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In den Aufsätzen, die ich früher dem Raum gewidmet habe, bin ich hauptsächlich bei den von der nicht-euklidischen Geometrie aufgeworfenen Problemen verweilt und habe andere, schwerer zu erörternde Fragen fast ganz beiseite geschoben, wie die, die sich auf die Zahl der Dimensionen beziehen. Alle die Geometrien, die ich ins Auge gefaßt habe, hatten eine gemeinsame Grundlage, das Kontinuum mit drei Dimensionen, das für alle das gleiche war und sich nur verschieden gestaltete durch die Figuren, die man darin zeichnete, oder durch die Maße, die man hineinzulegen suchte.
In diesem ursprünglich gestaltlosen Kontinuum kann man sich ein Netz von Linien und Flächen denken. Man kann weiter dahin übereinkommen, die Maschen dieses Netzes als untereinander gleich zu betrachten, und nur durch diese Übereinkunft wird das meßbar gewordene Kontinuum der euklidische oder nicht-euklidische Raum. Aus diesem gestaltlosen Kontinuum kann also gleicherweise die eine oder die andere dieser beiden Raumformen hervorgehen, gleich wie man auf einem weißen Blatt Papier ebensogut eine Gerade wie einen Kreis ziehen kann.
Wir kennen im Raume geradlinige Dreiecke, deren Winkelsumme zwei Rechten gleich ist. Aber wir kennen ebensowohl krummlinige Dreiecke, deren Winkelsumme kleiner ist als zwei Rechte. Die Existenz der einen ist nicht zweifelhafter als die der anderen. Den Seiten der ersteren den Namen Gerade zu geben heißt: die euklidische Geometrie annehmen; den Seiten der letzteren den Namen Gerade geben, heißt: die nicht-euklidische Geometrie annehmen, so daß die Frage, welche Geometrie soll man annehmen, mit der anderen gleichbedeutend ist: welcher Linie soll man den Namen Gerade geben?
Es ist klar, daß die Erfahrung eine solche Frage nicht beantworten kann; man wird von ihr nicht die Entscheidung verlangen, ob ich zum Beispiel eine Gerade AB oder CD nennen soll. Ebensowenig kann man behaupten, ich hätte kein Recht, die Seiten eines nicht-euklidischen Dreieckes Gerade zu nennen, weil sie mit dem unwandelbaren Begriff der Geraden, den ich durch die Intuition besitze, nicht übereinstimmen. Ich gebe zu, daß wir die intuitive Anschauung der Seiten des euklidischen Dreiecks haben, aber wir haben sie in gleichem Maße von dem nicht-euklidischen Dreieck. Warum soll ich das Recht haben, den ersten dieser Begriffe Gerade zu nennen und den zweiten nicht? Inwiefern würden diese paar Silben etwas Wesentliches an diesen intuitiven Gedanken ausmachen? Augenscheinlich wollen wir, wenn wir sagen, daß die euklidische Gerade eine wirkliche Gerade ist, die nicht-euklidische Gerade aber nicht, nur sagen, daß die erste Anschauung einem wichtigeren Gegenstand entspricht als die zweite. Wie wir aber beurteilen können, daß ein Gegenstand wichtiger ist als ein anderer, das habe ich in Wissenschaft und Hypothese erörtert.
Hier haben wir die Erfahrung eingreifen sehen. Wenn die euklidische Gerade wichtiger ist, als die nicht-euklidische, so bedeutet das hauptsächlich, daß sie von gewissen wichtigen, natürlichen Gegenständen wenig abweicht, von denen die nicht-euklidische Gerade stark abweicht. Man wird einwerfen, die Definition der nicht-euklidischen Geraden ist erkünstelt; versuchen wir einen Augenblick, sie gelten zu lassen, so sehen wir, daß zwei Kreise von verschiedenem Radius beide den Namen nicht-euklidische Gerade erhalten werden, während von zwei Kreisen mit gleichem Radius der eine der Definition entsprechen kann, während der andere es nicht tut, und wenn wir daher eine dieser sogenannten Geraden verschieben, ohne sie umzugestalten, so hört sie auf eine Gerade zu sein. Aber mit welchem Recht betrachten wir die beiden Figuren als gleich, die die euklidischen Geometer zwei Kreise mit gleichem Radius nennen? Weil der eine, wenn man ihn fortbewegt, ohne ihn umzugestalten, sich mit dem andern decken wird. Und warum sagen wir, daß diese Verschiebung ohne Umgestaltung ausgeführt ist? Es ist nicht möglich, einen genügenden Grund hierfür zu finden. Unter allen denkbaren Bewegungen gibt es einige, von denen die euklidischen Geometer sagen, daß sie mit keiner Umgestaltung verbunden sind, und es gibt andere, von denen die nicht-euklidischen Geometer sagen werden, daß sie mit keiner Umgestaltung verbunden sind. Die euklidischen Geraden bleiben in den ersteren, den sogenannten euklidischen Bewegungen euklidische Gerade, während die nicht-euklidischen Geraden keine nicht-euklidischen Geraden bleiben. In den Bewegungen der zweiten Art oder nicht-euklidischen Bewegungen, bleiben die nicht-euklidischen Geraden nicht-euklidische Gerade, während die euklidischen Geraden keine euklidischen Geraden bleiben. Es ist also nicht bewiesen, daß es unvernünftig sei, die Seiten des nicht-euklidischen Dreiecks gerade zu nennen; man hat nur bewiesen, daß es dann unbegründet wäre, wenn man dabei bliebe, die euklidischen Bewegungen Bewegungen ohne Umgestaltung zu nennen; man hätte aber ebensogut bewiesen, daß es unvernünftig wäre, die Seiten des euklidischen Dreiecks gerade zu nennen, wenn man die nicht-euklidischen Bewegungen Bewegungen ohne Umgestaltung nennen würde.
Was wollen wir nun damit ausdrücken, wenn wir sagen, daß die euklidischen Bewegungen die wirklichen Bewegungen ohne Umgestaltung sind? Es soll einfach heißen, daß sie wichtiger wie die anderen sind; und warum sind sie wichtiger? Weil gewisse wichtige natürliche Körper, die festen Körper, ungefähr solche Bewegungen erleiden.
Und wenn wir nun fragen: kann man sich den nicht-euklidischen Raum vorstellen? das heißt: können wir uns eine Welt vorstellen, wo die wichtigen natürlichen Gegenstände ungefähr der Form der nicht-euklidischen Geraden nachgebildet wären, und die wichtigen natürlichen Körper häufig den nicht-euklidischen Bewegungen ungefähr gleiche Bewegungen erleiden würden? In Wissenschaft und Hypothese habe ich gezeigt, daß wir diese Frage mit Ja beantworten müssen.
Man hat oft bemerkt, daß, wenn alle Körper des Weltalls sich gleichzeitig und in gleichem Verhältnis ausdehnten, wir gar kein Mittel hätten, dies wahrzunehmen, da alle unsere Meßinstrumente gleichzeitig mit den Gegenständen wachsen würden, zu deren Bemessung sie dienen. Die Welt würde nach dieser Ausdehnung ihren Lauf fortsetzen, ohne daß irgend etwas uns ein so bedeutendes Ereignis kundtun könnte.
Mit anderen Worten, zwei Welten, die einander ähnlich wären (das Wort Ähnlichkeit im Sinn des sechsten Buches der Geometrie des Euklid verstanden), voneinander zu unterscheiden, würde vollständig unmöglich sein. Aber mehr noch; nicht nur die Welten wären nicht zu unterscheiden, wenn sie einander gleich oder ähnlich wären, das heißt, wenn man von der einen zu der anderen übergehen könnte, indem man die Koordinatenachsen oder den Maßstab, nach dem die Längen bemessen sind, ändert, sondern sie wären auch nicht zu unterscheiden, wenn man durch irgend eine Punkttransformation von einer zur andern übergehen könnte. Ich will mich deutlicher ausdrücken. Ich nehme an, daß jedem Punkte der einen ein Punkt der anderen entspricht und nur ein Punkt, und ebenso umgekehrt. Und weiter, daß die Koordinaten des einen Punktes stetige Funktionen, übrigens ganz gleichgültig welche, der Koordinaten des entsprechenden Punktes sind. Ich nehme weiter an, daß jedem Gegenstand der ersten Welt in der zweiten ein Gegenstand gleicher Natur entspricht, der genau auf den korrespondierenden Punkt fällt. Endlich nehme ich an, daß diese Übereinstimmung, wenn sie am Anfang besteht, immer erhalten bleibt. Wir würden kein Mittel haben, die zwei Welten voneinander zu unterscheiden. Wenn man von der Relativität des Raumes spricht, versteht man es gewöhnlich nicht in einem so weiten Sinn, und doch sollte man es so verstehen.
Wenn eine dieser Welten unsere euklidische Welt ist, so wird das, was ihre Bewohner Gerade nennen, unsere euklidische Gerade sein; was aber die Bewohner der zweiten Welt Gerade nennen, ist eine Kurve, die die gleichen Eigenschaften besitzt, in Beziehung auf die Welt, die sie bewohnen und die Bewegungen, die sie Bewegungen ohne Umgestaltung nennen; ihre Geometrie ist also die euklidische Geometrie, aber ihre Gerade ist nicht unsere euklidische Gerade. Ihre Gerade ist die Transformierte der unseren, durch die Punkttransformation von unserer Welt in die ihrige übertragen; die Geraden jener Menschen sind nicht unsere Geraden, aber sie stehen zueinander in den gleichen Beziehungen wie unsere Geraden zueinander. In diesem Sinne sage ich, daß ihre Geometrie die unsere ist. Wenn wir also darauf bestehen wollen, daß ihre Gerade keine wirkliche Gerade ist, wenn wir nicht zugeben wollen, daß eine derartige Behauptung gar keinen Sinn hat, so müssen wir wenigstens zugeben, daß diese Menschen keinerlei Mittel haben, ihren Irrtum zu erkennen.
Dies alles ist verhältnismäßig leicht zu verstehen, und ich habe es schon so oft wiederholt, daß ich es für unnötig halte, mich noch weiter über diesen Gegenstand zu verbreiten. Der euklidische Raum ist keine unserer Empfindung aufgezwungene Form, da wir uns den nicht-euklidischen Raum vorstellen können. Aber die beiden Räume, der euklidische und der nicht-euklidische, haben eine gemeinsame Grundlage; das gestaltlose Kontinuum, von dem ich zu Anfang gesprochen habe; diesem Kontinuum können wir sowohl den euklidischen Raum, als den Lobatschewskischen Raum entnehmen; gleichwie wir aus einem ungraduierten Thermometer durch eine entsprechende Einteilung ebensogut einen Fahrenheitthermometer als einen Réaumurthermometer machen können.
Hier stellt sich uns eine Frage: Ist dieses gestaltlose Kontinuum, das unsere Untersuchung hat bestehen lassen, nicht eine unserem Bewußtsein aufgenötigte Form? Wir hätten dann zwar das Gefängnis, in dem dieses Bewußtsein eingeschlossen ist, erweitert, aber es wäre doch immer noch ein Gefängnis.
Dieses Kontinuum besitzt eine Anzahl Eigenschaften, die von jedem Maßbegriff frei sind. Das Studium dieser Eigenschaften ist der Gegenstand einer Wissenschaft, die von mehreren großen Geometern gepflegt worden ist, besonders von Riemann und Betti und die den Namen Analysis situs erhalten hat. In dieser Wissenschaft sieht man von jeder Maßbestimmung ab, und wenn man zum Beispiel festgestellt hat, daß auf einer Linie der Punkt B zwischen den Punkten A und C liegt, so begnügt man sich mit dieser Feststellung und beunruhigt sich nicht weiter darüber, ob die Linie ABC gerade oder krumm ist und ob die Länge AB der Länge BC gleich, oder ob sie doppelt so groß ist.
Die Sätze der Analysis situs haben also das Besondere, daß sie richtig bleiben, wenn die Figuren durch einen ungeschickten Zeichner kopiert werden, der die Verhältnisse gröblich verändert und die Geraden durch mehr oder weniger geschlängelte Linien ersetzt. Mathematisch ausgedrückt: sie werden durch keinerlei Punkttransformation verändert. Man hat oft gesagt, daß die metrische Geometrie quantitativ sei, die projektive Geometrie dagegen rein qualitativ; das ist nicht ganz richtig. Was eine Gerade von anderen Linien unterscheidet, sind doch auch Eigenschaften, die in gewisser Beziehung quantitativ bleiben. Die wirklich qualitative Geometrie ist also die Analysis situs.
Die gleichen Fragen, die sich bei der Untersuchung der Wahrheiten der euklidischen Geometrie stellten, zeigen sich von neuem bei den Theoremen der Analysis situs. Kann man sie durch deduktive Schlüsse gewinnen? Sind es versteckte Übereinkommen? Sind es Erfahrungstatsachen? Sind es Charaktere einer unseren Sinnen oder unserer Vernunft aufgezwungenen Form?
Ich will nur bemerken, daß die beiden letzten Lösungen sich ausschließen, wovon sich nicht alle Menschen immer volle Rechenschaft geben. Wir können nicht gleichzeitig annehmen, daß es unmöglich ist, sich den Raum mit vier Dimensionen vorzustellen, und daß die Erfahrung uns beweist, daß der Raum drei Dimensionen hat. Der Experimentator richtet die Frage an die Natur: ist es dieses oder jenes? Das kann er aber nicht, ohne sich die beiden Glieder der Alternative vorzustellen. Wenn es unmöglich wäre, sich eines der beiden vorzustellen, so wäre es unnötig und überdies unmöglich, die Erfahrung zu Rate zu ziehen. Wir brauchen keine Beobachtung, um zu wissen, daß der Uhrzeiger nicht auf 15 steht, weil wir im voraus wissen, daß die Zahlen des Zifferblattes nur bis 12 gehen, und wir können bei 15 nicht nachsehen, ob der Zeiger da steht, weil es diese Zahl nicht gibt.
Bemerken wir ferner, daß hier, bei der qualitativen Geometrie, die Empiriker einen der schwerwiegendsten Einwürfe nicht zu fürchten haben, der von vornherein alle ihre Bemühungen vergeblich macht, ihre Sätze auf die Wahrheiten der euklidischen Geometrie anzuwenden. Diese Wahrheiten sind streng, und alle Erfahrung kann nur angenähert sein. In der Analysis situs genügen ungenaue Erfahrungen, um ein strenges Theorem zu begründen, und wenn man zum Beispiel sieht, daß der Raum nicht zwei oder weniger als zwei Dimensionen haben kann, und nicht vier oder mehr als vier, so ist man sicher, daß er genau drei hat, weil er nicht zweieinhalb oder dreieinhalb haben kann.
Von allen Lehrsätzen der Analysis situs ist der wichtigste der, den man in die Worte kleidet: »der Raum hat drei Dimensionen«. Hiermit wollen wir uns jetzt beschäftigen, und wir stellen die Frage: Was wollen wir ausdrücken, wenn wir sagen, der Raum hat drei Dimensionen?
Ich habe in » Wissenschaft und Hypothese« erklärt, woher uns der Begriff der physischen Stetigkeit kommt, und wie der Begriff der mathematischen Stetigkeit daraus hervorgehen konnte. Es kommt vor, daß wir zwei Eindrücke voneinander unterscheiden können, während wir jeden einzelnen nicht von ein und demselben dritten unterscheiden können. So können wir ein Gewicht von 12 g leicht von einem Gewicht von 10 g (durch Schätzung) unterscheiden, während ein Gewicht von 11 g weder vom einen noch vom anderen zu unterscheiden wäre.
Eine solche Feststellung würde man, in Zeichen übersetzt, so schreiben
A = B, B = C, A < C.
Das wäre die Formel des physischen Kontinuums, wie sie uns die grobe Erfahrung lehrt; daraus entspringt ein unerträglicher Widerspruch, den man durch die Einführung des mathematischen Kontinuums gehoben hat. Dieses ist einer Leiter vergleichbar, deren unendlich viele Sprossen (kommensurable und inkommensurable Zahlen) voneinander getrennt sind, statt aufeinander überzugreifen, wie es die Elemente des physischen Kontinuums der vorhergehenden Formel gemäß tun.
Das physische Kontinuum ist sozusagen ein nicht aufgelöster Nebelfleck, den auch die vollkommensten Instrumente nicht auflösen können. Wenn man freilich die Gewichte auf einer guten Wage vergliche, statt sie mit der Hand zu schätzen, so würde man das Gewicht von 11 g von dem von 10 g und von dem von 12 g wohl unterscheiden können, und unsere Formel wäre dann
A < B, B < C, A < C.
Man würde aber immer zwischen A und B und B und C neue Elemente D und E finden können, so daß
A = D, D = B, A < B; B = E, E = C, B < C,
und die Schwierigkeit wäre nur verschoben, der Nebelfleck wäre immer noch nicht aufgelöst; nur der Geist kann ihn auflösen, und das mathematische Kontinuum ist der in Sterne aufgelöste Nebelfleck.
Bis jetzt haben wir den Begriff der Zahl der Dimensionen noch nicht berührt. Was meinen wir, wenn wir sagen, daß ein mathematisches oder physisches Kontinuum zwei oder drei Dimensionen hat?
Wir müssen zuerst den Begriff des Schnittes erläutern, indem wir an das Studium des physischen Kontinuums anknüpfen. Wir haben gesehen, was das physische Kontinuum kennzeichnet. Jedes seiner Elemente besteht aus einer Gesamtheit von Eindrücken, und es ist zweierlei möglich: entweder ist ein Element von einem anderen des gleichen Kontinuums nicht zu unterscheiden, wenn das neue Element einer Gesamtheit von Eindrücken entspricht, die zu wenig von der früheren verschieden ist; oder diese Unterscheidung ist möglich. Es kann also vorkommen, daß zwei von einem dritten nicht zu unterscheidende Elemente doch voneinander unterschieden werden können.
Nachdem dies festgestellt ist, kann man, wenn A und B zwei unterscheidbare Elemente sind, eine Reihe von Elementen
E1, E2, …, En
finden, die alle zu dem Kontinuum K gehören, und von denen jedes einzelne vom vorhergehenden nicht zu unterscheiden ist, E1 nicht von A und En nicht von B. Man kann demnach von A nach B auf einem ununterbrochenen Weg übergehen, ohne K zu verlassen. Wenn diese Bedingung für zwei beliebige Elemente A und B des Kontinuums K erfüllt ist, so können wir sagen, daß dieses Kontinuum K zusammenhängend ist.
Wir zeichnen jetzt einen Teil der Elemente von K aus, die entweder voneinander unterscheidbar sind, oder selbst ein Kontinuum oder deren mehrere bilden. Die Gesamtheit aller dieser Elemente, die nach Willkür aus den zu K gehörigen ausgezeichnet sind, bilden das, was ich einen Schnitt oder auch Schnitte nennen will.
Nehmen wir jetzt zwei beliebige Elemente A und B von K. Dann kann zweierlei eintreten:
Entweder können wir wieder eine Reihe von Elementen rinden:
E1, E2, …, En,
so daß: 1. alle zu K gehören, 2. jedes vom folgenden ununterscheidbar ist, E1 von A und En von B, 3. kein Element E ununterscheidbar von irgend einem Element des Schnittes.
Oder jede Reihe
E1, E2, …, En,
die den beiden ersten Bedingungen entspricht, wird ein Element E enthalten, das von einem der Elemente der Schnitte ununterscheidbar ist.
Im ersten Falle können wir von A zu B auf einem ununterbrochenen Wege gelangen, ohne K zu verlassen und ohne den Schnitten zu begegnen; im zweiten Fall ist das unmöglich.
Wenn bei zwei beliebigen Elementen A und B des Kontinuums K immer der erste Fall eintritt, dann sagen wir, daß K ungeachtet der Schnitte, zusammenhängend bleibt.
Wenn wir also die Schnitte nach einer gewissen, übrigens willkürlichen Weise wählen, so kann der Fall eintreten, daß entweder das Kontinuum zusammenhängend bleibt, oder daß es nicht zusammenhängend bleibt; im letzten Fall sagen wir, daß es durch die Schnitte zerlegt wird.
Man bemerke, daß alle diese Definitionen einzig auf der sehr einfachen Tatsache aufgebaut sind, daß zwei Gesamtheiten von Eindrücken manchmal zu unterscheiden sind und manchmal nicht.
Dies vorausgesetzt sagen wir, ein Kontinuum sei von einer Dimension, wenn es zu seiner Zerlegung genügt, eine gewisse Anzahl voneinander unterscheidbarer Elemente als Schnitt zu betrachten; wenn man sich dagegen zur Zerlegung eines Kontinuums als Schnitt ein System von Elementen denken muß, die selbst ein oder mehrere Kontinuen bilden, so sagt man, das Kontinuum hat mehrere Dimensionen.
Genügen zur Zerlegung eines Kontinuums K Schnitte, die ein oder mehrere eindimensionale Kontinuen bilden, so sagen wir, K ist ein Kontinuum mit zwei Dimensionen; genügen Schnitte, die ein oder mehrere Kontinuen mit höchstens zwei Dimensionen bilden, so sagen wir, K ist ein Kontinuum mit drei Dimensionen, und so fort.
Um diese Definition zu rechtfertigen, müssen wir gehen, ob die Geometer wirklich den Begriff der drei Dimensionen am Anfang ihrer Werke in dieser Weise einführen. Wir bemerken nun, daß sie meistens damit anfangen, die Flächen als die Grenzen von Körpern oder Teilen des Raumes zu definieren, die Linien als Grenzen der Flächen, die Punkte als Grenzen der Linien, und sie behaupten, daß dieser Prozeß nicht weiter fortgesetzt werden kann.
Das ist ganz der gleiche Gedanke; um den Raum zu teilen, braucht man Schnitte, die man Flächen nennt; um die Flächen zu teilen, braucht man Schnitte, die man Linien nennt; um die Linien zu teilen, braucht man Schnitte, die man Punkte nennt; man kann nicht weitergehen, und ein Punkt kann nicht geteilt werden. Der Punkt ist kein Kontinuum, also sind die Linien, die man durch Schnitte teilen kann, die keine Kontinuen sind, Kontinuen mit einer Dimension; die Flächen, die man durch kontinuierliche Schnitte mit einer Dimension teilen kann, sind Kontinuen mit zwei Dimensionen, und der Raum endlich, den man durch kontinuierliche Schnitte mit zwei Dimensionen teilen kann, ist ein Kontinuum mit drei Dimensionen.
Die Definition, die ich hier gegeben habe, weicht also nicht wesentlich von der gewöhnlichen Definition ab; ich habe nur darauf gehalten, ihr eine Form zu geben, die nicht auf das mathematische, wohl aber auf das einzige, das wir uns vorstellen können, das physische Kontinuum paßt, und ihr doch ihre ganze Schärfe zu lassen.
Man sieht übrigens, daß diese Definition nicht nur auf den Raum anwendbar ist; wir finden bei allem, was unsere Sinne wahrnehmen, die charakteristischen Eigenschaften des physischen Kontinuums wieder, und es wäre überall die gleiche Einteilung erlaubt; auch könnte man leicht Beispiele von Kontinuen finden, die im Sinne der vorhergehenden Definition vier oder fünf Dimensionen haben; diese Beispiele bieten sich dem Geiste von selbst.
Ich könnte endlich, wenn es nicht zu weit führte, noch erklären, wie die Wissenschaft, von der ich weiter oben gesprochen habe, und der Riemann (nach Leibniz) den Namen Analysis situs gegeben hat, uns lehrt, unter den Kontinuen mit gleichviel Dimensionen Unterschiede zu machen, und wie die Einteilung dieser Kontinuen wiederum auf der Betrachtung der Schnitte beruht.
Aus diesem Begriff ist der des mathematischen Kontinuums mit mehreren Dimensionen in gleicher Weise hervorgegangen, wie das physische Kontinuum mit einer Dimension das mathematische Kontinuum mit einer Dimension hervorgebracht hat. Die Formel
A > C, A = B, B = C,
die die rohen Angaben der Erfahrung zusammenfaßt, enthält einen unerträglichen Widerspruch. Um sich davon zu befreien, mußte man einen neuen Begriff einführen, indem man im übrigen die wesentlichen Grundzüge des physischen Kontinuums mit mehreren Dimensionen beibehielt. Das mathematische Kontinuum mit einer Dimension ließ einen einzigen Maßstab gleich einer Leiter zu, deren Sprossen in unendlicher Zahl den verschiedenen kommensurablen oder inkommensurablen Werten einer und derselben Größe entsprechen. Um das mathematische Kontinuum mit n Dimensionen zu erhalten, genügt es, n gleiche Leitern zu nehmen, deren Sprossen den verschiedenen Werten von n unabhängigen Größen, Koordinaten genannt, entsprechen. Man hat so ein Bild des physischen Kontinuums mit n Dimensionen gewonnen, und dies Bild wird so getreu sein, als es sein kann, wenn man den Widerspruch, von dem ich soeben gesprochen habe, aufheben will.
Jetzt scheint es, als sei die Frage, die wir uns zu Anfang gestellt haben, gelöst. Wenn wir dem Raum drei Dimensionen zuschreiben, so verstehen wir darunter, könnte man sagen, daß die Gesamtheit der Punkte des Raumes der Definition genügt, die wir soeben von dem physischen Kontinuum mit drei Dimensionen gegeben haben. Sich hiermit zufrieden geben hieße voraussetzen, daß wir wüßten, was die Gesamtheit der Punkte des Raumes oder selbst ein Punkt des Raumes ist.
Dies ist aber nicht so einfach, wie man glauben sollte, Jedermann glaubt zu wissen, was ein Punkt ist, und weil wir es zu gut wissen, scheint es uns unnötig, ihn zu definieren. Man kann freilich nicht von uns verlangen, daß wir ihn definieren können; denn wenn man von Definition zu Definition steigt, muß wohl ein Augenblick kommen, wo man Halt macht. Aber in weichem Augenblicke soll man innehalten?
Zunächst wird man innehalten, wenn man zu einem Gegenstand gelangt, der sinnlich wahrnehmbar ist, oder den wir uns vorstellen können; hier wird die Definition überflüssig; man definiert einem Kinde nicht ein Schaf, man sagt ihm: das ist ein Schaf.
Dann aber müssen wir uns fragen, ob es möglich ist, sich einen Punkt im Raume vorzustellen. Wer mit Ja antwortet, überlegt sich nicht, daß er sich in Wirklichkeit einen weißen Kreidepunkt auf einer schwarzen Tafel oder einen schwarzen Punkt auf einem weißen Papier denkt, und daß er sich nur einen Gegenstand, oder besser die Eindrücke, die dieser Gegenstand auf seine Sinne machen würde, vorstellen kann.
Wenn er sich einen Punkt vorzustellen sucht, so stellt er sich die Eindrücke vor, die sehr kleine Gegenstände in ihm erwecken. Es ist überflüssig, hinzuzufügen, daß zwei verschiedene Gegenstände, wenn auch beide sehr klein sind, durchaus verschiedene Eindrücke hervorrufen können, und ich will auf diese Schwierigkeit, die immerhin einige Erörterung beanspruchen würde, nicht eingehen.
Doch hierum handelt es sich nicht; es genügt nicht, sich einen Punkt vorzustellen, man muß sich einen bestimmten Punkt vorstellen und imstande sein, ihn von einem anderen Punkt zu unterscheiden. Denn um die Regel, die ich weiter oben aufgestellt habe, und durch die man die Zahl der Dimensionen eines Kontinuums erkennen kann, auf ein solches anwenden zu können, müssen wir uns auf die Tatsache stützen, daß zwei zu diesem Kontinuum gehörige Elemente manchmal voneinander zu unterscheiden sind und manchmal nicht. Wir müssen uns also in bestimmten Fällen ein bestimmtes Element vorstellen und von einem anderen unterscheiden können.
Es fragt sich nun, ob der Punkt, den ich mir vor einer Stunde vorstellte, derselbe ist, wie der, den ich mir jetzt vorstelle, oder ein anderer. Mit andern Worten: wie können wir wissen, ob der Punkt, den der Gegenstand A im Augenblick á einnimmt, der gleiche ist, wie der Punkt, den der Gegenstand B im Augenblick â einnimmt, oder besser noch, was bedeutet diese Frage?
Ich sitze in meinem Zimmer; ein Gegenstand liegt auf meinem Tisch; ich rege mich eine Sekunde lang nicht; niemand berührt den Gegenstand; ich möchte behaupten, daß der Punkt A, den dieser Gegenstand zu Anfang der Sekunde innehatte, der gleiche ist wie der Punkt B, den er zu Ende der Sekunde einnimmt. Dem ist aber nicht so: vom Punkt A zum Punkt B sind 30 km, denn der Gegenstand wurde von der Bewegung der Erde mitgeführt. Wir können nicht wissen, ob ein Gegenstand, klein oder groß, nicht seine absolute Lage im Raum geändert hat, und nicht nur daß wir es nicht behaupten können, diese Behauptung hat auch gar keinen Sinn und kann unmöglich irgend einer Vorstellung entsprechen. Wir können uns aber fragen, ob sich die Lage eines Gegenstandes in bezug auf andere Gegenstände geändert hat oder nicht, und vor allem, ob sich seine Lage in bezug auf unseren Körper geändert hat; wenn sich die Eindrücke, die dieser Gegenstand in uns hervorruft, nicht geändert haben, so werden wir geneigt sein, zu urteilen, daß die relative Lage sich auch nicht verändert hat; wenn sie sich geändert haben, werden wir urteilen, daß der Gegenstand auch seinen Zustand oder seine relative Lage geändert habe. Es muß noch entschieden werden, welches von beiden anzunehmen ist. Ich habe in » Wissenschaft und Hypothese« erklärt, wie wir dazu kommen, die Änderung der Lage zu erkennen, und ich werde später noch darauf zurückkommen. Wir gelangen also zur Einsicht, ob die Lage eines Gegenstandes in bezug auf unseren Körper die gleiche geblieben ist oder nicht.
Wenn wir nun sehen, daß die Lage zweier Gegenstände in bezug auf unseren Körper die gleiche geblieben ist, so schließen wir daraus, daß sich auch die gegenseitige Lage der beiden Objekte nicht geändert hat; aber wir gelangen dazu nur durch einen mittelbaren Schluß. Das einzige, was wir unmittelbar erkennen, ist ihre Lage in bezug auf unseren Körper.
Um so mehr können wir nur durch einen mittelbaren Schluß zu wissen glauben (und noch dazu irrtümlicherweise), ob die absolute Lage des Gegenstandes verändert ist.
Kurz, das System der Koordinatenachsen, auf das wir naturgemäß alle äußeren Gegenstände beziehen, ist ein unveränderlich an unseren Körper geknüpftes Achsensystem, das wir überall mit uns nehmen.
Es ist unmöglich, sich den absoluten Raum vorzustellen; wenn ich mir gleichzeitig Gegenstände und mich selbst im absoluten Raum in Bewegung vorstellen will, so sehe ich mich in Wirklichkeit unbeweglich, verschiedene sich bewegende Gegenstände und einen Menschen betrachtend, der außerhalb von mir ist, den ich aber Ich zu nennen gewöhnt bin.
Wird die Schwierigkeit gehoben sein, wenn man sich entschließt, alles auf die mit unserem Körper verbundenen Achsen zu beziehen? Wissen wir denn, was ein auf diese Weise durch seine Stellung in bezug auf uns bestimmter Punkt ist? Viele werden Ja antworten und sagen, daß sie die äußeren Gegenstände lokalisieren.
Was heißt das? Einen Gegenstand lokalisieren heißt einfach, sich die Bewegungen vorstellen, die man machen müßte, um ihn zu erreichen; das ist so zu verstehen, daß es sich nicht darum handelt, sich die Bewegungen selbst im Raume vorzustellen, sondern nur die Muskelempfindungen, die diese Bewegungen begleiten, und die den Raumbegriff nicht voraussetzen.
Wenn wir uns zwei Gegenstände denken, die nacheinander die gleiche Stellung in bezug auf uns einnehmen, so werden die Eindrücke, die diese zwei Gegenstände verursachen, sehr verschieden sein; wenn wir sie in dem gleichen Punkt lokalisieren, so geschieht das nur, weil wir die gleichen Bewegungen machen müssen, sie zu erreichen; abgesehen hiervon sieht man nicht wohl, was sie Gemeinsames haben könnten.
Aber bei einem gegebenen Gegenstand kann man mehrere Reihen von Bewegungen ersinnen, die gleicherweise erlauben würden ihn zu erreichen. Wenn wir uns also einen Punkt vorstellen, indem wir uns die Gruppen der Muskelempfindungen vergegenwärtigen, die die zu dem Punkt hinführenden Bewegungen begleiten, so wird man mehrere ganz verschiedene Arten haben, sich den Punkt vorzustellen. Will man sich mit dieser Lösung nicht zufrieden geben und außer den Muskelempfindungen etwa noch die Gesichtsempfindung zu Hilfe nehmen, so wird man eine oder zwei Arten mehr haben sich denselben Punkt vorzustellen, und die Schwierigkeit ist nur vergrößert. Immer wieder drängt sich uns die Frage auf: warum nehmen wir an, daß alle diese voneinander so verschiedenen Vorstellungen dennoch ein und denselben Punkt bedeuten?
Eine andere Bemerkung ist die: Ich habe eben gesagt, daß wir naturgemäß alle äußeren Gegenstände auf unseren eigenen Körper beziehen; daß wir ein System von Achsen sozusagen überall mit uns herumtragen, auf das wir alle Punkte des Raumes beziehen, und daß dieses System von Achsen gleichsam unveränderlich mit unserem Körper verbunden ist. Man muß beachten, daß man streng genommen nur von unveränderlich mit unserem Körper verbundenen Achsen sprechen könnte, wenn die verschiedenen Teile des Körpers selbst unveränderlich miteinander verbunden wären. Da dem nicht so ist, so müssen wir, ehe wir die äußeren Gegenstände auf diese imaginären Achsen beziehen, unseren Körper in der gleichen Haltung denken.
Ich habe in » Wissenschaft und Hypothese« die überwiegende Rolle nachgewiesen, die die Bewegungen unseres Körpers in der Entstehung des Raumbegriffs spielen. Für ein vollkommen unbewegliches Wesen würde es weder Raum noch Geometrie geben; mögen die äußeren Gegenstände noch so sehr ihren Ort wechseln, die Unterschiede, die diese Ortsveränderungen auf seine Eindrücke ausübten, würden von diesem Wesen nicht als Veränderungen der Lage, sondern einfach als Veränderungen des Zustandes angesehen; es hätte gar kein Mittel, die zwei Arten von Veränderungen zu unterscheiden, und der Unterschied, so wesentlich er für uns ist, hätte für dieses Wesen gar keinen Sinn,
Die Bewegungen, die wir unseren Gliedern erteilen, haben zur Folge, daß sich die Eindrücke, die die äußeren Gegenstände auf unsere Sinne hervorbringen, verändern; auch andere Ursachen können sie verändern, es gelingt uns aber, die durch unsere eigenen Bewegungen hervorgebrachten Veränderungen zu erkennen, und wir unterscheiden sie leicht aus zwei Gründen: 1. weil sie willkürlich sind, 2. weil sie von Muskelempfindungen begleitet sind.
So teilen wir naturgemäß die Veränderungen, die unsere Eindrücke erleiden können, in zwei Arten ein, die ich mit einem vielleicht ungeeigneten Namen belegt habe: 1. die inneren Veränderungen, die freiwillig und von einer Muskelempfindung begleitet sind, 2. die äußeren Veränderungen, deren Eigenschaften die entgegengesetzten Merkmale haben.
Wir beobachten sodann, daß es unter den äußeren Veränderungen einige gibt, die aufgehoben werden können dank einer inneren Veränderung, die alles auf den ursprünglichen Zustand zurückführt; andere können nicht auf diese Weise aufgehoben werden. So können wir uns einem Gegenstand gegenüber, der seinen Ort verändert hat, in die vorige Lage bringen, indem wir unseren Ort verändern, so daß die Gesamtheit der ursprünglichen Eindrücke wiederhergestellt wird; wenn der Gegenstand nicht den Ort, sondern den Zustand verändert hat, so ist das unmöglich. Dies ist ein neuer Unterschied zwischen den äußeren Veränderungen: die, die auf diese Weise aufgehoben werden können, nennen wir Veränderungen der Lage, die anderen Veränderungen des Zustandes.
Denken wir uns zum Beispiel eine Kugel, von der die eine Hälfte blau, die andere rot ist; sie zeigt uns zuerst die blaue Seite, dann dreht sie sich um sich selbst, so daß sie uns die rote Seite zuwendet. Nehmen wir nun an, wir hätten ein kugelförmiges Gefäß mit blauer Flüssigkeit gefüllt, die durch einen chemischen Vorgang rot würde. In beiden Fällen hat die Empfindung des Roten die des Blauen ersetzt; unsere Sinne haben die gleichen Eindrücke erfahren, die sich in gleicher Ordnung gefolgt sind, und doch sehen wir die beiden Veränderungen als sehr verschieden an; das erste ist eine Ortsveränderung, das zweite eine Veränderung des Zustandes. Warum?
Weil es im ersten Fall genügt, wenn ich um die Kugel herumgehe und mich der roten Halbkugel gegenüberstelle, um die ursprüngliche Empfindung des Roten wiederherzustellen.
Aber wenn die zwei Halbkugeln statt rot und blau, grün und gelb gewesen wären, wie wäre mir die Umkehrung der Kugel dann erschienen? Vorhin folgte das Rot dem Blau, jetzt folgt das Grün dem Gelb; und doch sage ich, daß die beiden Kugeln die gleiche Umdrehung ausgeführt haben, daß sich die eine wie die andere um ihre Achse gedreht hat; trotzdem kann ich nicht sagen, daß das Grüne sich zum Gelben verhalte wie das Rote zum Blauen; wie komme ich also dazu zu behaupten, daß die beiden Kugeln die gleiche Ortsveränderung erlitten haben? Augenscheinlich weil ich im einen wie im andern Fall den ursprünglichen Eindruck wiederherstellen kann, indem ich um die Kugel herumgehe, das heißt, die gleichen Bewegungen ausführe, und ich weiß, daß ich die gleichen Bewegungen ausführe, weil ich die gleichen Muskelempfindungen habe; um das zu wissen, brauche ich also vorher nichts von der Geometrie zu wissen oder mir die Bewegungen meines Körpers im geometrischen Raum vorzustellen.
Ein weiteres Beispiel ist folgendes. Ein Gegenstand wechselt seinen Ort vor meinen Augen; sein Bild wird zuerst auf den Mittelpunkt der Netzhaut geworfen, darauf bildet es sich an deren Rand ab; die frühere Vorstellung wurde mir durch eine Nervenfaser mitgeteilt, die im Mittelpunkt meiner Netzhaut endet, die jetzige Empfindung wird mir durch eine andere Nervenfaser übermittelt, die vom Rande der Netzhaut ausgeht; diese beiden Empfindungen sind qualitativ verschieden; wie würde ich sie sonst unterscheiden können?
Wie komme ich also dazu, zu urteilen, daß diese zwei qualitativ verschiedenen Eindrücke ein und dasselbe Bild vorstellen, das den Platz gewechselt hat? Weil ich dem Gegenstand mit dem Auge folgen kann und durch eine willkürliche und von einer Muskelempfindung begleitete Veränderung der Augenstellung das Bild in den Mittelpunkt der Netzhaut zurückbringen und den ursprünglichen Eindruck wiederherstellen kann.
Ich nehme an, daß zuerst das Bild eines roten Gegenstandes aus dem Mittelpunkt A in den Rand B der Netzhaut gerückt sei, und daß darauf das Bild eines blauen Gegenstandes seinerseits vom Mittelpunkt A an den Rand B der Netzhaut rückte: ich urteile, daß die beiden Gegenstände die gleiche Ortsveränderung erlitten haben. Warum? Weil ich im einen wie im andern Fall die ursprüngliche Empfindung wiederherstellen konnte, und weil ich hierzu die gleiche Bewegung des Auges ausführen mußte, und ich weiß, daß mein Auge die gleiche Bewegung ausgeführt hat, weil ich die gleiche Muskelempfindung dabei spürte.
Wenn ich mein Auge nicht bewegen könnte, so hätte ich auch keinen Grund zu der Annahme, daß der Eindruck des Roten im Mittelpunkt der Netzhaut sich zu dem Eindruck des Roten an deren Rand verhält wie der des Blauen im Mittelpunkt zu dem des Blauen am Rand. Ich hätte dann nur vier qualitativ verschiedene Empfindungen, und wenn man mich fragte, ob sie untereinander durch das soeben angegebene Verhältnis verbunden sind, so käme mir die Frage ebenso lächerlich vor, als wenn man fragte, ob es ein entsprechendes Verhältnis zwischen einer Empfindung des Gehörs, einer Empfindung des Gefühls und einer Empfindung des Geruches gäbe.
Betrachten wir nun die inneren Veränderungen, das heißt die, die durch willkürliche Bewegungen unseres Körpers hervorgebracht werden und mit Muskelverschiebungen verbunden sind. Sie geben Veranlassung zu den zwei folgenden Bemerkungen, die denen entsprechen, die wir soeben in bezug auf die äußeren Veränderungen gemacht haben.
1. Ich kann annehmen, daß sich mein Körper von einem Punkt zu einem anderen begibt, dabei aber in gleicher Haltung bleibt; alle Teile des Körpers haben also die gleiche gegenseitige Lage behalten oder wieder eingenommen, obgleich sich ihre absolute Lage im Raum geändert hat; ich könnte ebensogut annehmen, daß nicht allein der Standpunkt meines Körpers gewechselt hat, sondern daß auch seine Haltung nicht mehr dieselbe ist, daß zum Beispiel meine Arme, die verschränkt waren, jetzt ausgestreckt sind.
Ich muß also die einfachen Änderungen der Lage ohne Änderungen der Haltung von den Änderungen der Haltung unterscheiden. Beide erscheinen mir unter der Form der Muskelempfindung; wie kann ich sie also unterscheiden? Die ersteren können zur Aufhebung einer äußeren Veränderung dienen, die anderen können das nicht oder nur unvollkommen.
Das ist eine Tatsache, die ich jetzt erklären will, wie ich sie jemandem erklären würde, der schon Geometrie kennt; man darf aber daraus nicht schließen, daß man die Geometrie nötig hätte, um diesen Unterschied zu machen; bevor ich sie kenne, stelle ich die Tatsache (sozusagen experimentell) fest, ohne sie erklären zu können. Aber um den Unterschied zwischen den zwei Arten von Veränderung zu machen, brauche ich nichts zu erklären; es genügt, die Tatsache festzustellen.
Wie dem auch sei, die Erklärung ist leicht. Nehmen wir an, daß ein äußerer Gegenstand den Ort geändert hat; sollen nun die verschiedenen Teile unseres Körpers ihre ursprüngliche Stellung in bezug auf diesen Körper wieder einnehmen, so müssen diese verschiedenen Teile auch ihre gegenseitige ursprüngliche Stellung in bezug aufeinander wieder einnehmen. Nur die inneren Veränderungen, die dieser letzten Bedingung genügen, werden geeignet sein, die durch die Ortsveränderung des Gegenstandes herbeigeführten äußeren Veränderungen aufzuheben. Wenn sich also die Stellung meines Auges in bezug auf meinen Finger geändert hat, so werde ich zwar leicht die anfängliche Stellung des Auges zu dem Gegenstand wieder herbeiführen und damit die ursprünglichen Gesichtsempfindungen wiederherstellen können, aber die Stellung des Fingers in bezug auf den Gegenstand wird geändert sein und die Tastempfindungen werden nicht wiederhergestellt.
2. Wir bemerken ferner, daß ein und dieselbe äußere Veränderung durch zwei innere Veränderungen aufgehoben werden kann, die verschiedenen Muskelempfindungen entsprechen. Auch diese Wahrnehmung kann ich machen, ohne Geometrie zu kennen, und ich brauchte weiter nichts; aber ich will diese Tatsache mit Anwendung der geometrischen Sprache erklären. Um von der Stellung A zur Stellung B überzugehen, kann ich mehrere Wege einschlagen. Dem ersten dieser Wege entspricht eine Reihe R von Muskelempfindungen; einem zweiten Weg wird eine andere Reihe R' von Muskelempfindungen entsprechen, die im allgemeinen ganz verschieden sind, weil es andere Muskeln sind, die dabei ins Spiel kommen.
Wie komme ich dazu, diese zwei Reihen R und R' ein und derselben Ortsveränderung A B zuzuschreiben? Deshalb, weil diese beiden Reihen imstande sind, ein und dieselbe äußere Veränderung aufzuheben. Sonst haben sie nichts Gemeinsames.
Denken wir uns jetzt zwei äußere Veränderungen á und â, zum Beispiel die Umdrehung einer halb blauen, halb roten Kugel und die einer halb gelben, halb grünen; diese beiden Veränderungen haben nichts Gemeinsames, da die eine sich uns durch den Übergang von Blau in Rot und die andere durch den Übergang von Gelb in Grün zu erkennen gibt. Betrachten wir andererseits die zwei Reihen innerer Änderungen R und R'; sie werden gleichfalls nichts Gemeinsames haben. Und dennoch sage ich, daß a und â der gleichen Ortsänderung entsprechen und daß R und R' ebenfalls der gleichen Ortsänderung entsprechen. Warum? Ganz einfach, weil R ebensogut â als á aufheben kann, und weil á ebensogut von R' als von R korrigiert wird. Und nun stellt sich die Frage: wenn ich festgestellt habe, daß a und â von R und á von R' aufgehoben wird, bin ich dann sicher, daß R' auch â aufhebt? Nur die Erfahrung kann uns lehren, ob sich dieses Gesetz bewahrheitet. Wenn es sich nicht bewahrheiten würde, zum wenigsten annähernd, so würde es keine Geometrie, keinen Raum mehr geben, weil wir kein Interesse mehr daran hätten, die äußeren und inneren Veränderungen einzuteilen, wie ich es soeben getan habe, und zum Beispiel die Änderungen des Zustandes von den Änderungen der Lage zu unterscheiden.
Es ist interessant, zu sehen, welche Rolle in alledem die Erfahrung spielt. Sie hat mich gelehrt, daß ein gewisses Gesetz sich annähernd bewahrheitet. Sie hat mich nicht gelehrt, wie der Raum beschaffen ist, und ob er der fraglichen Bedingung genügt. Ich wußte in der Tat vor jeder Erfahrung, daß der Raum dieser Bedingung genügt oder gar nicht ist; ich kann also auch nicht sagen, daß die Erfahrung mich gelehrt hätte, daß die Geometrie möglich ist; ich sehe wohl, daß die Geometrie möglich ist, weil sie keine Widersprüche enthält; die Erfahrung hat mir nur gezeigt, daß die Geometrie nützlich ist.
Obwohl die Eindrücke der Bewegung, wie ich eben auseinandergesetzt habe, einen durchaus überwiegenden Einfluß auf die Entstehung des Raumbegriffes gehabt haben, der nie ohne sie hätte geboren werden können ist es nicht uninteressant, auch die Rolle der Gesichtseindrücke zu prüfen und zu untersuchen, wieviel Dimensionen der Sehraum hat, und hierzu die Definition des § 3 auf seine Eindrücke anzuwenden.
Da begegnet uns eine erste Schwierigkeit. Betrachten wir eine Empfindung von Rot, die einen bestimmten Punkt der Netzhaut angreift, und andererseits eine Empfindung von Blau, die den gleichen Punkt der Netzhaut angreift. Wir müssen irgend ein Mittel haben, zu erkennen, daß diese beiden qualitativ verschiedenen Empfindungen etwas Gemeinsames haben. Aber nach den Betrachtungen der vorhergehenden Paragraphen erkennen wir dies nur durch die Bewegungen des Auges und die Beobachtungen, zu denen sie Anlaß geben. Wenn das Auge unbeweglich wäre, oder wenn wir uns seiner Bewegungen nicht bewußt wären, so hätten wir nicht erkennen können, daß diese zwei Empfindungen verschiedener Eigenschaften etwas Gemeinsames haben; wir hätten das, was ihnen einen geometrischen Charakter gibt, nicht daraus ableiten können. Die Gesichtsempfindungen haben also ohne die Muskelempfindungen nichts Geometrisches, so daß man sagen kann, es gibt keinen reinen Sehraum.
Um diese Schwierigkeit zu heben, wollen wir nun Empfindungen der gleichen Natur betrachten, zum Beispiel Empfindungen der roten Farbe, die sich voneinander nur durch den Punkt der Netzhaut unterscheiden, den sie angreifen. Es ist klar, daß ich gar keinen Grund habe, eine so willkürliche Wahl zwischen all den möglichen Sehempfindungen zu treffen, daß ich alle Empfindungen der gleichen Farbe in eine Klasse vereinige, welchen Punkt der Netzhaut sie auch angreifen. Ich würde nie daran gedacht haben, wenn ich nicht vorher durch das Mittel, das wir soeben besprochen haben, gelernt hätte, die Veränderungen des Zustandes von den Veränderungen der Lage zu unterscheiden; das heißt, wenn mein Auge unbeweglich wäre. Zwei Empfindungen der gleichen Farbe würden mir, wenn sie zwei verschiedene Punkte der Netzhaut angreifen, im gleichen Maße in den Eigenschaften verschieden erscheinen, wie zwei Empfindungen verschiedener Farben.
Indem ich mich auf die Empfindung des Roten beschränke, setze ich mir eine künstliche Grenze und vernachlässige systematisch eine ganze Seite der Frage. Aber nur durch diesen Kunstgriff kann ich den Sehraum analysieren, ohne die Bewegungsempfindungen hineinzumischen.
Denken wir uns eine Linie über die Netzhaut gezogen, die ihre Oberfläche in zwei Teile teilt, und lassen wir die Empfindungen des Roten beiseite, die einen Punkt dieser Linie angreifen oder die, die zu wenig davon verschieden sind, um davon getrennt werden zu können. Die Gesamtheit dieser Empfindungen wird eine Art von Schnitt bilden, den ich S nennen will, und es ist klar, daß dieser Schnitt genügt, die Gesamtheit der möglichen Empfindungen des Roten zu teilen, und daß, wenn ich zwei Empfindungen des Roten nehme, die zwei auf verschiedenen Seiten der Linie liegende Punkte angreifen, ich nicht auf einem ununterbrochenen Wege von einem zum andern übergehen kann, ohne in einem bestimmten Augenblick eine zum Schnitt gehörige Empfindung zu berühren.
Wenn also der Schnitt n Dimensionen hat, so hat die Gesamtheit meiner Empfindungen des Roten oder, wenn man will, der Sehraum, n + 1 Dimensionen.
Jetzt betrachte ich die Empfindungen des Roten, die einen bestimmten Punkt des Schnittes S angreifen. Die Gesamtheit dieser Empfindungen wird einen neuen Schnitt S' bilden. Es ist klar, daß dieser den Schnitt S teilt, das Wort »teilt« immer im gleichen Sinn gebraucht.
Wenn also der Schnitt S' n Dimensionen hat, so hat der Schnitt S n + 1 und der ganze Sehraum n + 2 Dimensionen.
Würden alle Empfindungen des Roten, die den gleichen Punkt der Netzhaut angreifen, als identisch angesehen, so hätte der Schnitt S', da er sich auf ein einziges Element reduziert, Null Dimensionen und der Sehraum zwei.
Und doch sagt man häufig, daß das Auge uns die Empfindung einer dritten Dimension gibt und uns bis zu einem gewissen Grad erlaubt, die Entfernung der Gegenstände zu erkennen. Wenn man diese Empfindung zu zergliedern sucht, so wird man finden, daß sie sich entweder auf das Bewußtsein der Konvergenz der Augen, oder auf das der Anstrengung der Akkommodation zurückführen läßt, die die Augenmuskeln machen, um das Bild einzustellen.
Zwei Empfindungen des Roten, die den gleichen Punkt der Netzhaut angreifen, werden also nur dann als identisch angesehen, wenn sie von der gleichen Empfindung der Anstrengung der Akkommodation begleitet werden oder wenigstens von Empfindungen der Konvergenz und Akkommodation, die zu wenig verschieden sind, als daß man sie unterscheiden kann.
In dieser Hinsicht ist der Schnitt S' selbst ein Kontinuum, und der Schnitt S hat mehr als eine Dimension.
Nun lehrt uns aber die Erfahrung, daß zwei Sehempfindungen, wenn sie von der gleichen Empfindung der Konvergenz begleitet sind, ebenso von der gleichen Empfindung der Akkommodation begleitet werden.
Wenn wir nun einen neuen Schnitt S'' bilden mit all den Empfindungen des Schnittes S', die von einer bestimmten Empfindung der Konvergenz begleitet werden, so werden sie nach dem vorhergehenden Gesetz ununterscheidbar sein und als identisch angesehen werden können; also wird S'' kein Kontinuum sein und Null Dimensionen haben, und da S' von S'' geteilt wird, ergibt sich daraus, daß S' eine Dimension hat, S zwei, und der ganze Sehraum drei.
Wäre es aber ebenso, wenn uns die Erfahrung das Gegenteil gelehrt hätte, und wenn eine bestimmte Empfindung der Konvergenz nicht immer von derselben Empfindung der Akkommodation begleitet wäre? In diesem Fall könnten zwei Empfindungen, die den gleichen Punkt der Netzhaut angreifen und von der gleichen Empfindung der Konvergenz begleitet sind, also zwei Punkte, die beide zu dem Schnitt S'' gehören, nichtsdestoweniger voneinander unterschieden werden, weil sie von zwei verschiedenen Empfindungen der Akkommodation begleitet werden. Also wäre S'' seinerseits ein Kontinuum und hätte wenigstens eine Dimension, S' hätte dann zwei, S drei und der totale Sehraum hätte vier.
Wird man unter diesen Umständen sagen, die Erfahrung hätte uns gelehrt, daß der Raum drei Dimensionen hat, weil wir, von einem experimentellen Gesetz ausgehend, dazu gelangt sind, ihm drei zuzuschreiben? Aber wir haben ja hier sozusagen nur ein physiologisches Experiment gemacht, und man braucht nur geeignete Gläser vor die Augen zu nehmen, um den Einklang zwischen den Empfindungen der Konvergenz und der Akkommodation aufzuheben; wird man da sagen, es genüge, Brillen zu tragen, um dem Raum vier Dimensionen zu geben, so daß also der Optiker, der sie verfertigt hat, dem Raum eine Dimension mehr gegeben hätte? Sicherlich nicht; alles was wir sagen können ist, daß die Erfahrung uns gelehrt hat, daß es bequem ist, dem Raum drei Dimensionen zuzuschreiben.
Aber der Sehraum ist nur ein Teil des Raumes, und selbst im Begriff dieses Raumes liegt etwas Künstliches, wie ich zu Anfang auseinandergesetzt habe. Der wirkliche Raum ist der Bewegungsraum, und den wollen wir im folgenden Kapitel prüfen.