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von H. Weber.
Was ist Wahrheit? Diese große Weltfrage wird hier in der Einleitung flüchtig gestreift Ich erinnere mich hier der schönen Worte Newtons:
»Ich weiß nicht, als was ich der Welt dereinst erscheinen werde; aber ich selbst komme mir nur als ein am Meeresstrande spielender Knabe vor, der im Spiel hier und da einen glatteren Kieselstein oder eine schönere Muschel als gewöhnlich findet, während der große Ozean der Wahrheit ganz unentdeckt vor meinen Blicken liegt.«
Eine Naturphilosophie vergangener Tage hat geglaubt, das Verständnis der Welt aus einer einzigen Grundvoraussetzung deduktiv konstruieren zu können. Sie hat Schiffbruch gelitten und hat einer anderen Richtung Platz gemacht, die gelernt hat, sich zu bescheiden.
Wir sind hineingestellt in ein Meer von Tatsachen des Bewußtseins, des Denkens und Vorstellens mit der unbegrenzten Sehnsucht nach Verständnis und Erkenntnis der Welt. Wir können aber nichts tun, als in kleinen Schritten nach allen Seiten hin fortschreiten.
Wir können langsam vorwärtsschreitend zur Kenntnis neuer Tatsachen gelangen, und die Geschichte zeigt, wie Großes auf diesem Wege erreicht werden kann, indem jede Zeit auf der sicheren Grundlage der Errungenschaft der Vergangenheit weiterbaut. Aber unser Geist hat auch den Trieb zur Erkenntnis seiner selbst, zur Prüfung seines eigenen Bewußtseinsinhaltes und der Hilfsmittel seiner Tätigkeit. Auch hier können wir nicht von einem ersten, unumstößlichen Grundsatz ausgehend, das ganze Gebäude folgerichtig aufführen, auch hier können wir nur langsam Schritt für Schritt vorgehen, und dieser Weg ist weit dunkler und unsicherer.
Rings um uns liegt das unendliche Meer der Wahrheit, und wir überblicken nur unsere nächste Umgebung, und der aufmerksame Leser dieses Buches wird sich, des Eindrucks nicht erwehren können, wie unermeßlich das Feld der Fragen auch nach der Seite der logischen Erkenntnis hin sich ausdehnt. Es drängen sich immer mehr und tiefere Fragen auf, je weiter man kommt. Nur redliches Streben nach Wahrheit ist es, worin wir unsere Befriedigung finden müssen.
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Noch auf eins muß ich aufmerksam machen:
Der Strafrichter, der den Täter eines Verbrechens zu ermitteln sucht, der Historiker, der den Verlauf eines Krieges oder die verschlungenen Gänge der Politik aus den besten Quellen zu enthüllen strebt, sie suchen nach der Wahrheit, und sie können sie mit größerer oder geringerer Vollständigkeit, mit mehr oder minderer Wahrscheinlichkeit finden.
Hier gibt es kein Schwanken; hier gibt es nur Wahr oder Unwahr. Unwahres wahr nennen ist Lüge und Verbrechen.
Ebenso ist es mit dem beobachtenden Naturforscher, der sichere Tatsachen der Untersuchung oder Ergebnisse der Messung feststellen will. Wie aber steht es mit den naturwissenschaftlichen und philosophischen Theorien? Noch vor wenigen Jahrzehnten galt die Undulationstheorie des Lichtes als ein großer Fortschritt gegenüber älteren Anschauungen. Man nahm sie als Wahrheit an, bis sich eine andere Anschauung, die elektromagnetische Lichttheorie, Bahn gebrochen hat, der heutzutage die Physiker mehr zuneigen.
Wir sagen darum nicht, daß die Newtonsche oder Fresnelsche Lichttheorie unwahr gewesen sei; wir halten nur die eine für besser als die andere. Freilich, wenn eine Theorie mit Tatsachen der Erfahrung in Widerspruch tritt, dann muß sie verworfen werden, und in diesem Sinne können wir auch hier von Erkenntnis der Wahrheit sprechen. Niemand zweifelt mehr daran, daß die Schallerscheinungen mit Erschütterungen der Luft im Zusammenhang stehen. Von einer so sicheren Einsicht in das Wesen des Lichtes, der Elektrizität oder der Gravitation sind wir noch unendlich weit entfernt, und doch haben diese Theorien ihren bleibenden Wert. Und wir können wohl sagen, wenn ein Teil der Theorien auch bewiesen wäre, daß dahinter immer andere und tiefere Probleme lauern.
Noch anders aber verhält es sich mit den metaphysischen Theorien. Diese sind nur der unsicheren, unzähligen Selbsttäuschungen ausgesetzten inneren Erfahrung zugänglich und daher niemals durch äußere Erfahrungen zu bestätigen oder zu widerlegen. Ob es eine absolute Zeit und einen absoluten Raum gibt oder nicht, kann durch keine Erfahrungstatsache entschieden werden. Es handelt sich hier, wie in der ganzen Mathematik, um »Ideen«, die ein Eigentum unseres Geistes sind, gleichviel ob von uns selbst geschaffen oder uns ins Leben mitgegeben, durch die wir uns in der Welt zurechtfinden, die auch anders sein können, ohne daß man sie als unwahr zu verwerfen brauchte.
Wir werden in den folgenden Anmerkungen über Raum und Zeit und über Kausalität sehen, wie die Bildung von Klassen unser ganzes Denken beherrscht. Diese Klassen oder Gattungsbegriffe sind, wenn sie sich in unserm Bewußtsein verdichten, nicht mehr bloß die Summe von allen in ihnen enthaltenen Einzeldingen, sondern sie gewinnen eine Art selbständiger Existenz, wie die Zahl, der Raum, die Zeit.
Es sei hier gestattet, noch an die Worte Lessings zu erinnern: »Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: Wähle! ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!« Das ist das Menschenlos.
Schön und lebendig hat der Verfasser hier die beiden Geistesrichtungen geschildert, die in der Mathematik und wohl auch in anderen Wissenschaften die Forschung leiten, die intuitive und die logische, oder die geometrische und die analytische; man könnte auch sagen die mathematische und die naturwissenschaftliche. Sollte sich aber nicht, und vielleicht gerade bei den hervorragendsten und bahnbrechendsten Geistern, beides vereinigen lassen? Helmholtz, der der Medizin den Augenspiegel geschenkt und die Physik und die Physiologie mit so vielen Entdeckungen bereichert hat, fühlte sich gedrungen, die Grundlagen der Geometrie zu untersuchen, und in der Theorie der Sinneswahrnehmungen nach den psychologischen Voraussetzungen zu forschen. Heinrich Hertz, dem wir die Entdeckung der elektrischen Wellen verdanken, hat sein System der Mechanik mit der scharfsinnigen Hypothese der unsichtbaren Massen nach seiner eigenen Aussage hauptsächlich in der Absicht ausgebildet, um seinem Bedürfnis nach logischer Reinheit Genüge zu tun. Auch den Verfasser unseres Werkes selber, dem wir auf dem Gebiete der reinen Mathematik und der mathematischen Physik so viele schöne Entdeckungen verdanken, dürfen wir zu diesen vielseitigen Naturen zählen.
Was die Intuition in der Naturwissenschaft zu leisten vermag, und wo sie ihre Grenzen findet, zeigt sich deutlich bei Goethe, dem die künstlerische Anschauung auch in der Natur alles war. In der Morphologie hat sie ihm die geheimen Gesetze enthüllt, wenn er zum Beispiel in den Staubfäden und Blütenblättern umgewandelte Blätter, in den Schädelknochen umgewandelte Wirbel erkannte. Hier zeigt die lebendige Anschauung dem feinsinnigen Beobachter leise Züge, die zu fein sind, um in Worten und Definitionen ausgedrückt zu werden, über die der nicht dafür Organisierte leicht hinwegsieht. Es ist, wie wenn man einen Bekannten aus Tausenden mit unfehlbarer Sicherheit herauskennt, ohne daß man es in Worte ausdrücken oder auch nur sich vergegenwärtigen kann, worin die Kennzeichen bestehen. In dem physikalischen Teil der Farbenlehre, wo die mathematische Zergliederung der Erscheinungen unerläßlich ist, mußte ein so ausschließlich intuitiver Geist wie Goethe scheitern.
Eine vortreffliche Darlegung dieses Unterschiedes findet sich in dem Aufsatz von Helmholtz: » Über Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten.«
Das sogenannte Dirichletsche Prinzip ist eine Schlußweise, die in den Händen von Riemann außerordentlich fruchtbar gewesen ist, deren Strenge aber seitdem angefochten wird. Es beruht auf dem auf den ersten Blick evident erscheinenden Grundsatz, an dem selbst Gauß noch keinen Anstoß nahm, daß unter einer Menge von positiven Zahlwerten einer der kleinste sein muß. Dieser Satz ist unbestreitbar, wenn es sich um eine endliche Menge von Zahlen handelt. Daß es sich aber bei einer unendlichen oder stetig veränderlichen Menge von Zahlen nicht so verhält, kann folgendes Beispiel zeigen:
Sollen zwei Punkte A und B durch einen Weg miteinander verbunden werden so weiß jeder, daß dieser Weg am kürzesten ist, wenn er geradlinig ist. Soll der Weg von A über B nach C führen, so wird es auch für diese Aufgabe ein Minimum der Weglänge geben, und zwar ist dieser kürzeste Weg aus den geraden Linien A B und B C zusammengesetzt. Liegen aber diese drei Punkte nicht in gerader Linie, so muß dieser Weg bei B einen Knick, eine scharfe Ecke, haben. Soll also unter allen Wegen ohne scharfe Ecke der kürzeste gesucht werden, der von A über B nach C führt, so gibt es keinen solchen; denn der Weg wird um so kürzer, je mehr er sich dem geradlinigen Weg annähert, also je stärker seine Krümmung bei B ist.
Riemann selbst hat dieses Bedenken wohl empfunden und hat ihm durch eine besondere Betrachtung zu begegnen gesucht, die aber auch noch nicht alle denkbaren Möglichkeiten umfaßt.
Wie sehr sich die Ansichten über das, was an mathematischer Strenge zu fordern ist, im Laufe der Zeit ändern, das erkennt jeder, der einen Zeitraum der Geschichte der Wissenschaft überblickt, der sich nicht auf gar viele Jahrzehnte zu erstrecken braucht. Jede Kritik an den bisher für streng gehaltenen Schlüssen und Definitionen ruft neue Einwände und Bedenken hervor und begründet den Zweifel, ob selbst in der Arithmetik eine absolute Strenge möglich ist, die keinem Einwurf mehr Raum gibt. Man vergleiche hierüber, was in der ersten Anmerkung gesagt ist.
Der Ausdruck » Majoranten« ist bei den deutschen Mathematikern noch nicht allgemein bekannt. Wenn es sich zum Beispiel um die Konvergenz gewisser kompliziert gebauter, unendlicher Potenzreihen handelt, vergleicht man die Reihe mit einer anderen, deren Koeffizienten positiv und dem absoluten Wert nach größer sind als die Koeffizienten der ersten Reihe. Eine solche Reihe heißt eine Majorante der ersten, und die erste ist sicher konvergent, wenn es die zweite ist. Eine Majorante ist natürlich durch eine gegebene Reihe nicht bestimmt; man wählt sie möglichst einfach, so daß sie leicht auf ihre Konvergenz untersucht und womöglich sogar summiert werden kann. Auf diese Weise kann man zum Beispiel die Existenz von Lösungen von Differentialgleichungen feststellen, die gewissen Anfangsbedingungen genügen.
Dieser Methode hat sich bereits Cauchy unter dem Namen »Calcul des limites« bedient.
Man sehe über Majoranten: Goursat: Cours d'analyse, tome I, chapitre IX tome II. chapitre XIX. Poincaré widmet der Methode der Majoranten in dem Werke »Les méthodes nouvelles de la mécanique céleste« ein besonderes Kapitel (t. I, chap. II).
Über die Rolle, die das Zeitmaß und seine philosophische Begründung in der Mathematik spielt, sei außer den hier genannten Werken von Calinon und Andrade für die deutschen Leser besonders noch auf die Werke von Mach hingewiesen »Die Mechanik in ihrer Entwicklung« (1901) und »Analyse der Empfindungen« (1903), ferner auf den Bericht von Voß, »Die Prinzipien der rationellen Mechanik« in Bd. IV der »Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften« und auf den Bericht von Stäckel über »Elementare Mechanik« in der gleichen Enzyklopädie, woselbst sich viele Literaturangaben finden.
Gibt es einen absoluten Raum und eine absolute Zeit;
Es ist zweifellos, daß der gesunde Menschenverstand diese Frage zu allen Zeiten bejaht hat, und daß sich auch die Mechanik und die mathematische Physik auf diese Begriffe stützen. Ich erwähne hier nur Newton und Heinrich Hertz.
Ebenso sicher ist aber auch, daß das philosophische Denken daran Anstoß nimmt und die Realität dieser Begriffe in Zweifel zieht.
Nach Kant ist der Raum kein empirischer Begriff, sondern eine Vorstellung a priori, er ist die notwendige Form aller Erscheinungen der äußeren Sinne. Dagegen sagt Gauß (Selbstanzeige der Theoria residuorum biquadraticorum, commentatio secunda, Werke Bd. 2):
»Dieser Unterschied zwischen rechts und links ist, sobald man vorwärts und rückwärts in der Ebene einmal (nach Gefallen) festgesetzt hat, in sich völlig bestimmt, wenn wir gleich unsere Anschauung dieses Unterschiedes anderen nur durch Nachweisung an wirklich vorhandenen materiellen Dingen mitteilen können«, und fügt dann hinzu:
»Beide Bemerkungen hat schon Kant gemacht, aber man begreift nicht, wie dieser scharfsinnige Philosoph in der ersteren einen Beweis für die Meinung, daß der Raum nur Form unserer äußeren Anschauung sei, zu finden glauben konnte, da die zweite so klar das Gegenteil und daß der Raum unabhängig von unserer Anschauungsart eine reelle Bedeutung haben muß, beweist.«
Und Newton sagt in den »Mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie«:
»Tempus absolutum, verum et mathematicum in se et natura sua, sine relatione ad externum quodvis, aequabiliter fluit, alioque nomine dicitur Duratio: Relativum, apparens et vulgare est sensibilis et externa quaevis durationis per motum mensura (seu accurata seu inaequabilis) qua vulgus vice veri temporis utitur, ut hora, dies, mensis, annus.
Spatium absolutum, natura sua sine relatione ad externum quodvis, semper manet similare et immobile: Relativum est Spatii huius mensura, seu dimensio quaelibet mobilis, quae a sensibus nostris per situm suum ad corpora definitur et a vulgo pro spatio immobili usurpatur: uti dimensio spatii subterranei, aërii vel coelestia definito per situm suum ad terram.«
Von neueren diese Frage behandelnden Werken sei auf Liebmann »Zur Analysis der Wirklichkeit« und Mach »Die Mechanik in ihrer Entwicklung« hingewiesen.
Eine objektive Wirklichkeit, eine Realität, hat sicher der absolute Raum ebensowenig, wie es einen mathematischen Punkt, eine Linie usw. gibt. Ja ich möchte sagen, daß diese Frage gar keinen Sinn hat, ehe man genau definieren kann, was man unter Wirklichkeit versteht
Setzen wir den absoluten Raum voraus, so kommen wir auf folgendem Wege zu dem Begriff des mathematischen Punktes:
Ich unterscheide im Raum nach dem natürlichen Gefühl Teile, die nicht scharf gegeneinander abgegrenzt sind, doch so, daß es zu jedem dieser Raumteile andere gibt, die ganz in ihm enthalten sind, und andere, die gar nichts mit ihm gemein haben.
Ich gehe aus von irgend einem Raumteil A und nenne einen zweiten Raumteil A1 kleiner als A, wenn A1 ganz in A enthalten ist. Ich nehme eine unbegrenzte Reihe solcher Raumteile A, A1, A2, A3 …, deren jeder den folgenden und damit alle folgenden enthält Eine zweite solche Reihe B, B1, B2, B3 … heißt in der ersten enthalten, wenn für jedes hinlänglich große n ein Element Am gefunden werden kann, von dem Bn ein Teil ist.
Wenn sich zwei solche Reihen ( A, …) und ( B, …) gegenseitig enthalten, so heißen sie äquivalent. Alle untereinander äquivalenten Reihen dieser Art bilden ein Raumelement á. Unter den so definierten Raumelementen, die hiernach nichts anderes als Gattungsbegriffe sind, haben wir mathematische Punkte, Linien, Flächen und Körper zu suchen. Jeder einzelne Raumteil A, der in einem solchen Raumelement enthalten ist, heißt ein Repräsentant des Raumelementes, und die Anwendung setzt immer an Stelle der Gattung irgendeinen je nach Umständen passend gewählten Repräsentanten. In unserer Gedankenwelt verdichtet sich unwillkürlich der ganze Gattungsbegriff zu einer wenn auch unklaren Vorstellung eines idealen Einzeldinges, das mit dem Repräsentanten eine gewisse Ähnlichkeit hat; wir schaffen uns eine Idee, die neben dem Repräsentanten eine selbständige Existenz hat.
Eine zu á gehörige Reihe von Raumteilen A, A1, A2 … heißt eine repräsentierende Reihe.
Ein Raumelement heißt ein geometrischer Körper, wenn es einen Raumteil ? gibt, der in allen Repräsentanten von a enthalten ist.
Ein Raumelement â heißt ein Teil eines anderen Raumelementes á, wenn jede repräsentierende Reihe von â in einer repräsentierenden Reihe von á enthalten ist, ohne daß â mit á identisch ist.
In diesem Sinne können wir mit Euklid sagen:
Ein Punkt ist ein Raumelement, das keinen Teil hat.
Das besagt, ein Raumelement á heißt ein Punkt, wenn jede Reihe B, B1, B2, … die in einer repräsentierenden Reihe A, A1, A2 … von á enthalten ist, mit dieser Reihe äquivalent ist.
Auf ähnliche Weise kann man versuchen, zu dem Begriff der Linien und Flächen zu gelangen. Hier sind aber noch bedeutende Schwierigkeiten zu überwinden, ehe man auf diesem Wege zu einer wahren Begründung der Geometrie gelangt.
Jedenfalls ist mit diesen Vorstellungen ebensowohl die Euklidische wie die nicht-Euklidische Geometrie verträglich. (Vgl. Weber-Wellstein, Enzyklopädie der Elementarmathematik. Bd. II.)
Die Anwendung auf den absoluten Raum ist nun ganz ähnlich. Die Menschheit hat bis ins fünfzehnte Jahrhundert hinein, wenigstens in weit überwiegender Mehrheit, die Erde für fest gehalten, das heißt, sie hat alle Bewegungen auf ihre nächste Umgebung bezogen, auf Felsen, Berge, Häuser usw. Daß die Bewegung der Gestirne dem »Augenschein« entspreche, kann ich nicht zugeben; denn diese Bewegungen sind (wenigstens solange sie ohne Fernrohr betrachtet werden) zu langsam, um unmittelbar als Bewegung wahrgenommen zu werden. Es zeigt sich nur, daß die Gestirne nach kurzer Zeit ihre Stellung gegen irdische Dinge verändert haben, und erst ein Verstandesschluß führt auf Grund der als fest vorausgesetzten Erde auf die Annahme der Bewegung der Gestirne.
Hätte Kopernikus nicht an einen absoluten Raum geglaubt, so wäre er vielleicht zu einer ähnlichen Darstellung seiner welterschütternden Hypothese gelangt, wie sie später das System von Tycho-Brahe gegeben hat. Er wäre aber schwerlich in der ganzen Größe seiner Gedanken von der Welt verstanden worden, und Galilei hätte sich gegen die Anklage der Inquisition leicht verteidigen können, wenn er nicht am absoluten Raume festgehalten hätte.
Es war damit der Glaube an den absoluten Raum also keineswegs erschüttert; es galt nur ein anderer Körper, die Sonne, als fest und den absoluten Raum bestimmend. Wir wissen heute, daß auch dies nicht richtig ist, und nehmen an, daß alle Körper, soweit unser Auge in das Weltall dringt, gegeneinander in Bewegung sind. Einen festen Bezugskörper haben wir nicht gefunden; und wenn es einen solchen auch überhaupt nicht gibt, so können wir doch alle diese Versuche, ihn immer weiter und weiter hinauszuschieben, als die Idee des absoluten Raumes zusammenfassen, und wir tun dies unwillkürlich.
Wir werden zwar niemals in der Lage sein, diesen absoluten Raum durch die Erfahrung zu bestätigen. Aber eben darum haben wir auch nicht zu befürchten, durch ihn jemals mit irgend einer Erfahrung in Widerspruch zu geraten. Darum ist es erlaubt, und weitaus das bequemste, einfachste und verständlichste, mit diesem Begriff in der theoretischen Naturwissenschaft zu operieren.
Nicht anders ist es mit der absoluten Zeit. Wir haben verschiedene rhythmisch regelmäßig ablaufende Vorgänge unserer Wahrnehmung: unsere eigenen Pulsschläge, den Pendelschlag, den Gang der verschiedenen Uhren, den Wechsel zwischen Tag und Nacht oder zwischen Sommer und Winter, nach denen wir die Zeit messen. Fragen wir aber, ob diese Vorgänge sich wirklich gleich bleiben, oder ob langsame, nicht unmittelbar wahrnehmbare Veränderungen damit vorgehen, so geraten wir sofort in Schwierigkeiten. Womit sollen wir die Tageslänge vergleichen, wenn wir fragen, ob die Umdrehung der Erde sich im Lauf der Jahrhunderte geändert hat, oder wonach sollen wir messen, wenn wir den Gang einer Uhr kontrollieren wollen? Offenbar nach einem gewissen Durchschnitt aller dieser Zeitmesser-Instrumente; aber auch dieses ist an sich nichts Festes und scharf Bestimmtes, ohne die ideale oder absolute Zeit. In den Differentialgleichungen der Mechanik kommen Raum- und Zeitgrößen vor, aber jedes System der Mechanik hat darunter die absolute Zeit verstanden. Wollte man darunter eine praktisch gemessene Zeit, zum Beispiel den Schlag des Sekundenpendels, verstehen, so würden diese Gleichungen eine ganz andere, und zwar nicht zu übersehende Gestalt annehmen, die noch niemand aufzustellen versucht hat. Legen wir aber die absolute Zeit zugrunde, so sind sie – so nehmen wir wenigstens an – für jedes besondere Zeitmaß bis zu jedem beliebigen Grad der Genauigkeit gültig.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Vorstellung von Raum und Zeit besteht aber doch, nämlich darin, daß sich nicht nur die Vorgänge der Außenwelt, sondern auch unsere Gedanken in Zeitfolge abspielen, während diese zum Raum keine unmittelbare Beziehung haben; und es ist ferner noch auf den unserer Willkür gänzlich entzogenen, begrifflich nicht verständlichen Unterschied der Richtung in dem Zeitverlauf, die ganz verschiedene Stellung unseres Bewußtseins zur Vergangenheit und Zukunft hinzuweisen.
Woher diese Vorstellungen von Raum und Zeit stammen, in welchem Stadium unseres individuellen Lebens und unter welchen Einflüssen sie entstanden sind, mit anderen Worten, ob sie angeboren oder von empirischem Ursprung sind, ist durch Erfahrung niemals zu entscheiden, denn ihre Wurzeln liegen vor unserer bewußten Erinnerung. Auch kommt es darauf weniger an. Genug, daß wir diese Vorstellungen haben.
Helmholtz gibt ein anschauliches Bild von einer nicht-Euklidischen Welt.
In den glänzenden Kugeln, die man bisweilen in Gärten sieht, spiegelt sich die Außenwelt: die näheren Gegenstände größer, die entfernten stark verkleinert und verzerrt, der Horizont als eine in bestimmter Entfernung liegende Linie. Alles scheint im Innern der Kugel zu liegen. Wenn nun die Menschen in diesem Bilde Leben und Verstand hätten wie wir, so würden sie mit ihren Maßstäben genau dieselbe Zahl von Metern und Zentimetern, von Winkelgraden und Minuten herausmessen. Sie würden also glauben, daß die Winkelsumme im Dreieck zwei Rechte betrage und daß also ihre Geometrie die Euklidische sei, während sie uns sehr davon abzuweichen scheint. Was sie für gerade Linien halten, sind uns keine geraden Linien. Was sie für unendlich weit halten, erscheint uns in endlicher Entfernung. Wenn die Leute aus der Kugel heraus in unsere Welt schauen könnten, so würden sie von uns dieselbe Meinung haben wie wir von ihnen. In dieser Kugel, so klein sie sei, hat also die ganze Welt Platz.
Der Geometer erhält ein noch einfacheres Bild gleicher Art, wenn er die Außenwelt durch reziproke Radien auf das Innere einer Kugel abbildet.
Die Kritik der Euklidischen Geometrie hat eine lange Vorgeschichte, die in dem Werk von Stäckel und Engel »Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis auf Gauß« dargestellt ist. Die Originaluntersuchungen von Gauß, Johann Bolyai, Lobatscheffsky sind durch neuere Publikationen, ebenfalls von Stäckel und Engel, vollständiger zugänglich ( Gauß' Werke Bd. 8). Nach Gauß sind die Untersuchungen von Riemann und Helmholtz noch zu erwähnen. Bei beiden, wie auch schon bei Gauß, wird die Geometrie empirisch aufgefaßt; sie stützt sich entweder auf die Voraussetzung der Existenz starrer Körper oder auf den geradlinigen Weg des Lichtstrahls. Anders läßt sich wohl nicht verstehen, daß Gauß durch astronomische Beobachtungen die Richtigkeit des Parallelenaxiomes prüfen wollte.
Eine neue Begründung dieser Lehren hat Klein der projektiven Geometrie entnommen. Wie die »Bewegung« von Figuren, auf der die naive Anschauung der Kongruenz beruht, durch »Konstruktion« zu ersetzen sei, ist schon bei Euklid angedeutet und findet sich ausführlich dargestellt in Bd. II von Weber-Wellstein, Enzyklopädie der Elementarmathematik. Man vergleiche die Anmerkungen von F. Lindemann zu Poincaré, »Wissenschaft und Hypothese« (Deutsch von F. und L. Lindemann. 2. Auflage. Leipzig, Teubner 1906).
Ein anderes Ziel verfolgen die Untersuchungen von Hilbert, die nur darauf ausgehen, die logische Seite der Frage zu klären, ohne Rücksicht auf die physische oder metaphysische Bedeutung der in Frage stehenden Begriffe. Vergl. die Kritik von Poincaré in dem »Bulletin des sciences mathématiques von 1902 und in dem Aufsatz »Les mathématiques et la logique«. »Revue de métaphysique et de morale« 1905 und 1906.
In dem Ohr des Menschen und der meisten Tiere findet sich ein Organ, das aus drei halbkreisförmigen Bogengängen besteht, die in drei zueinander ungefähr rechtwinkligen Ebenen liegen. Es ist außer Zweifel, daß dieses Organ für die Orientierung im Raume wichtig ist, besonders, bei solchen Tieren, die in einem dreidimensionalen Medium, also im Wasser, leben. Man betrachtet die drei Ebenen gewissermaßen wie ein mit dem Körper verbundenes Koordinatensystem.
Unter den »Populär-wissenschaftlichen Vorträgen« von E. Mach (1903) findet sich einer, der diesem Gegenstand gewidmet ist. Dort ist auch eine stereoskopische Abbildung dieses Organes bei der Taube (nach R. Ewald) gegeben.
Es existiert eine sehr umfangreiche Literatur über diesen Gegenstand, der noch des Unsicheren und Zweifelhaften genug bietet. Eine kurze aber vollständige Darstellung der verschiedenen Ansichten und Tatsachen findet man in der 13. Auflage des Lehrbuches der Physiologie von L. Hermann (1905).
Die Theorie der Fourierschen Reihen hat in der Geschichte der mathematischen Physik und der Mechanik eine merkwürdige Rolle gespielt. Man vergleiche darüber die Einleitung zu Riemanns nachgelassener Abhandlung: »Über die Darstellbarkeit einer Funktion durch eine trigonometrische Reihe« ( Riemanns Werke, 2. Auflage, S. 227).
Fourier hat diese Reihen nicht entdeckt; er hat aber zuerst gezeigt, wie man eine gegebene Funktion in eine solche Reihe entwickelt, und sie dadurch erst in der mathematischen Physik allgemein anwendbar gemacht.
Den Beweis der Richtigkeit dieser Darstellung hat unter sehr allgemeinen Voraussetzungen über die Stetigkeit und Unstetigkeit der Funktionen Dirichlet gegeben (1829). Dirichlet ist es auch, der die ausgedehnteste Anwendung dieser Reihen und damit der stetig veränderlichen Größen in der Zahlentheorie gemacht hat. So hat er mit ihrer Hilfe den Satz bewiesen, daß in jeder arithmetischen Progression, wie zum Beispiel 4 ? + 3, 6 ? + 5, usw. unendlich viele Primzahlen enthalten sind, ein Satz, der, so einfach er auszusprechen und zu verstehen ist, ebenso schwer zu beweisen war.
Mit Bezug auf die von Dirichlet noch unerledigten Fälle unstetiger Funktionen, die freilich nach dem im Text Gesagten nur für den Analytiker, nicht für den Physiker von Bedeutung sind, hat später Paul du Bois-Reymond diese Reihen eingehend untersucht.
Frau von Kowalewski hat in der hier erwähnten Arbeit »Zur Theorie der partiellen Differentialgleichungen« (Crelles Journal, Bd. 80, 1875), die Existenz von Lösungen partieller Differentialgleichungen nachgewiesen, die durch Potenzreihen darstellbar sind, und des näheren untersucht, was an diesen Potenzreihen noch willkürlich ist. Diese Darstellungen sind gültig in einem gewissen Bereich der Variablen.
Die mathematische Physik verlangt aber etwas anderes. Hier ist der Bereich der Variablen von vornherein gegeben, und die Nebenbedingungen beziehen sich auf die Grenze dieses Bereichs. Bei dieser Aufgabe stellen sich dann in den Fällen, die überhaupt der Analysis zugänglich sind, Verallgemeinerungen der Fourierschen Reihen ein, deren Konvergenz aber noch nicht in allen Fällen bewiesen ist. Das sind die auf S. 117 unseres Textes erwähnten Reihen.
Für eine gewisse Klasse dieser Reihen ist die Konvergenz von dem japanischen Gelehrten Fujisawa bewiesen und in einer unter Christoffels Leitung in Straßburg geschriebenen Dissertation niedergelegt.
In bezug auf die hier behauptete Scheu der Griechen vor großen Zahlen ist doch einschränkend zu bemerken, daß Archimedes (287-212 v. Chr.) in der merkwürdigen, uns vollständig erhaltenen Schrift über die » Sandrechnung« eine Zahl zu bilden und zu benennen sucht, die größer ist als die Zahl der Sandkörner, die eine Kugel von der Größe des Weltalls ausfüllen. Er nimmt dabei für das Weltall eine Kugel an, deren Radius, wenigstens der Größenordnung nach, nicht viel hinter einer Fixsternweite zurückbleibt, und kommt zu einer Zahl, die nach unserer Schreibweise mit 64 Stellen geschrieben würde. Ja er geht in der Bildung seiner Zahlen noch weiter und erwähnt Zahlen, die mit 800 Millionen Nullen geschrieben würden.
Es ist hier vielleicht am Platze, einiges Nähere über diese Schrift des Archimedes und die darin auseinandergesetzten Annahmen über die Größe der Welt mitzuteilen. Die Schrift ist dem König Gelo, dem Sohne des Königs Hiero von Syrakus, gewidmet und beginnt mit den Worten: »Es gibt Leute, König Gelo, die da glauben, die Zahl der Sandkörner sei unendlich; nämlich nicht nur derer, die um Syrakus und im übrigen Sizilien sind, sondern derer, die sich in irgendeinem bewohnten oder unbewohnten Teil der Erde finden. Andere aber glauben zwar nicht, daß diese Zahl unendlich sei, aber daß keine Zahl benannt werden könne, die diese Menge überträfe. Was würden diese sagen, wenn sie sich eine Kugel vorstellten, so groß wie die Erdkugel, in der nicht nur die Meere und alle Höhlungen bis zu den höchsten Bergen mit Sand ausgefüllt wären! Noch viel weniger würden sie glauben, daß solche benannt werden können. Ich werde dir aber mit mathematischer Schärfe beweisen, daß unter den Zahlen, die ich in der Schrift an Zeuxippus benannt habe, solche sind, die nicht nur diese, sondern auch die Zahl der die ganze Welt erfüllenden Sandkörner übertreffen.« Das Mittel aber, das Archimedes anwendet, um große Zahlen zu benennen, ist kein anderes als das, dessen sich die Sprache in der Bildung der Zahlwörter bedient, indem sie Zehner, Hunderter, Tausender usw. als höhere Einheiten zusammenfaßt.
Das höchste der den Griechen geläufigen Zahlwörter ist die Myriade (Zehntausend). Er faßt daher eine Myriade von Myriaden als » erste Zahlen« zusammen und betrachtet diese Zahl (hundert Millionen) als Einheit der » zweiten Zahlen«. Indem er, so fortfahrend dritte, vierte usw. Zahlen bildet, kommt er leicht zu Zahlgrößen von schwindelnder Höhe. Wenn auch der Gedanke nach derselben Richtung weist, so ist der Grieche doch noch weit entfernt von der Vollkommenheit unseres dezimalen Ziffernsystems, das uns gestattet, auf einer einzigen Zeile Zahlen bis auf den Einer genau aufzuschreiben und mit ihnen zu rechnen, die die von Archimedes hier benannten Zahlen noch bei weitem übertreffen. Es ist kaum begreiflich, daß der Genius der Griechen diesen so einfachen und für unser Empfinden naheliegenden Gedanken nicht erfaßt oder in seiner enormen Bedeutung nicht erkannt hat.
Um aber sein Versprechen einzulösen, muß Archimedes zunächst eine Kugel konstruieren, die nach seiner Meinung das Weltall an Größe übertrifft. Er fährt also fort:
»Du weißt aber, daß die Welt von den meisten Astronomen für eine Kugel gehalten wird, deren Mittelpunkt der Erdmittelpunkt und deren Radius die Entfernung zwischen den Mittelpunkten der Erde und der Sonne sei. Aristarch aber, der Samier, hat eine Hypothese aufgestellt, nach der die Welt vielemal größer sei als dies. Er nimmt nämlich an, daß die Fixsterne und die Sonne unbeweglich seien, und daß die Erde auf einem Kreise, in dessen Mittelpunkt die Sonne steht, um die Sonne herumgewälzt werde; daß die Sphäre der Fixsterne denselben Mittelpunkt habe wie die Sonne, und so groß sei, daß der Kreis, auf dem die Erde gewälzt wird, zu der Entfernung der Fixsterne dasselbe Verhältnis hat, wie der Mittelpunkt der Kugel zu ihrer Oberfläche.«
Man muß, obwohl es hier nicht ausdrücklich gesagt ist, annehmen, daß Aristarch (um 280 v. Chr.) auch die Achsendrehung der Erde gelehrt habe, weil nur dann seine Hypothese mit der täglichen Bewegung der Fixsterne vereinbar ist.
Ausdrücklich bezeugt wird dies in einer Stelle bei Plutarch, aus der zugleich hervorgeht, daß es auch in damaliger Zeit religiöser Unduldsamkeit gegenüber nicht ungefährlich war, so kühne Behauptungen auszusprechen, so wenig wie zur Zeit Galileis.
Die Größenbestimmung nach der Annahme des Aristarch bereitet aber Archimedes eine große Schwierigkeit, denn, sagt er, ein Punkt hat zu der Fläche überhaupt kein Verhältnis, und er kann also nicht als Maß für die Entfernung der Fixsterne und die Größe der Erdbahn dienen. Aristarchs Ausspruch stimmt zwar durchaus mit unserer heutigen Anschauung überein, nach der wir uns eine endliche Begrenzung des Weltraumes nicht vorstellen können; aber Archimedes braucht für seine Sandrechnung bestimmte Zahlwerte. Er macht daher die willkürliche Annahme, Aristarch habe sagen wollen, die Entfernung des Fixsternhimmels verhalte sich zur Erdbahn wie das, was die gemeine Meinung für die Welt halte, nämlich die Sphäre der Sonnenentfernung, zu dem, was gewöhnlich als Mittelpunkt der Welt angenommen werde, nämlich zu der Erde.
Die Annahmen, die Archimedes seiner Berechnung zugrunde legt, sind darum von Interesse, weil sie uns zeigen, welche Vorstellungen die Alten von der Größe der Welt hatten, und wie sich diese Vorstellungen zu unserer heutigen Kenntnis verhalten. Archimedes geht überall darauf aus, Zahlen zu finden, die sicher nicht zu klein sind; so nimmt er den Erdumfang nicht größer als drei Millionen Stadien an, obwohl einige zu beweisen versucht hätten, der Umfang der Erde betrage 300 000 Stadien. Man rechnet das Stadium zu 185 m und erhält so den Erdumfang zu 55 500 km, während der richtige Wert 40 000 km beträgt.
Wer diese » Einige« sind, sagt uns Archimedes nicht. Indessen war es nicht schwer, sobald man die Kugelgestalt der Erde erkannt hatte, aus den Sternbildern, die an verschiedenen Orten im Zenit standen, wenn die Entfernung dieser Orte bekannt war, ungefähre Größenberechnung für den Erdumfang zu machen.
So sollen bereits die Chaldäer gelehrt haben, man könne die Erde etwa in einem Jahre umwandern, eine von der Wahrheit nicht allzuweit abweichende Angabe. Denn wenn man für die Stunde 5, also für den Tag 120 und für das Jahr 43 800 km Weglänge rechnet, so kommt man der richtigen Zahl 40 000 km ziemlich nahe.
Die beste Angabe, die das Altertum über die Erdgröße besaß, beruht auf der Gradmessung des Eratosthenes (276-195 v. Chr.). Dieser hatte gefunden, daß die Sonne in Alexandria zur Zeit des Sommersolstitiums am Mittag um den 50ten Teil des Kreisumfanges vom Zenit abstehe. Am gleichen Tage spiegelte sich in Syene die Mittagssonne in einem tiefen Brunnen, stand also dort im Zenit. Da Syene 5000 Stadien weiter südlich als Alexandria liegt, so ergibt sich hieraus der Erdumfang gleich 250 000 Stadien oder ungefähr 46 000 km also noch etwas zu groß, was bei der Ungenauigkeit der zugrunde gelegten Tatsachen nicht verwundern kann.
Diese Bestimmung kannte Archimedes noch nicht, und den andern Angaben, nach denen sich 300 000 Stadien für den Umfang der Erde ergeben, scheint er nicht besonders getraut zu haben, denn er setzt, seinem Prinzip getreu, immer eher zu große als zu kleine Dimensionen anzunehmen, den Erdumfang kleiner als drei Millionen Stadien und den Erddurchmesser kleiner als eine Million.
Nachdem also eine Zahl gefunden war, die für die Erdgröße genommen werden konnte, handelte es sich weiter darum, den Durchmesser der Welt, das heißt die Sonnenentfernung zu schätzen. Als Grundlage hierfür diente eine Beobachtung des Aristarch. Dieser scharfsinnige Astronom machte die vollständig richtige Bemerkung, daß in der Zeit, wo uns der Mond genau halbiert erscheint, Erde, Sonne und Mond ein beim Monde rechtwinkliges Dreieck bilden, und daß man also aus dem Winkel bei der Erde das Verhältnis zwischen den Abständen der Sonne und des Mondes von der Erde berechnen könne. Diesen Winkel nimmt er zu 87°, während er in Wirklichkeit 89° 50' beträgt, und erhält daraus das allerdings sehr falsche Resultat, daß die Sonne 19mal so weit von uns entfernt sei als der Mond (es sollte heißen 344mal). Dies ist ein durch die Ungenauigkeit der Messungsmethoden wohl erklärlicher Fehler, der sich in die späteren Größenbestimmungen überall einschleicht.
Damit ist aber noch keine absolute Größenbestimmung gegeben. Eine solche ist vielleicht schon von Aristarch, sicher aber von Hipparch (160-125 v. Chr.) versucht worden. Als bekannt werden dabei angesehen der wahre Durchmesser der Erde, das Verhältnis der Entfernungen von Sonne und Mond, für die ebenfalls die Zahl 19:1 angenommen wird, und endlich die scheinbaren Durchmesser der Sonne und des Erdschattens in der Entfernung des Mondes. Den letzteren bestimmt er aus der Zeit, die der Mond gebraucht, um während einer totalen Mondfinsternis durch den Erdschatten hindurchzugehen. Der scheinbare Durchmesser der Sonne war schon auf verschiedene Weise bestimmt, und Archimedes beschreibt uns selbst ausführlich ein Verfahren, das er dazu angewandt hat. Es ergibt sich, daß dieser scheinbare Durchmesser etwa ¹/680 der ganzen Kreisperipherie ist. Hipparch findet aus allen diesen Voraussetzungen, daß der Mond 59, die Sonne 1200 Erdradien von uns entfernt ist. Diese Zahl ist für den Mond ungefähr richtig, für die Sonne wegen des erwähnten Fehlers etwa 10mal zu klein.
Archimedes kannte die absolute Größenbestimmung nicht, und er wendet daher das folgende Verfahren an, um ein Maß zu finden, das sicher nicht zu klein ist.
Sonne und Mond haben ziemlich genau die gleiche scheinbare Größe. Dies lehrt nicht nur der Augenschein, sondern auch, wie Aristarch schon bemerkt hat, der Umstand, daß die Verfinsterung bei einer totalen Sonnenfinsternis nur wenige Minuten dauert, daß also die Spitze des Mondschattens die Erdoberfläche nur streift. Die wahren Größen von Sonne und Mond verhalten sich daher wie ihre Entfernungen, und Archimedes meint ganz sicher zu gehen, wenn er die Sonne nicht wie Aristarch 19mal, sondern 30mal so groß als den Mond annimmt, was allerdings noch mehr als 10mal zuwenig ist.
Nun ergibt sich aus den eigenen Beobachtungen des Archimedes, daß der Sonnendurchmesser etwa der 656te Teil des Umfanges der Sonnenbahn ist, und wiederum sagt er, um sicher zu gehen, wolle er annehmen, die Länge der Sonnenbahn sei nicht mehr als 1000mal größer als der Sonnendurchmesser.
Ferner sei die allgemeine Meinung der Astronomen, daß der Mond kleiner, die Sonne aber größer sei als die Erde. Daraus ergibt sich aber, wenn wir mit e, s, m die Durchmesser von Erde, Sonne und Mond bezeichnen, da s < 30 m, daß um so mehr s < 30 e, folglich 1000 s, das heißt der Umfang der Sonnenbahn < 30 000 e und der Durchmesser der Welt, da der Kreisumfang größer als der dreifache Durchmesser ist, kleiner als 10 000 e. Der Erddurchmesser e ist aber kleiner als eine Million und folglich der Durchmesser der Welt kleiner als 10 000 Millionen oder 1010 Stadien. Das würde aber für den Durchmesser der Sonnenbahn (oder – nach Aristarch – der Erdbahn) einen Wert geben, der kleiner ist als 1850 Millionen Kilometer. Diese Zahl ist etwa sechsmal so groß als der wahre Wert dieser Größe.
Es wird ferner vorausgesetzt, daß eine Kugel von der Größe eines Mohnkornes nicht mehr als 10 000 Sandkörner fasse, daß auf die Breite eines Fingers nicht mehr als 40 Mohnkörner gehen, und daß die Länge eines Stadiums nicht mehr als 10 000 Fingerbreiten betrage.
Archimedes hat also auch nach unserer Kenntnis sein Ziel erreicht; der Fehler, den er durch die Annahme eines zu kleinen Verhältnisses zwischen Sonnen- und Mondabstand begangen hat, wird durch die übrigen Annahmen, namentlich den zu großen Wert für den Erddurchmesser, mehr als ausgeglichen.
Um nun den Durchmesser der Welt in dem Sinne, den er Aristarch zuschreibt, zu finden, hat er diese Zahl im Verhältnis s: e zu vergrößern, das heißt mit 10 000 zu multiplizieren. Das gibt 1014 Stadien oder 10 13 km für den Radius der Fixsternsphäre. Dies ist ziemlich genau der Weg, den das Licht in einem Jahre zurücklegt, und die Entfernung des nächsten Fixsternes beträgt 4½ »Lichtjahre«.
Fassen wir also zusammen, so hat das griechische Altertum über die Größe der Erde und die Entfernung des Mondes von der Erde richtige Vorstellungen gehabt. Die Entfernung der Sonne hat es infolge einer ungenauen Messung für viel zu klein gehalten. Gleichwohl hat Archimedes auch für diese infolge vorsichtiger Schätzungen eine obere Grenze erhalten, die die wahre Sonnenentfernung noch übertrifft, und für die Entfernung der Fixsterne hat er, allerdings auf Grund einer ganz willkürlichen Annahme, eine Zahl erhalten, die, wenn auch noch viel zu klein, doch an die Entfernung der uns zunächst stehenden Fixsterne heranreicht.
Die Erdgröße hat später Ptolemäus mit 33 000 km zu klein angenommen, und dieser Annahme ist das ganze Mittelalter, wo Ptolemäus, ähnlich wie Aristoteles, in fast kanonischem Ansehen stand, gefolgt.
Es war dies einer der folgereichsten Irrtümer der Weltgeschichte; denn durch ihn wurde Columbus zu dem kühnen Wagnis der Weltumsegelung ermutigt, die zur Entdeckung der neuen Welt führte.
Auch Gauß steht in seiner Theorie der Kapillarität auf demselben Standpunkt wie Laplace. Er setzt Anziehungskräfte zwischen den Molekülen voraus, deren Gesetz nicht näher bekannt ist, von dem nur so viel angenommen wird, daß die Anziehung unmerklich wird, sobald die Moleküle einen merklichen Abstand voneinander haben, oder wie man sich auch ausdrückt, daß die Kräfte nur auf unendlich kleine Entfernung wirksam sind. Auf derselben Annahme beruhen die Theorien der Elastizität von Navier und von Poisson.
Wir Älteren, deren Studienzeit um die Mitte des vorigen Jahrhunderts liegt, sind noch durchaus in diesen Anschauungen aufgewachsen, die nicht nur einer naturwissenschaftlichen, sondern auch einer philosophischen Richtung der Zeit entsprachen. Am deutlichsten ist diese Anschauung ausgesprochen in der Einleitung zu der berühmten Abhandlung von Helmholtz »Über die Erhaltung der Kraft«, die im Jahre 1847 in der Berliner physikalischen Gesellschaft vorgetragen und im gleichen Jahre bei G. Reimer gedruckt ist.
Nach einer ausführlicheren Erörterung faßt sich Helmholtz dahin zusammen:
»Es bestimmt sich also endlich die Aufgabe der physikalischen Naturwissenschaften dahin, die Naturerscheinungen zurückzuführen auf unveränderliche, anziehende und abstoßende Kräfte, deren Intensität von der Entfernung abhängt. Die Lösbarkeit dieser Aufgabe ist zugleich die Bedingung der vollständigen Begreiflichkeit der Natur.«
Wie fremdartig klingen uns heute schon diese Worte; wie wenig entsprechen, sie unserm heutigen Denken. Wir sind in unsern Aussprüchen und im Verstehen der Natur bescheidener und kritischer geworden und haben gelernt, daß sich das Wesen der Naturerkenntnis nicht in eine so kurze und präzise Formel bannen läßt.
Es darf übrigens nicht unerwähnt bleiben, daß Helmholtz selbst bereits in den aus dem Jahr 1881 stammenden Zusätzen eine wesentliche Einschränkung diesen seinen früheren Ansichten hinzufügt ( Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften No. 1), wenn er sagt:
»Die philosophischen Erörterungen der Einleitung sind durch Kants erkenntnistheoretische Ansichten stärker beeinflußt, als ich jetzt noch als richtig anerkennen möchte. Ich habe mir erst später klar gemacht, daß das Prinzip der Kausalität in der Tat nichts anderes ist als die Voraussetzung der Gesetzlichkeit aller Naturerscheinungen. Das Gesetz, als objektive Macht anerkannt, nennen wir Kraft. Ursache ist seiner ursprünglichen Bedeutung nach das hinter dem Wechsel der Erscheinungen unveränderlich Bleibende und Seiende, nämlich der Stoff und das Gesetz seines Wirkens, die Kraft.«
Einen Anstoß zur Überwindung dieses älteren Standpunktes der Zentralkräfte hat Kirchhoff gegeben, der zunächst in der Elastizitätstheorie das Zurückgehen auf die Moleküle ausdrücklich verwirft.
In noch weitergehender Weise und grundsätzlich vertritt Kirchhoff diesen Standpunkt in seinen im Jahre 1876 in erster Auflage erschienenen Vorlesungen über Mechanik, in der gleich zu Anfang als die Aufgabe der Mechanik bezeichnet wird: »die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben.«
Seit Newton in der allgemeinen Schwere die Ursache der Bewegung der Himmelskörper erkannt zu haben glaubte, galt in der Naturforschung die Kausalität als oberster Grundsatz. Die verschiedenen Theorien, die zur Erklärung der Naturerscheinungen aufgestellt wurden, galten nur als Versuche, die Gründe der Erscheinungen zu erkennen.
Es war eine Art Glaubensartikel der Naturforschung, daß alles Geschehen einer strengen und erkennbaren Notwendigkeit unterworfen sei. Diese Auffassung beherrschte bis tief in das 19. Jahrhundert hinein die Wissenschaft, und besonders auch die Naturphilosophie, die mit ihrer Hilfe die Welt des Geschehens aus der Vernunft ableiten zu können glaubte.
Es kam eine Reaktion, die schließlich den Kausalbegriff mit allen seinen Dunkelheiten ganz aus der Naturforschung zu verdrängen schien und ihr Ziel in ganz anderer und exakterer Weise zu bestimmen suchte. Klar und bestimmt tritt diese veränderte Anschauung in der schon erwähnten Mechanik von Kirchhoff zutage, in der ausdrücklich das Forschen nach den Ursachen verworfen wird.
Diese Auffassung hat mehr und mehr an Boden gewonnen und die heutige mathematische Physik ist geneigt, ihre Theorien lediglich als einen kurzen zusammenfassenden Ausdruck für die Tatsachen der Beobachtung anzusehen. Sie erblickt in den Theorien nicht mehr objektive Wahrheiten, sondern unterscheidet sie nur nach ihrer größeren oder geringeren Zweckmäßigkeit zur Darstellung der Erfahrungstatsachen, das heißt nach ihrer Einfachheit und Allgemeinheit.
So richtig auch dieser Standpunkt bei dem heutigen Stand unserer Kenntnisse in Physik und Mechanik ist, so bedeutsame Fortschritte wir ihm verdanken, so kann doch keine Wissenschaft den Begriff der Kausalität entbehren, und alle Maßnahmen des praktischen Lebens sind von ihm beherrscht.
Wenn irgendwo eine Epidemie ausbricht, oder wenn in einer Stadt oder einem Stadtteil eine Krankheit endemisch ist, so wird der vernünftige Arzt nach den Ursachen forschen und sie zu beseitigen suchen. Der Chemiker wüßte seine Reaktionen nicht zu deuten, wenn er sie nicht auf ihre Ursachen zurückführte. Der Historiker, der mehr ist als bloßer Chronist, sucht die großen weltgeschichtlichen Ereignisse auf ihre Ursachen zurückzuführen, und der Statistiker fragt bei jeder auffallenden Abweichung von dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nach der Ursache.
Welche Bedeutung hat das Wort Ursache in diesen Beispielen, und welche bleibende Berechtigung kommt diesem Begriff in der Wissenschaft zu?
Ich habe vor 30 Jahren in einer kleinen Schrift (Über Kausalität in den Naturwissenschaften 1881) nach einer Antwort auf diese Frage gesucht, und was ich damals ausgeführt habe, scheint mir, wenn es auch wenig ist, auch heute noch richtig. Auch der Verfasser des vorliegenden Buches hat, wie aus mehreren Stellen hervorgeht, eine ähnliche Auffassung.
Die oft gegebene Erklärung: »irgendein A ist die Ursache von einem B oder B die Wirkung von A, wenn B nicht sein würde, falls A nicht wäre« ist unvernünftig; denn wir haben nur eine Welt und in dieser Welt ist das A; wie kann ich wissen, was in einer anderen Welt sein würde, in der das A nicht ist?
Wir fordern eine Ursache für ein Ereignis oder für eine Erscheinung, das heißt für jede Zustandsänderung in der Zeit, und die Ursache ist ein in der Zeit vorangegangenes Ereignis.
Um zu einer präzisen Erklärung dieses Begriffes zu gelangen, muß man aber nicht die Ereignisse einzeln betrachten, sondern muß sie in Klassen einteilen, und zwar so, daß eine Klasse, wenigstens der Möglichkeit nach, unbegrenzt viele, teils vergangene, teils zukünftige Einzelereignisse enthält. Wie wir eine solche Klasse bestimmen wollen, wie wir sie abgrenzen und beschreiben, steht durchaus in unserer Willkür. Sie muß nur so bestimmt sein, daß von jedem Einzelereignis, das uns die Welt bietet, entschieden ist, ob es in die Klasse gehört oder nicht. Von einer zweckmäßigen Abgrenzung der Klassen wird aber der Erfolg der wissenschaftlichen Forschung wesentlich abhängen. Im täglichen Leben, wo man von einem bestimmten Einzelereignis spricht, ist dieses als Repräsentant einer Klasse aufzufassen, und die Klassenbildung vollzieht sich unbewußt in der Sprache, indem von dem Einzelereignis alles Unwesentliche abgestreift wird.
Wenn sich nun zwei solche Ereignisklassen U und W derart eindeutig aufeinander beziehen lassen, daß jedem Ereignis der Klasse W ein Ereignis der Klasse U unmittelbar vorangeht und umgekehrt jedem Ereignis aus U ein Ereignis aus W unmittelbar folgt, so heißt U die Ursachsklasse, W die Wirkungsklasse.
Ist diese eindeutige Zuordnung vollzogen, so heißen auch zwei entsprechende Ereignisse u und w aus U und W Ursache und Wirkung voneinander.
Das Kausalitätsgesetz ist nun nichts anderes als das Axiom, daß jeder wohldefinierten Klasse W eine Ursachsklasse U entsprechen muß. Ich nenne es ein Axiom, weil ich nicht imstande bin, irgendeine weitere Begründung des Satzes zu geben, und weil er doch in unserer Überzeugung unerschütterlich feststeht und die Grundlage nicht nur der wissenschaftlichen Forschung, sondern jeden vernünftigen Handelns ist. Wie und wann uns diese Überzeugung geworden ist, wissen wir nicht. Man wird vielleicht geneigt sein, sie aus der Erfahrung abzuleiten. Jedoch scheint mir dagegen zu sprechen, daß dieser Satz selbst die Grundlage für jedes Lernen aus der Erfahrung bildet. Was berechtigt mich sonst zu der Annahme, daß, wenn neunundneunzigmal b auf a gefolgt ist, es das hundertstemal auch so sein wird?
Ich habe vorhin gesagt, daß die Ursache U der Wirkung W unmittelbar vorhergehen müsse. Nun aber wird die Klasse U wieder eine Ursache U1 haben, diese eine U2 usw. Man kann dann ebensogut auch U1 oder U2 … als Ursache von W betrachten und in diesem Sinne kann auch zwischen der Ursache und der Wirkung ein Zeitraum liegen. Immer aber muß die zusammenhängende Kette von Ursachen bis zu der in Frage stehenden Wirkung hinzugedacht werden, wenn wir sie auch nicht kennen. Wenn die Aussaat des Herbstes erst im kommenden Sommer ihre Früchte trägt, so hat der Same während des Winters in der Erde eine Entwicklung durchgemacht, die Schritt für Schritt aus einem Zustand den nächstfolgenden hervorbringt. Welches Glied der Kette wir gerade herausgreifen oder hervorheben, hängt außer von unserer Kenntnis besonders auch von dem speziellen Interesse ab, das wir im einzelnen Fall an der Erscheinung haben. In dem oben gebrauchten Beispiel wird der Landmann je nach Umständen die Qualität des ausgestreuten Samens oder die Witterungs- und Bodenverhältnisse als die Ursachen einer guten oder schlechten Ernte bezeichnen. Der Botaniker sucht die Ursachen an einer anderen Stelle.
Wenn ein Stein zur Erde fällt und dabei der Reihe nach die Strecken a, b, c, d nach den Fallgesetzen durchläuft, so ist die nächste Ursache des Durchlaufens der Strecke d das Durchlaufen von c, die entferntere aber das Durchlaufen von b oder von a. Dem Physiker, der die Fallgesetze untersucht, wird es nicht darauf ankommen, was zuerst den Stein seiner Unterlage beraubt und damit die Bewegung eingeleitet hat. In anderen Fällen aber, wenn zum Beispiel der fallende Stein einen Menschen erschlagen hat, wird es gerade darauf ankommen, was zuerst den Stein ins Rollen gebracht hat, und die Fallgesetze werden sehr gleichgültig sein.
Die Abgrenzung einer Ereignisklasse steht, wie schon gesagt, ganz in unserer Willkür. Je enger man eine Wirkungsklasse faßt, um so enger wird auch die entsprechende Ursachsklasse ausfallen müssen.
Aber nicht jede Einteilung wird gleich nützlich, gleich zweckmäßig sein. Im allgemeinen ist es von Vorteil, wenn die in dieselbe Klasse aufzunehmenden Ereignisse eine möglichst große Übereinstimmung in wesentlichen Merkmalen zeigen, wenn nicht heterogene Ereignisse in derselben Klasse vereinigt, wenig voneinander abweichende in verschiedene Klassen geworfen werden. Bei gutgewählten Klassen wird eine kleine Anzahl von Bestimmungen genügen, um sie hinreichend verständlich zu machen; ja die Sprache vollzieht von selbst solche Klassenbildungen, wovon Beispiele in Menge jedermann zur Hand sind.
Eine solche Klasse, die nur nahegelegene Ereignisse umfaßt, soll eine einfache Klasse heißen.
Wenn eine so einfache Ereignisklasse eine einfache Ursachsklasse hat, so ist dies ein Zeichen, daß die Ereignisse der ersten Klasse nicht nur in unserem Empfinden oder Denken einander naheliegen, sondern daß sie einen inneren Zusammenhang haben. Dann nennen wir sie natürliche Klassen. Je weniger die Ursachsklasse einfach ist, um so mehr trägt die Wirkungsklasse den Charakter des Zufälligen oder Künstlichen. Auch hierfür sind Beispiele jedem zur Hand. In dem oben besprochenen Fall ist das Wegnehmen der Stütze eines schweren Körpers zwar eine einfache, aber nicht eine natürliche Klasse, während wir das Fallen des Körpers als eine natürliche bezeichnen können. Wenn der geworfene Körper ein Würfel ist, so ist das Fallen auf irgendeine der Seiten 1, 2, …, 6 eine natürliche Klasse, das Fallen auf eine bestimmte Seite, etwa auf 6, ist zwar eine einfache, aber keine natürliche Klasse, das Ereignis ein zufälliges, weil es nicht möglich ist oder wenigstens außerordentlich kompliziert sein würde, die Würfe, durch die 6 fällt, von den übrigen durch bestimmte Merkmale zu unterscheiden.
Wenn man die Kette der Ursachen U, U1 U2 … einer Erscheinung W rückwärts verfolgt, so wird in der Regel der Charakter der Einfachheit mehr und mehr verloren gehen und zuletzt ganz schwinden, wenn auch nicht immer die nächste Ursache U die einfachste ist.
Die Aufgabe der Wissenschaft ist hiernach eine doppelte:
Die erste dieser beiden Aufgaben ist die einfachere, leichter zugängliche. Sie wird in den meisten Fällen zuerst und mit Sicherheit durch die Beobachtung gelöst.
Die zweite Aufgabe heißt die » Erklärung« der als natürlich erkannten Erscheinungsklasse; sie ist schwieriger und ihre Lösung unsicherer. Sie beruht meist nicht auf unmittelbarer Erfahrung, sondern auf Hypothese, die durch nachfolgende Vergleichung mit der Erfahrung mehr und mehr befestigt oder auch umgestoßen wird. Dies bedarf der Erklärung und wird durch einige Beispiele alsbald verständlich werden.
Ob eine Erscheinungsklasse einfach ist, das hängt zunächst nur davon ab, ob ihre Einzelereignisse in unserer Gedanken- oder Empfindungswelt nahe beieinander liegen, ohne daß sie darum eine innere Verwandtschaft zu haben brauchen.
Wenn sich aber in den Einzelerscheinungen einer einfachen Klasse irgendeine Übereinstimmung zeigt, die in der Beschreibung der Klasse an sich noch nicht liegt, dann schließen wir mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit, daß wir es mit einem inneren Zusammenhang, mit einer natürlichen Klasse zu tun haben. Diese Wahrscheinlichkeit kann für den praktischen Gebrauch zur vollen Gewißheit werden, und sie wird es am meisten, wenn die Übereinstimmung in festen einfachen Zahlenverhältnissen besteht. Zur Auffindung der zugehörigen Ursachsklasse wird dann eine Hypothese gemacht, deren Folgerungen mit der Erfahrung zu vergleichen sind, oder man versucht, die fragliche Erscheinungsklasse einer größeren, bereits erkannten Klasse einzuordnen.
Nehmen wir zum Beispiel die Erscheinungsklasse der höheren Temperatur im Sommer. Hier haben wir als einfache Ursache den höheren Stand der Sonne. Nehmen wir aber allgemein das Phänomen der Erwärmung überhaupt, so ergeben sich hier zunächst die allerverschiedenartigsten Ursachen, ein chemischer Prozeß (Verbrennung), Reibung, Stoß, elektrischer Strom, Strahlung usw. Die Erscheinungsklasse der Erwärmung ist hier definiert durch unser Temperaturgefühl, das in allen diesen Fällen das gleiche ist. Wir bemerken aber in allen diesen Erscheinungen, gleichviel aus welcher Quelle sie stammen, noch andere Übereinstimmungen, die mit dem Temperaturgefühl nichts zu tun haben, zum Beispiel Volumenvergrößerung der von der Erwärmung getroffenen Körper, chemische Prozesse, die durch sie eingeleitet werden, Thermoströme usw. In allen diesen Beziehungen sind diese verschiedenen Arten der Erwärmung durchaus nicht voneinander zu unterscheiden. Daraus schließen wir, daß die Erwärmung eine natürliche Klasse bildet, und daß also eine einfache Ursachsklasse dazwischen geschoben werden muß. Die ältere Physik versuchte es mit der Hypothese eines Wärmestoffs. Später hat man die Erklärung in einer unsichtbaren Bewegung gesucht.
Die Tatsache der Beobachtung, daß sich die chemischen Verbindungen immer nach einfachen Zahlenverhältnissen vollziehen, verlangt ebenfalls eine einfache Ursache. Wir sind vollständig davon überzeugt, daß dieses Zusammentreffen nicht zufällig sein kann. Die Chemie hat die Erklärung in der Annahme der Atome gesucht, das heißt in der Unterordnung der Erscheinung unter die allgemeine Klasse der Verbindung von unveränderlichen körperlichen Einheiten.
Daß die Bahnen der Planeten in wenig verschiedenen Ebenen liegen, und daß alle im gleichen Sinne um ihre Achsen und um die Sonne rotieren, kann nicht Zufall sein. Newton, der diese Erscheinung aus seinem Gesetz nicht ableiten konnte, glaubte die Erklärung nur in der Absicht des Schöpfers finden zu können. Die Hypothesen von Kant und Laplace geben dafür eine naturwissenschaftliche Erklärung, indem sie diese Übereinstimmung aus einem gemeinsamen Ursprung der Körper des Planetensystems ableiten.
Laplace hat nachgewiesen, daß sich bei den Kometenbahnen keinerlei ähnliche Gesetzmäßigkeit zeigt, und daß auch die Seltenheit von merklich elliptischen oder hyperbolischen Bahnen nicht als Zeichen einer natürlichen Klasse zu deuten, sondern durch die Gesetze des Zufalls hinlänglich begründet ist, etwa so wie es selten ist, daß ein Würfel oftmals hintereinander auf dieselbe Zahl fällt.
Eine Erklärung wird um so befriedigender sein, einen je größeren Kreis von Erscheinungen sie umfaßt, je mehr es also gelungen ist, die zu erklärende Erscheinungsklasse einer größeren Klasse unterzuordnen, die bereits erklärt ist, oder wenigstens als erklärt betrachtet wird. So war es ein großer Fortschritt, als Ampère die magnetischen Erscheinungen in allen ihren Einzelheiten als elektrische Vorgänge auffassen lehrte. Noch weiter geht die Maxwellsche Theorie, die Elektrizität, Magnetismus und Optik in eine große Klasse zusammenfaßt. Vielleicht gelingt es mit der Zeit, auch die allgemeine Schwere mit diesen Erscheinungen in eine Klasse zu vereinigen.
Wir haben hier die Kausalität, den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung empirisch aufgefaßt. Was das innere Wesen der Kausalität ist, wie die Körper es machen, sei es nun durch Stoß, Druck, Spannung oder Fernkräfte, das ist uns verborgen. Und wenn es auch gelingen sollte, darin einen Schritt weiterzukommen, so ist damit das Rätsel immer noch nicht gelöst; denn auch diese Begriffe sind uns ihrem Wesen nach unverständlich und nur aus der täglichen Gewohnheit und durch die Erfahrung am eigenen Leibe plausibel.
Zu Archimedes kam ein wißbegieriger Jüngling.
»Weihe mich«, sprach er zu ihm, »ein in die göttliche Kunst,
Die so herrliche Frucht dem Vaterlande getragen,
Und die Mauern der Stadt vor der Sambuca beschützt!«
»Göttlich nennst du die Kunst? Sie ist's«, versetzte der Weise;
»Aber das war sie, mein Sohn, eh sie dem Staat noch gedient.
Willst du nur Früchte von ihr, die kann auch die sterbliche zeugen;
Wer um die Göttin freit, suche in ihr nicht das Weib.«
Schiller.
Plutarch erzählt in der Lebensbeschreibung des römischen Feldherrn Marcellus, worin er über die Belagerung von Syrakus und die Angriffe der Römer auf die Mauern berichtet:
»Aber alles dies war für nichts zu rechnen gegen Archimedes und dessen Maschinen, Werke, die der Erfinder selbst nicht für solche ausgab, die der Mühe lohnten, sondern die er nur nebenher als Spielereien der Geometrie auf dringendes Bitten des Königs Hiero anfertigte, der ihn endlich zu bereden wußte, seine Kunst von bloß intellektuellen Dingen auf körperliche zu übertragen, die Theorie gewissermaßen durch die Sinne mit den täglichen Bedürfnissen in Berührung zu bringen und dadurch dem großen Haufen deutlicher und verständlicher zu machen.«
Derselbe Schriftsteller erzählt weiter, daß Plato sich darüber ereifert habe, daß Eudoxus und Archytas die Geometrie auf die Maschinenkunst angewandt und dadurch die Würde der Geometrie ganz vernichtet haben, wodurch sie vom Unkörperlichen und Intellektuellen zum Sinnlichen herabgedrückt werde. »So wurde die Mechanik von der Geometrie gänzlich ausgeschlossen, von der Philosophie verachtet und nur als eine dem Kriegswesen dienende Kunst betrachtet.«
Etwas höher schätzen wir heutzutage doch die Beziehung der Wissenschaft zu den Anwendungen.
Den hohen geistigen Genuß, den die Mathematik, und besonders ihr edelster Zweig, die Zahlentheorie, ihren Jüngern gewährt, schildert Hilbert in dem Vorwort zu seinem »Bericht über die Theorie der algebraischen Zahlkörper« in den Schriften der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (1897), und Pringsheim in seiner Festrede »Über Wert und angeblichen Unwert der Mathematik« führt eine Stelle aus Novalis an, in der dieser Dichter der Romantik, der übrigens selbst nicht Mathematiker war, der Mathematik ein überschwengliches Lob spendet:
»Das Leben der Götter ist Mathematik. Alle göttlichen Gesandten müssen Mathematiker sein. Reine Mathematik ist Religion. Die Mathematiker sind die einzig Glücklichen. Der Mathematiker ist Enthusiast per se. Ohne Enthusiasmus keine Mathematik.«