alle amerikanischen Rednerleistungen konnten nur verwischen, nur suchen zu verwischen: nicht entkräften. Amerika wußte, was es wollte: entweder den bequemen Krieg, oder eben den offenen Krieg. Es war nur eine Frage der Zeit.
All das mochten Theorien sein. Aber für Freiherrn von Conrad entschied lediglich die Erkenntnis der Lage. Die Kraft Amerikas unterschätzte er am wenigsten. Er kannte den Wert der Milizheere, er hatte selbst bisher den Krieg zu zwei Dritteln mit Volksheeren geführt. Die technische Stärke, den finanziellen Reichtum der Vereinigten Staaten konnte in der Rechnung nur vergessen, wer absichtlich falsch oder nachlässig rechnen wollte. Aber die Kriegslage war so, daß zwei Momente die Gunst des Ausganges noch erzwingen konnten: Eile und Fähigkeit. Die Mittel der Monarchie und auch Deutschlands begannen dünner zu fließen. Der rumänische Feldzug war zu Ende, war günstig abgeschlossen. Die Mittelmächte standen nicht ganz dort, wo sie vor Luck gestanden hatten. Nicht nur die Gefahren durch Brussilow und die rumänische Gefahr waren ganz beschworen. Mit dem Verströmen der letzten verzweifelten Anstrengung war Rußland jetzt völlig am Rande. Der Koloß von einst war ein Gespenst, ein Gerippe geworden. Im Osten war nichts mehr zu tun. Im Osten wollte Freiherr von Conrad die Arbeit abbauen. Ganz und gar. Bei der russischen Gruppe der Operationsabteilung, von ihm mit Bleistiftschrift niedergeschrieben, lag unter manchen anderen Arbeiten auch ein genau ausgearbeiteter Plan, der eine Offensive gegen den Raum Tarnopol-Trembowla regelte. Wenn sich die Gelegenheit ergab, so wollte er diesen einen Stoß gegen den schwachen Gegner noch führen. Seine Kraft sollte endgültig gebrochen, zugleich der äußerste Ostrand Galiziens gesäubert und Tschernowitz zurückgenommen werden. Eine Affäre war dies nicht. Aber über die Grenze hinaus wollte er keinen Schritt. Fremde Länder zu erwerben, hatte jetzt gar keinen Sinn; die Beschäftigung mit den Russen, hinter denen man auf solche Art bis nach Asien einhermarschieren konnte, war nur vergeudete Zeit und Spielerei. Zeit hatte er schon gar nicht. Man stand vor dem Frühjahr 1917. Wenn der Krieg nicht bis zum Frühjahr 1918 gewonnen war, dann war der Krieg verloren. Die Kräfte der Monarchie hatten Grenzen. Von Rußland war nichts mehr zu fürchten: er mußte die Angriffsrichtung ändern. An der Westfront war nichts zu erreichen. Dort hielten, trotz großer Schlachten, die Heere einander im Gleichgewicht. Bessere Aussicht hatten die Mittelmächte, wenn sie beide an der Westfront mit ganzem Einsatz aufmarschieren konnten, beide dort ganze Kraftentfaltung als Einheit ausspielen konnten. Einmal hatte Freiherr von Conrad erklärt: der Weg nach Serbien führt über Italien. Jetzt sah er abermals die vorgezeichnete Straße: der Weg nach Frankreich, der vermutlich der Weg zum Frieden war, führte über Italien. Das Königreich mußte zu Boden gezwungen werden. Italien mußte die Waffen völlig strecken. Italien mußte ausscheiden. Wenn Conrad von Hötzendorf in Norditalien stand, so änderte sich mit Blitzesschnelle auch das Antlitz der Westfront. Es war dann sehr fraglich, ob die Alliierten auf dem letzten Waffengang mit den vereinten Mittelmächten bestehen würden. Die Lust zu verhandeln war dann vermutlich stärker. Ein ganzes Jahr lang hatte man noch Zeit für eine Erledigung Italiens. Dieses Jahr barg die Wahrscheinlichkeit endgültigen Erfolges. Dieses Jahr war zugleich die Gnadenfrist für die Mittelmächte. Der Militärwissenschaftler Conrad verstand, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit richtig auszurechnen, wann die amerikanischen Truppen an der festländischen Front einzugreifen vermochten. Wenn jemand ein Gutachten darüber fällen konnte, so war es der vielgelesene, vielzitierte Schriftsteller Conrad. Die Amerikaner brauchten etwas mehr als ein Jahr, ehe ihre Kraft fühlbar und wirksam wurde. Dann konnten sie nicht bloß die Entscheidung geben. Dann gaben vielleicht schon die Lage, die inneren Verhältnisse der Mittelmächte die Entscheidung. Das Jahr mußte ausgenützt werden um jeden Preis. Man mußte arbeiten wie noch nie. Das Letzte mußte zusammengerafft werden, um es zielbewußt auszuspielen.
An eine Niederringung Englands durch die Unterseeboote glaubte Freiherr von Conrad nicht mehr. In wenigen Monaten schon gar nicht. Die Unterseeboote allein brachten vielleicht überhaupt keine Entscheidung gegen England. Conrad liebte weder das alldeutsche Geschrei, noch die alldeutsche Haltung, noch die alldeutsche Überhebung. Er selbst war so sehr ein Deutscher, daß kaum ein besserer, bewußterer Vertreter dieses Stammes gefunden werden konnte. Indes: alldeutsche Manieren, die er schon von verschiedenen Generalen her kannte, alldeutsche Melodien, die die ganze Welt durchklirren sollten, die maßlose alldeutsche Selbstüberhebung, die nur Unheil mit ihrem Bluff erzeugte – bei den Gegnern, bei den Bundesgenossen, im eigenen Deutschland: dies ganze talentlose, schreierische Alldeutschtum lehnte er ab. Er war gegen jede Selbstüberhebung, die über Illusionen zur Selbstschädigung führte. Mochte die alldeutsche Presse noch so sehr von der Niederzwingung »Albions« lärmen, mochte sie an solch ein Ziel mit den Mitteln glauben, die die deutsche Admiralität bereit zu haben angab: er, Conrad von Hötzendorf, glaubte daran nicht. Aber an anderes glaubte er und anderes erwartete er. Der Tauchbootkrieg mußte England schädigen. Er mußte die Nerven der Westfront irritieren. Er lähmte die uneingeschränkte Bewegung. Die Zufuhren aus Amerika wurden erheblich schwieriger. Die Kohlen flossen aus England langsamer. Italien litt nicht minder unter der Irritation der Nerven. Die Tauchboote hatten keineswegs das Schlußwort im Kriege, aber die Kriegsmittel, den Kriegsapparat der Alliierten störten sie in einem Jahr, das ein Ende des Krieges erzwingen mußte. Es stand in diesem Jahr noch gewaltiges Ringen bevor. Amerika wollte Conrad gar keine Zeit mehr geben einzugreifen. War das Ringen entschieden, trat Amerika nicht mehr in den Krieg ein. Wollte es wirklich Schaden vermeiden, wollte es ehrlich keinen Konflikt, so brauchte es nur die Munitionsschiffahrt zu unterbinden. Der militärische Gegner Amerika durfte gar nicht mehr an die europäische Front gelassen werden. Wenn es erst so weit war, war vermutlich alles aus. Die europäische Front aber mußte im Entscheidungsjahr mit allen Mitteln bekämpft, durch alle Mittel geschwächt werden. Conrad holte noch das Gutachten des Großadmirals Anton Haus ein, der ihn als Fachmann berufener dünkte, als er selbst. Der Admiral vertrat die Ansicht, daß nach deutschen Darlegungen die Waffe zu verwenden sei. Die deutschen Darlegungen stellten den Erfolg, der zu erwarten sei, den Frieden, bis zum Herbst in Aussicht. Jetzt durfte kein Militär das Mittel unversucht lassen: Conrad mußte für den Tauchbootkrieg stimmen.
Der Osten war erledigt. Mit Italien gab es keine militärischen Irrtümer, wenn er, Conrad, arbeiten durfte, wie er wollte. Er wollte an dem Schlußwerk rüsten, noch unerbittlicher als bisher. Er rüstete ja schon. Allerdings sprach jetzt bei ihm der Feldmarschall Erzherzog Friedrich vor.
Erzherzog Friedrich kam eines Abends zu Freiherrn von Conrad nach Ansage. Er kam, asthmatisch wie immer, setzte sich höchst echauffiert, atmete noch beschwerlicher als sonst, und es schien, als wäre ihm gerade diesmal seine Kurzatmigkeit ganz recht, um Bedrücktheit oder Befangenheit zu verdecken. Conrad hatte den Erzherzog mit unbestimmtem Gefühl erwartet. Aber da er ihn jetzt so vor sich sitzen sah, unsicher und fast hilflos, glaubte er den Sinn des Besuches plötzlich zu erraten. Conrad stand plötzlich die ganze Badener Zeit, diese ganze neue Arbeitsmethode mit Kaiser Karl vor Augen. Auch wenn der Kaiser bisher fast stets noch nachgegeben hatte: vom ersten Tage an hatte es zwischen Kaiser und Marschall doch nichts als Meinungsunterschiede gegeben. Und seit einiger Zeit hatte Kaiser Karl es geliebt, aus den Meinungsverschiedenheiten sogar offene Zusammenstöße werden zu lassen. Auch dem Marschall gegenüber gab es Grenzen, innerhalb derer der Ton von Gesprächen zu halten war, selbst wenn der Kaiser die Gespräche anfing. Der junge Monarch hatte erst neulich eine Auffassung des Marschalls laut als Unsinn bezeichnet. Conrad hatte auf die Sachlichkeit des Themas kühl verwiesen, und war gegangen … Der Zwischenfall schien ihm nicht bedeutungsvoll. Er hatte ihn über der Arbeit wieder vergessen. Aber jetzt fiel ihm das Intermezzo aufs neue ein und auch an die französischen Zeitungen dachte er wieder, darin ja gestanden hatte, wie sehr er dem Kaiser »unsympathisch« war … Keinen Zweifel gab es, weshalb Erzherzog Friedrich hier saß. Conrad begriff durchaus. Aber der Erzherzog fand in der Peinlichkeit seines Auftrages noch immer keinen rechten Anfang.
»Ja, – – lieber Conrad – – Es ist so schrecklich – – –«
Er stieß die Worte förmlich hervor. Und brach wieder ab. Und begann von neuem.
»Sie wissen ja, wie ich Sie schätze – – Ich weiß auch gar nicht, wie ich es Ihnen sagen soll – –«
Er brach abermals ab. Es war deutlich, wie er litt. Und wie er ja so gänzlich außer sich sei … Und: »Ach …« und: »Gott …« Der Kaiser hätte ihn hierhergeschickt. Und nichts wäre gerade ihm so schrecklich – –
Conrad lächelte. Er spürte, nachsichtig vor dem alten Herrn, die ganze Verlegenheit, die dem Erzherzog die heikle Botschaft gab.
»Sie bringen mir also die Enthebung?«
»Ach ja …« brach der Erzherzog erleichtert aus. »Das ist es ja! …« Jetzt fand er rasch die Sprache. Ihm selbst hatte der Kaiser mit der Abschiedsbotschaft einen General geschickt. Er wollte den Freundschaftsdienst bei dem Freiherrn lieber selbst übernehmen.
»Sonst hätte er Ihnen noch einen Ordonnanzoffizier geschickt –«
Conrad dankte und beruhigte den Erzherzog. Was ihn selbst betreffe, so könne er Amt und Arbeit jeden Augenblick übergeben. Er hätte darauf geachtet, daß der von ihm geleitete Apparat blitzblank zu jeder Stunde sei und jeder Nachfolger auch das kleinste Rädchen in voller Ordnung finde. Er übergebe Reichsgrenzen und Heer unversehrt, tadellos und fleckenlos. Gleich gelte ihm sein persönliches Schicksal –
»Aber Exzellenz Conrad!« Der Erzherzog beeilte sich. »Das will ja der Kaiser nicht. Der Kaiser will, daß Sie nach Tirol gehen.«
Der Marschall stand eine Weile tonlos. Der Überdruß stieg in ihm auf. Den ganzen hoffnungslosen Kampf mit dem jungen Menschen, dem vor drei Monaten der Tod des Kaisers Franz Joseph eine unheilvolle Macht gegeben, durchlebte er noch einmal. Flüchtig durchfuhr ihn eine Sehnsucht: »Wenn ich nur endlich Ruhe hätte!« – Dann sah er sich in der ungeheizten Soldatenwohnung sitzen, vor Jahren, in der Wiener Reisnerstraße, drei Treppen hoch. Oberst Bardolf klopfte an die Tür: »Kaiserliche Hoheit lassen Exzellenz um alles in der Welt bitten, die Flinte nicht ins Korn zu werfen.« Immer war es dasselbe: der Kampf mit der Unvernunft, der Kampf mit den Blinden, der Kampf mit dem Hochmut, der Kampf mit dem Klüngel. Zerstreut antwortete er dem Erzherzog, der wartend zu ihm hinübersah.
»Wenn es sein muß … Meinetwegen. Ich gehe auch nach Tirol.«
Eine gähnende Leere tat sich vor ihm auf. Ein Inhalt entglitt ihm und, wie er spürte, daß eine Last von ihm genommen war, drückte die Leere auf ihn als Bürde. Um ihn selbst ging es nicht. Er hatte genug getan in Leben und Krieg. Auch auf Meriten wollte er sich nicht berufen. Ihn drückte es nicht, ob man ein »österreichisches Schicksal« ihm vorbereiten wollte. Ihn drückte das Schicksal Österreichs. Die Schicksale der Monarchie und Deutschlands drückten ihn. Er kannte keinen Steuermann, der steuern konnte. An seiner Person mußte nichts liegen. Aber dieser junge Kaiser würde die Arbeit gründlich tun. Nicht ein Stein, nicht ein Arbeiter würde im alten Hauptquartier bleiben: alles wurde, wenn Conrad erst Baden verließ, aufgelöst und hinweggefegt. Die ganze Maschinerie, in der Rad auf Rad eingestellt war, wurde vermutlich bald auseinandergenommen. Er gab nichts auf die Macht als persönliches Glücksbedürfnis. Aber im vierten Kriegsjahr entsank ihm die Macht, deren er im Jahr gewollter und letzter Entscheidungen noch mehr bedurft hätte, als bisher. Und nicht einmal die Deutschen vermochten die Führung jetzt an sich zu reißen. Sie hatten sich, wie aller Welt, auch Kaiser Karl verhaßt gemacht. Der Kurs war nicht mehr Freiherr von Conrads Kurs. Der Kurs war antideutsch, war tschechisch, italienisch und klerikal. Der Kaiser suchte großen Umschwung. Der alte Marschall stand ihm im Wege. Der alte Marschall hielt, was er versprochen hatte. Er tat und erzwang, was die Vernunft diktierte. Wer wußte, was nunmehr alles kam. Mit jähem, heißem Weh erkannte Conrad, daß es vielleicht doch nur ein Kartenhaus war, daran er bis jetzt gebaut hätte. Der neue Bauherr stieß alles um und wollte freien Grund. Er wollte besser bauen als der alte. Er wußte alles. Er konnte alles. Er durfte alles. Man lebte und starb in einem monarchischen Staat. Wehe, wenn der Zufall von Geburt und Purpur auf Königsthrone knabenhafte Schüler setzte, die keine Meister litten. Conrads Gedanken verloren sich. Der Erzherzog hatte sich befreit empfohlen. Der Marschall raffte sich zusammen … Und ging … Zum letzten Rapport des Generalstabschefs beim Kaiser.
Nichts verriet Ungewohntes an den Mienen Karls. Er saß an seinem Schreibtisch. Er las, er unterfertigte. Der Marschall gab Meldung um Meldung. In der täglichen Folge: Hier Abendbericht – hier Situation. Der Kaiser hörte, las, nickte und unterschrieb. Er sprach kein Wort. Er hielt nur den Blick gesenkt. Da begann, als den Meldungen nichts mehr hinzuzufügen war, endlich der Freiherr.
»Majestät haben mir heute den Erzherzog Friedrich geschickt –«
Jetzt fuhr der Kaiser schnell herum.
»Sie sind doch nicht gekränkt?«
»Gekränkt bin ich überhaupt nie, Majestät.«
»Also, Sie gehen nach Tirol?«
Der Marschall schwieg. Nein: er ging nicht nach Tirol. Er hatte jetzt genug. Armeekommandanten gab es viele. Dazu bedurfte man seiner nicht. Er war nicht gekränkt, indes mochte man ihn, wenn man seiner schon entraten sollte, ganz entbehren. Ein einmal ausgesprochenes, noch so verbrämtes Mißtrauensvotum sollte kein General, kein Staatsdiener benützen, um in ein anderes Amt zu schlüpfen. Und schließlich hatte er auf Ruhe, auf Erholung wirklich Anspruch. Es war doch das Einfachste: er ging ganz …
»Nein, Majestät. Ich gehe nicht nach Tirol.«
»Aber warum denn nicht? Sie gehen ja so gern in die Berge –«
Der Kaiser unterbrach sich. Er hatte versucht, den Freiherrn anzusehen. In Conrad aber stieg der Groll empor. Verstehen konnte er, daß der neue Herr auch neue Räte suchte. Aber Bismarcks Abschied stand vor ihm. Der junge Karl hatte nicht einmal des jungen Wilhelms eine Spur. Die verdientesten Ratgeber durfte man wegschicken, den Dank vom Hause Österreich durfte man erneuern, wenn man sich stark und frei genug fühlte, wenn man neue Ratgeber wußte. Aber die Ahnung seiner Zeit, den Ernst seiner Würde mußte man besitzen, wenn man auf Kaiserthronen saß. Die Mittelmächte nahten der Krise. Die Tiroler Front aber war ein Ausflugsplatz für mißliebige Marschälle. Hart sah er den Kaiser an. Der Kaiser wandte den Kopf fort.
»Nein. Ich gehe nicht nach Tirol. Ich bitte, mich ganz zu entlassen.«
Da er sich zum Gehen wandte, bat ihn der Kaiser noch, die Angelegenheit wenigstens zu überschlafen.
Aber der Marschall beharrte auf seinem Entschluß. Er erbat Audienz am nächsten Morgen. Niemand sollte ihm nachsagen, daß er an Stellen und Würden hänge. Es bleibe dabei: er bitte um ganzen Abschied.
Jetzt willigte der Kaiser ein. Zwingen konnte er Conrad nicht. Er hatte es nie gekonnt. Aber der Kaiser brauchte einen Abgang. Vielleicht spürte er auch undeutlich und fernher, wen er verabschiedete. Er nahm sein eigenes Theresien-Großkreuz.
»Diesmal wenigstens werden Sie mir das nicht ablehnen –«
Einmal hatte der Freiherr auf den höchsten Orden schon verzichtet. Er gab nichts auf Orden. Aber jetzt galt es, ein Ende zu machen. Irgendeine Form mußte der junge Mensch, da er einmal der Herrscher war, auch wahren. Conrad nahm den Orden und ging, jetzt fast schon wieder heiter geworden. Denn er sah persönliche Ausblicke. Er war – nach fünfundvierzig Arbeitsjahren – ein freier Mann.
Wenig gab es zu ordnen. Denn alles war in guter Ordnung. Seinem Flügeladjutanten schrieb er die Mitteilung des Abschieds. Er hatte es, von Conrad entdeckt, von Conrad erzogen, von Conrad gefördert, längst mit dem neuen Kurs gehalten. Der Freiherr ging – der Adjutant blieb in Baden: Conrad hatte für ihn kein Wort und keinen Blick. Dem erschütterten General Metzger drückte er die Hand. Und erschüttert drückte ihm noch einer die Hand: der deutsche General Cramon, der ahnen mochte, wer auch für Deutschland mit Conrad ging.
Auf dem Bahnhof erschien zum Abschied niemand. Denn Gestürzte grüßt bei Hofe keiner. Freiherr von Conrad fuhr davon in Ungnade. Der mächtigste Mann in der Monarchie war gefallen. In Baden sprach man längst von anderen Dingen. In Baden hatte selbst der Hauptmann-Platzkommandant keine entbehrliche Ordonnanz mehr für Conrad von Hötzendorfs Gepäck. Aber der Freiherr lachte schon wieder. Er fuhr nach Wien in die Freiheit.
Sie währte eine einzige Nacht. Am Morgen meldete sich der Generaladjutant des Kaisers an. Und kam auch gleich darauf selbst. Mit dringender Aufforderung Seiner Majestät. Und ohne die Gewährung durch Seine Exzellenz dürfe er überhaupt nach Baden nicht zurück: der Marschall müßte das Kommando in Tirol übernehmen. Darüber wären alle Ratgeber sich einig. Und man schätze –
»Wenn man mich unbedingt in Tirol braucht, so soll der Kaiser mir dies schreiben. Ich verlange, daß man mir den Zwang, das Kommando zu übernehmen, schwarz auf weiß bestätigt. Es soll mir niemand sagen, daß ich an Stellen klebe. Ich gehe nicht ohne den Brief.«
Der Generaladjutant fuhr nach Baden zurück. Der Kaiser schrieb:
»Lieber Feldmarschall Freiherr von Conrad.
In Ihrer allgemeinen bekannten und hochgeschätzten Selbstlosigkeit wollten Sie, lieber Feldmarschall von Conrad, sich jetzt aus der Aktivität zurückziehen.
So sehr ich die Gründe, die Sie zu diesem Entschluß führten, würdige, so muß ich doch an Ihr patriotisches Empfinden appellieren und die Erwartung aussprechen, daß Sie – unter Berücksichtigung der wichtigen, militärischen und politischen Gründe, die für die Übernahme des Kommandos in Tirol gerade durch Ihre Person sprechen – dieses Kommando übernehmen.
Ich bin überzeugt, daß Ihre bewährte Kraft und der Klang Ihres in meiner Wehrmacht hoch geschätzten, bei unseren Feinden gefürchteten Namens auf dem Tiroler Kriegsschauplatz ein wesentliches Moment zur Erreichung weiterer Erfolge bilden wird.
Baden, am 1. März 1917.
Karl.«
Kein Einwand mehr war zu erheben. Was Conrad in drei Jahren geleistet, sah kein Mensch. Durch die Zeitungen ging sein Sturz kaum als ein Intermezzo. Von ihm sprach man in Baden nicht mehr. Von ihm sprach längst die Öffentlichkeit nicht mehr. Seine staatsmännische Voraussicht reichte an Bismarck. Der Feldherr reichte an Moltke. Vielleicht vereinigte er beide in einem Zeitsturz, dessen Maße jene nicht geahnt hatten. Aber man wußte nichts von ihm. Das Zwielicht wurde Dunkel, Absturz und Vergessenheit. Macht und Steuerung hatte der Kaiser ihm jetzt genommen. Um die Zukunft durfte er bangen. In die eigene Freiheit durfte er nicht. In Bozen war fortan sein Standort und Exil. Wortlos war Conrad einst ins Hauptquartier gefahren. Wortlos fuhr er jetzt nach Bozen.