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Wir werden oft gefragt, wozu die Mathematik gut ist, und ob die feinen Konstruktionen, die ganz und gar unserem Geiste entstammen, nicht künstlich und Kinder unserer Launen sind. Zwischen denen, die diese Frage stellen, ist ein Unterschied zu machen. Die praktischen Menschen verlangen von uns nur das Mittel, Geld zu erwerben. Diese verdienen keine Antwort; vielmehr sollten wir sie fragen, wozu man viele Reichtümer ansammelt, und ob man über der Sorge, sie zu gewinnen, Kunst und Wissenschaft vernachlässigen darf, die allein unsere Seelen befähigen, sie zu genießen,
et propter vitam vivendi perdere causas.
Übrigens ist eine, nur auf die Anwendung gerichtete Wissenschaft unmöglich; Wahrheiten sind nur fruchtbar, wenn eine mit der anderen verkettet ist. Wenn man sich nur an diejenigen hält, von denen man einen unmittelbaren Erfolg erwartet, so fehlen die verbindenden Glieder, und es ist keine Kette mehr.
Die Menschen, die die Theorie am meisten verachten, finden darin, ohne es zu ahnen, eine tägliche Nahrung; wäre man dieser Speise beraubt, so würde der Fortschritt schnell innehalten, und wir würden bald in chinesischer Regungslosigkeit erstarren.
Doch genug von diesen unverbesserlichen Praktikern. Außer diesen gibt es noch Menschen, die die Natur erkennen wollen und nur danach fragen, ob wir imstande sind, sie ihnen besser kennen zu lehren.
Um ihnen zu antworten, brauchen wir nur auf die beiden schon errichteten Denkmäler der Wissenschaft, die Himmelsmechanik und die mathematische Physik hinzuweisen.
Sie werden uns sicherlich zugeben, daß diese stolzen Bauwerke wohl der Mühe wert sind, die sie uns gekostet haben. Das ist aber nicht genug. Die Mathematik hat ein dreifaches Ziel. Sie soll ein Instrument zum Studium der Natur liefern. Sie hat aber auch ein philosophisches und, ich möchte sagen, ein ästhetisches Ziel, Sie soll dem Philosophen helfen, die Begriffe der Zahl, des Raumes und der Zeit zu vertiefen. Überdies aber bereitet sie ihren Jüngern ähnliche Genüsse, wie die Malerei und die Musik. Sie bewundern die zarte Harmonie der Zahlen und der Formen; sie bewundern eine neue Entdeckung, die ihnen eine unerwartete Aussicht eröffnet; und hat die Freude, die sie empfinden, nicht einen ästhetischen Charakter, obgleich die Sinne gar nicht beteiligt sind? Wenige Auserwählte sind berufen, sie vollständig zu genießen, aber ist es nicht ebenso bei den edelsten Künsten?
Darum zögere ich nicht, zu sagen, daß die Mathematik um ihrer selbst willen gepflegt zu werden verdient, und zwar die Theorien, die nicht auf die Physik angewendet werden können, ebensogut wie die anderen.
Selbst wenn das physikalische und das ästhetische Ziel nicht unzertrennlich wären, so dürften wir weder das eine noch das andere opfern.
Aber zudem können diese beiden Ziele gar nicht voneinander getrennt werden, und das beste Mittel, das eine zu erreichen, ist, das andere ins Auge zu fassen, oder wenigstens es nie aus dem Gesicht zu verlieren. Ich will mich bemühen, dies zu beweisen, indem ich die Natur der Beziehungen zwischen der reinen Wissenschaft und ihren Anwendungen darlege.
Der Mathematiker darf dem Physiker nicht bloß Formeln liefern, es muß zwischen ihnen ein viel engeres Zusammenarbeiten bestehen.
Die mathematische Physik und die reine Analysis sind nicht nur aneinander grenzende Mächte, die gute Nachbarschaft halten, sie durchdringen sich gegenseitig, und ihr Geist ist derselbe.
Das wird man besser verstehen, wenn ich gezeigt habe, was die Physik von der Mathematik empfängt und was die Mathematik dagegen von der Physik entlehnt.
Der Physiker kann vom Analytiker nicht verlangen, daß er ihm eine neue Wahrheit enthülle; höchstens kann er ihm helfen, sie zu ahnen.
Seit langer Zeit denkt niemand mehr daran, der Erfahrung zuvorzukommen oder die Welt in allen Stücken auf einigen vorschnellen Hypothesen aufbauen zu wollen. Von all den Gebäuden, an denen man noch vor einem Jahrhundert ein naives Gefallen fand, bestehen heute nur noch Ruinen.
Alle Gesetze sind aus der Erfahrung gezogen; um sie aber auszudrücken, brauchen wir eine besondere Sprache; unsere gewöhnliche ist zu arm, sie ist auch zu unbestimmt, um so zarte, genaue und inhaltreiche Beziehungen auszudrücken.
Dies ist also ein erster Grund, weshalb der Physiker die Mathematik nicht entbehren kann: sie schafft ihm die einzige Sprache, die er sprechen kann. Und eine zweckmäßig gebildete Sprache ist nichts Gleichgültiges. Um bei der Physik zu bleiben, so hat der Unbekannte, der das Wort Wärme erfunden hat, ganze Generationen dem Irrtum preisgegeben. Man hat die Wärme als Stoff behandelt, bloß weil sie durch ein Substantiv bezeichnet war, und hat sie für unzerstörbar gehalten.
Hingegen hatte der, der das Wort Elektrizität erfunden hat, das unverdiente Glück, die Physik unbeabsichtigt durch ein neues Gesetz zu bereichern, das der Erhaltung der Elektrizität, das sich durch einen Zufall als richtig erwiesen hat, wenigstens bis jetzt.
Um bei dem Vergleich zu bleiben: die Schriftsteller, die die Sprache verschönern, die sie als eine Kunst behandeln, machen daraus gleichzeitig ein Werkzeug, das viel biegsamer und viel geeigneter ist, die Feinheiten des Gedankens wiederzugeben.
Es ist also verständlich, wie der Analytiker, der ein rein ästhetisches Ziel verfolgt, gerade hierdurch dazu beiträgt, eine Sprache zu schaffen, die geeigneter ist, den Physiker zu befriedigen.
Aber das ist nicht alles; das Gesetz geht aus der Erfahrung hervor, aber es geht nicht unmittelbar daraus hervor. Die Erfahrung ist persönlich, das daraus entnommene Gesetz ist allgemein; die Erfahrung ist nur annähernd, das Gesetz ist genau oder trachtet wenigstens danach, es zu sein. Die Erfahrung vollzieht sich immer unter verwickelten Umständen; der Wortlaut des Gesetzes schafft diese Verwickelungen weg. Man nennt das »die systematischen Fehler verbessern«.
Mit einem Wort, um aus der Erfahrung das Gesetz zu entnehmen, muß man verallgemeinern; das ist eine Notwendigkeit, die sich dem allerbedächtigsten Beobachter aufdrängt.
Wie aber verallgemeinern? Jede einzelne Wahrheit kann ersichtlich auf unendlich viele verschiedene Arten ausgedehnt werden; man muß eine Wahl treffen, wenigstens vorläufig. Was wird uns bei dieser Wahl leiten?
Das kann nur die Analogie. Aber wie unbestimmt ist dieses Wort! Der natürliche Mensch kennt nur die groben Analogien, die den Sinnen auffallen, die der Farben und der Töne. Er würde nicht darauf gekommen sein, zum Beispiel das Licht und die strahlende Wärme miteinander in Verbindung zu bringen.
Wer hat uns die wirklichen, tiefen Analogien kennen gelehrt, die die Augen nicht sehen, die der Verstand ahnt?
Es ist der mathematische Geist, der die Materie verschmäht, um sich an die reine Form zu halten. Er ist es, der uns lehrt, Dinge mit dem gleichen Namen zu nennen, die sich nur durch den Stoff unterscheiden, zum Beispiel die Multiplikation der Quaternionen und die der ganzen Zahlen.
Wären die soeben erwähnten Quaternionen von den englischen Physikern nicht so unmittelbar angewendet worden, so würden viele nur eine müßige Träumerei darin sehen, und doch hätten sie uns, indem sie uns lehrten, zusammenzubringen, was der Anschein trennt, schon fähiger gemacht, in die Geheimnisse der Natur einzudringen.
Das sind die Dienste, die der Physiker von der Analysis zu erwarten hat; damit diese Wissenschaft sie ihm aber leisten kann, muß sie im allerweitesten Sinne gepflegt werden, ohne Rücksicht auf den unmittelbaren Nutzen. Der Mathematiker muß als Künstler arbeiten.
Was wir von ihm verlangen, ist, daß er uns hilft, zu sehen, unseren Weg zu erkennen in dem Labyrinth, das sich vor uns auftut. Denn der sieht am besten, der sich am höchsten erhoben hat.
Es fehlt nicht an Beispielen, und ich beschränke mich auf die schlagendsten.
Das erste zeigt uns, wie es genügt, die Sprache zu wechseln, um Verallgemeinerungen zu entdecken, die man vorher nicht vermutete.
Als das Newtonsche Gesetz an die Stelle des Keplerschen trat, kannte man nur die elliptischen Bewegungen. Aber was diese Bewegungen betrifft, unterscheiden sich die beiden Gesetze nur durch die Form; man gelangt von einem zum anderen durch eine einfache Differentiation.
Und doch kann man nach dem Newtonschen Gesetz durch eine unmittelbare Verallgemeinerung alle Wirkungen der Störungen und die ganze Himmelsmechanik ableiten. Niemals dagegen würde man, wenn man den Keplerschen Wortlaut beibehalten hätte, die Bahnen der gestörten Planeten, diese komplizierten Kurven, deren Formeln nie ein Mensch aufgeschrieben hat, als natürliche Verallgemeinerung der Ellipse betrachtet haben. Die Fortschritte der Beobachtungen würden nur dazu geführt haben, an das Chaos zu glauben.
Das zweite Beispiel verdient gleichfalls, überdacht zu werden.
Als Maxwell seine Arbeiten anfing, gaben die Gesetze der Elektrodynamik, die bis dahin angenommen waren, von allen bekannten Tatsachen Rechenschaft. Es war keine neue Erfahrung, die sie entkräftet hat.
Indem Maxwell sie aber unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtete, erkannte er, daß die Gleichungen symmetrischer wurden, wenn man ein Glied hinzufügt, und andererseits war dieses Glied zu klein, um Wirkungen hervorzubringen, die mit den alten Methoden nachweisbar waren.
Es ist bekannt, daß die Anschauungen a priori von Maxwell zwanzig Jahre auf eine experimentelle Bestätigung warten mußten, oder, mit anderen Worten, Maxwell ist der Erfahrung um zwanzig Jahre zuvorgekommen.
Wie wurde dieser Triumph erreicht? Das geschah, weil Maxwell von dem Gefühl der mathematischen Symmetrie tief durchdrungen war. Wäre das möglich gewesen, wenn nicht andere vor ihm diese Symmetrie ihrer eigenen Schönheit halber aufgesucht hätten?
Es geschah, weil Maxwell gewöhnt war »in Vektoren zu denken«, und die Vektoren wurden in die Analysis eingeführt durch die Theorie der imaginären Zahlen. Und die Erfinder der imaginären Zahlen ahnten kaum den Nutzen, den diese einst dem Studium der wirklichen Welt bringen würden; der Name, den sie ihnen gegeben haben, beweist das ausreichend.
Maxwell war vielleicht kein geschickter Analytiker; diese Geschicklichkeit wäre aber für ihn nichts gewesen als ein unnötiger und störender Ballast. Dagegen hatte er im höchsten Grade den feinen Sinn für die mathematischen Analogien. Darum konnte er in der mathematischen Physik Gutes leisten.
Das Beispiel von Maxwell lehrt uns noch etwas anderes.
Wie muß man die mathematisch-physikalischen Gleichungen behandeln? Brauchen wir nur alle Folgerungen daraus zu ziehen und sie als unanfechtbare Wahrheiten anzusehen? Durchaus nicht; sie sollen uns vor allem lehren, was man daran ändern kann oder muß. So können wir ihnen etwas Nützliches entnehmen.
Das dritte Beispiel wird uns zeigen, wie wir mathematische Analogien zwischen zwei Erscheinungen auffinden können, die physikalisch gar keine Beziehungen haben, weder scheinbar noch wirklich, und zwar so, daß uns die Gesetze der einen dieser Erscheinungen die der anderen erraten helfen.
Ein und dieselbe Gleichung, die von Laplace, findet man in der Newtonschen Theorie der Anziehung, in der Theorie der Bewegung der Flüssigkeiten, in der des elektrischen Potentials, in der des Magnetismus, in der der Wärmeleitung und noch in vielen anderen.
Was ergibt sich daraus? Diese Theorien gleichen Bildern, von denen eins vom anderen abgepaust ist; sie erklären sich gegenseitig, indem sie einander ihre Sprache leihen; man braucht nur den Elektriker zu fragen, ob er sich nicht glücklich schätzt, den Ausdruck »Kräftefluß« erfunden zu haben, der ihm durch die Hydrodynamik und durch die Wärmetheorie eingegeben worden ist.
So können uns die mathematischen Analogien nicht nur die physikalischen Analogien voraussehen lassen, sondern sie hören auch dann nicht auf von Nutzen zu sein, wenn diese letzteren nicht mehr vorhanden sind.
Kurz, die mathematische Physik soll nicht nur dem Physiker die numerische Berechnung gewisser Konstanten oder die Integration gewisser Differentialgleichungen erleichtern; sie soll ihm vielmehr helfen, die verborgene Harmonie der Dinge zu erkennen und unter einem neuen Gesichtspunkt zu betrachten.
Unter allen Teilen der Analysis sind es die höchsten, die reinsten sozusagen, die am ergiebigsten sind unter den Händen derer, die sich ihrer zu bedienen wissen.
Sehen wir jetzt, was die Analysis der Physik verdankt.
Man müßte die Geschichte der Wissenschaft ganz vergessen haben, wenn man sich nicht daran erinnerte, daß der Wunsch, die Natur zu erkennen, auf die Entwicklung der Mathematik den allernachhaltigsten und glücklichsten Einfluß gehabt hat.
Zuerst stellt uns der Physiker Probleme, deren Lösung er von uns erwartet. Indem er sie uns aber stellt, hat er uns den Dienst reichlich im voraus bezahlt, den wir ihm leisten können, wenn es uns gelingt, sie zu lösen.
Wenn ich meinen Vergleich mit den schönen Künsten fortsetzen darf, so wäre der reine Mathematiker, der die Existenz der äußeren Welt vergäße, dem Maler vergleichbar, der die Farben und Formen harmonisch zusammenzustellen verstünde, dem aber die Vorbilder fehlten. Seine schöpferische Kraft wäre bald versiegt.
Die möglichen Kombinationen der Zahlen und Zeichen bilden eine unendliche Menge. Wie wählen wir aus dieser Menge die, die wert sind, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln? Lassen wir uns nur durch unsere Laune leiten? Diese Laune, die übrigens selbst sehr bald ermüden würde, müßte uns zweifellos sehr weit auseinander führen, und wir würden bald aufhören, einander zu verstehen.
Doch das ist nur der geringste Teil der Frage.
Ohne Zweifel verhindert uns die Physik daran, uns zu verirren; aber sie bewahrt uns auch vor einer viel bedenklicheren Gefahr; sie verhindert uns daran, uns endlos im gleichen Kreise zu drehen.
Die Geschichte beweist das; die Physik hat uns nicht nur gezwungen, unter den Problemen, die sich uns in Menge darbieten, zu wählen, sie hat uns solche aufgenötigt, an die wir ohne sie nie gedacht hätten.
Wie mannigfaltig auch die Einbildungskraft der Menschen sein mag, die Natur ist noch tausendmal reicher. Um ihr zu folgen, müssen wir Wege einschlagen, die wir bisher vernachlässigt hatten, und diese Wege führen uns oft auf Gipfel, von denen wir neue Landschaften entdecken. Was könnte nützlicher sein!
Es ist mit den mathematischen Zeichen wie mit den physikalischen Tatsachen; indem wir das verschiedene Aussehen der Dinge vergleichen, können wir die innere Harmonie verstehen, die allein schön und folglich unserer Bemühungen wert ist.
Das erste Beispiel, das ich anführen will, ist so alt, daß man es leicht vergessen könnte, und doch ist es das wichtigste von allen.
Der einzige natürliche Gegenstand für das mathematische Denken ist die ganze Zahl. Erst die äußere Welt hat uns das Kontinuum aufgedrängt, das wir zwar erfunden haben, das sie uns aber zu erfinden gezwungen hat. Ohne dieses gäbe es keine Analysis des Unendlichen; die ganze mathematische Wissenschaft beschränkte sich auf die Arithmetik oder auf die Substitutionstheorie.
Wir haben im Gegenteil dem Studium des Kontinuums fast alle unsere Zeit und alle unsere Kräfte geopfert. Wer könnte das bedauern, wer könnte glauben, daß diese Zeit und diese Kräfte verloren wären?
Die Analysis eröffnet uns endlose Aussichten, die die Arithmetik nicht ahnt; sie zeigt uns auf einen Blick eine großartige Gesamtheit, deren Anordnung einfach und symmetrisch ist; in der Zahlentheorie dagegen, wo das Unvorhergesehene herrscht, ist der Blick sozusagen bei jedem Schritt beschränkt.
Man hat wohl gesagt, daß es außer der ganzen Zahl keine Strenge, folglich keine mathematische Wahrheit gebe; daß die ganze Zahl sich überall verberge, und daß man sich bemühen müsse, die Schleier zu lüften, die sie verhüllen, sollten auch endlose Wiederholungen unvermeidlich sein.
Wir wollen nicht so puristisch sein, und wollen das Kontinuum dankbar hinnehmen, das, wenn auch alles aus der ganzen Zahl hervorgeht, allein fähig ist, so viel daraus hervorzulocken.
Muß ich überdies daran erinnern, daß Hermite einen überraschenden Nutzen aus der Einführung der stetig veränderlichen Größen in die Zahlentheorie gezogen hat?
So wurde das Gebiet der ganzen Zahl erobert, und diese Eroberung hat Ordnung geschaffen, da wo die Unordnung herrschte.
Das ist es, was wir dem Kontinuum und folglich der physischen Welt verdanken.
Die Fouriersche Reihe ist ein kostbares Hilfsmittel, dessen sich die Analysis unausgesetzt bedient; durch diese Mittel konnte sie unstetige Funktionen darstellen; als Fourier es erfand, geschah es, um ein physikalisches Problem aus der Theorie der Wärmeleitung zu lösen. Wenn dieses Problem sich nicht naturgemäß gezeigt hätte, so hätte man nie gewagt, dem Unstetigen seine Rechte einzuräumen; man würde noch lange die stetigen Funktionen als die einzig wirklichen Funktionen angesehen haben.
Der Begriff der Funktion ist dadurch erheblich ausgedehnt worden und hat von einigen Analytikern eine unerwartete Entwickelung erfahren. Diese Analytiker haben sich in die Regionen gewagt, wo die reinste Abstraktion herrscht, und sich soweit als möglich von der wirklichen Welt entfernt. Und doch hat ein physikalisches Problem ihnen die Veranlassung dazu gegeben.
Nach der Fourierschen Reihe sind andere, ähnliche Reihen in das Gebiet der Analysis eingedrungen; sie sind durch die gleiche Türe hereingekommen, sie wurden erdacht im Hinblick auf die Anwendung.
Die Theorie der partiellen Differentialgleichungen zweiter Ordnung hat eine ähnliche Geschichte gehabt; sie hat sich hauptsächlich durch und für die Physik entwickelt. Aber sie kann viele Formen annehmen; denn eine solche Gleichung genügt nicht, die unbekannte Funktion zu bestimmen; man muß Ergänzungsbedingungen hinzufügen, die man Grenzbedingungen nennt; daraus entspringen sehr verschiedene Probleme.
Hätten sich die Analytiker ihren natürlichen Neigungen überlassen, so hätten sie stets nur eines dieser Probleme gekannt, das, mit dem sich Frau von Kowalevski in ihrer berühmten Abhandlung beschäftigt hat. Es gibt aber eine Menge andere, die ihnen unbekannt geblieben wären.
Jede der physikalischen Theorien, die der Elektrizität, die der Wärme, zeigt uns diese Gleichungen unter einem neuen Gesichtspunkt. Man kann also sagen, daß wir ohne sie die partiellen Differentialgleichungen nicht kennen gelernt hätten.
Es ist unnötig, die Beispiele noch zu vermehren; ich habe genug gesagt, um den Schluß zu rechtfertigen: Wenn die Physiker von uns die Lösung eines Problems verlangen, so ist das keine Bürde, die sie uns auferlegen; wir sind ihnen im Gegenteil Dank dafür schuldig.
Das ist aber noch nicht alles; die Physik gibt uns nicht nur Gelegenheit, Probleme zu lösen, sie hilft uns auch, die Mittel dazu zu finden, und das auf zwei Arten.
Sie läßt uns die Lösung ahnen und gibt uns Schlußfolgerungen ein.
Ich habe vorhin von der Gleichung von Laplace gesprochen, die man in einer Menge sehr verschiedener physikalischer Theorien antrifft. Man findet sie in der Geometrie in der Theorie der konformen Abbildungen und in der reinen Analysis in der Theorie der Funktionen komplexen Arguments.
Auf diese Weise findet der Analytiker in dem Studium der Funktionen komplexer Variablen neben dem geometrischen Bild, das sein gewöhnliches Werkzeug ist, mehrere physikalische Bilder, von denen er mit dem gleichen Erfolge Gebrauch machen kann.
Dank dieser Bilder kann er auf einen Blick übersehen, was ihm die reine Schlußfolgerung nur nach und nach gezeigt hätte. Er sammelt so die zerstreuten Elemente der Lösung und ahnt sie durch eine Art Intuition, ehe er beweisen kann.
Ahnen, ehe man beweist! Muß ich daran erinnern, daß alle wichtigen Erfindungen so entstanden sind?
Wie viele Wahrheiten lassen uns die physikalischen Analogien voraussehen, die wir nicht durch strenge Schlußfolgerungen beweisen können!
Zum Beispiel führt die mathematische Physik eine große Zahl Reihenentwickelungen ein. Diese Entwickelungen konvergieren, daran zweifelt niemand, aber die mathematische Gewißheit fehlt.
Das sind ebensoviele Eroberungen für die Forscher, die nach uns kommen.
Andererseits liefert uns die Physik nicht nur Lösungen, sie liefert uns auch in gewissem Grade Schlußfolgerungen.
Es wird genügen, daran zu erinnern, wie F. Klein in einer auf die Riemannschen Flächen bezüglichen Frage die Eigenschaften der elektrischen Ströme zu Hilfe genommen hat.
Es ist ja wahr, daß derartige Folgerungen nicht streng sind in dem Sinn, den der Analytiker diesem Wort beilegt.
Und hieraus ergibt sich eine Frage: Wie kann ein Beweis, der für den Analytiker nicht streng genug ist, dem Physiker genügen? Es kann, so scheint es, nicht zweierlei Strenge geben; sie ist da oder sie ist nicht da, und da, wo sie nicht ist, ist keine Schlußfolgerung möglich. Man wird dieses scheinbare Paradoxon besser verstehen, wenn man sich daran erinnert, unter welchen Bedingungen sich die Zahl auf die Naturerscheinungen anwenden läßt.
Woher entstehen gewöhnlich die Schwierigkeiten, auf die man stößt, wenn man die Strenge aufrecht erhalten will? Sie beginnen meist dann, wenn man feststellen will, daß irgend eine Größe einer bestimmten Grenze zustrebt, oder daß eine bestimmte Funktion stetig ist, oder daß sie eine Derivierte hat.
Die Zahlen, die der Physiker durch Experimente findet, sind ihm immer nur ungefähr bekannt; und andererseits unterscheidet sich eine beliebige Funktion immer beliebig wenig von einer unstetigen Funktion, und ebenso beliebig wenig von einer stetigen Funktion.
Der Physiker kann also nach Gefallen annehmen, daß die Funktion stetig oder unstetig ist; daß sie eine Derivierte hat, oder daß sie keine hat, und zwar ohne Furcht, je widerlegt zu werden, weder durch die gegenwärtigen noch durch irgend welche zukünftigen Erfahrungen. Man sieht ein, daß er sich bei dieser Freiheit spielend über die Schwierigkeiten hinwegsetzt, die den Analytiker aufhalten.
Er kann immer annehmen, daß alle Funktionen, die in seinen Rechnungen vorkommen, ganze Polynome seien.
Ein Aperçu also, das dem Physiker genügt, ist nicht die Schlußfolgerung, die der Analytiker fordert; daraus folgt aber noch nicht, daß das eine nicht dazu beitragen könne, das andere zu finden.
Man hat schon so viele physikalische Aperçus in strenge Beweise umgewandelt, daß diese Umgestaltung heutzutage leicht ist.
Ich könnte zahlreiche Beispiele anführen, wenn ich nicht fürchtete, damit die Aufmerksamkeit des Lesers zu ermüden. Ich glaube, genug gesagt zu haben, um zu zeigen, daß die reine Analysis und die mathematische Physik einander dienen können, ohne irgend ein Opfer zu bringen, und daß jede der beiden Wissenschaften sich über alles freuen muß, was ihre Verbündete fördert.