Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.
Der Raum und seine drei Dimensionen.

 

§ 1. Die Gruppe der Ortsveränderungen.

Fassen wir die erzielten Resultate kurz zusammen. Wir hatten uns vorgenommen, zu untersuchen, was es heißt, wenn wir sagen, der Raum hat drei Dimensionen, und wir haben uns zuerst gefragt, was ein physisches Kontinuum ist, und wann man sagen kann, daß es n Dimensionen hat. Wenn wir verschiedene Systeme von Eindrücken betrachten und sie miteinander vergleichen, so bemerken wir oft, daß zwei dieser Systeme nicht voneinander zu unterscheiden sind. Dies drücken wir gewöhnlich so aus, daß wir sagen, sie stehen einander zu nahe, und unsere Sinne sind zu grob, um sie auseinanderzuhalten. Wir stellen weiter fest, daß zwei dieser Systeme bisweilen voneinander unterschieden werden können, obwohl sie von ein und demselben dritten nicht unterscheidbar sind. Wenn dem so ist, so sagt man, die Gesamtheit dieser Systeme von Eindrücken bildet ein physisches Kontinuum K, und jedes dieser Systeme wird ein Element des Kontinuums K genannt.

Wieviel Dimensionen hat dieses Kontinuum? Nehmen wir zuerst zwei Elemente A und B von K und nehmen an, daß es eine Reihe R von Elementen gibt, die alle zu dem Kontinuum K gehören, so daß A und B die Endglieder dieser Reihe sind, und daß jedes Glied der Reihe vom vorhergehenden nicht zu unterscheiden sei. Wenn man eine solche Reihe R finden kann, sagen wir, daß A und B untereinander verbunden sind, und wenn zwei beliebige Elemente von K miteinander verbunden sind, sagen wir, daß K zusammenhängend ist.

Wählen wir nun aus dem Kontinuum K eine gewisse Anzahl Elemente auf ganz willkürliche Weise! Die Gesamtheit dieser Elemente wird Schnitt genannt. Die Reihen R, die A und B verbinden, teilen wir in zwei Klassen ein. In die erste Klasse nehmen wir die auf, von denen ein Element von einem Element des Schnittes nicht zu unterscheiden ist und sagen, diese schneiden den Schnitt. Die zweite Klasse enthält die Reihen R, deren sämtliche Elemente von allen Elementen des Schnittes zu unterscheiden sind. Wenn alle Reihen R, die A und B verbinden, den Schnitt schneiden, so sagen wir, daß A und B durch den Schnitt getrennt sind und daß der Schnitt K teilt. Wenn wir in K nicht zwei Elemente finden, die durch den Schnitt getrennt sind, sagen wir, der Schnitt teilt K nicht.

Wenn auf Grund dieser Definition das Kontinuum K durch Schnitte geteilt werden kann, die nicht selbst ein Kontinuum bilden, so hat das Kontinuum K nur eine Dimension; im entgegengesetzten Fall hat es deren mehrere. Wenn zur Zerteilung von K ein Schnitt genügt, der ein Kontinuum mit einer Dimension bildet, so hat K zwei Dimensionen; wenn ein Schnitt, der ein Kontinuum mit zwei Dimensionen bildet, genügt, so hat K drei Dimensionen usw.

Vermöge dieser Definitionen wird man immer erkennen können, wieviel Dimensionen ein beliebiges physisches Kontinuum hat. Es bleibt uns noch übrig, ein physisches Kontinuum zu finden, das sozusagen dem Raum gleichwertig sei, so daß jedem Punkt des Raumes ein Element dieses Kontinuums entspricht, und daß den einander sehr nahe liegenden Punkten des Raumes ununterscheidbare Elemente entsprechen. Der Raum würde dann ebensoviel Dimensionen haben wie dies Kontinuum.

Die Vermittelung dieses für die Vorstellung geeigneten physischen Kontinuums ist unentbehrlich, weil wir uns den Raum nicht vorstellen können, und das aus einer Menge von Gründen. Der Raum ist ein mathematisches Kontinuum; er ist unendlich, und wir können uns nur physische Kontinua und Endliches vorstellen. Die verschiedenen Elemente des Raumes, die wir Punkte nennen, gleichen einander vollkommen, und um unsere Definition anzuwenden, müssen wir die Elemente voneinander unterscheiden können, wenigstens wenn sie einander nicht zu nahe liegen. Kurz, der absolute Raum ist sinnlos, und wir müssen damit anfangen, daß wir ihn auf ein System von Achsen beziehen, das unveränderlich an unseren Körper gebunden ist, den wir immer als auf die gleiche Haltung zurückgeführt annehmen müssen.

Ich habe sodann versucht, mit unseren Sehempfindungen ein dem Raume äquivalentes physisches Kontinuum herzustellen; das ist nicht schwer, und dies Beispiel ist besonders geeignet für die Untersuchung der Anzahl der Dimensionen. Diese Untersuchung hat uns gezeigt, inwieweit es erlaubt ist, zu sagen, der »Sehraum« hat drei Dimensionen; aber diese Lösung ist unvollständig und erkünstelt. Ich habe auseinandergesetzt, warum. Nicht auf den Sehraum, sondern auf den Bewegungsraum müssen wir unsere Bemühungen richten.

Ich habe ferner daran erinnert, was der Ursprung des Unterschiedes ist, den wir zwischen den Veränderungen der Lage und den Veränderungen des Zustandes machen.

Unter den Veränderungen, die sich in unseren Eindrücken vollziehen, unterscheiden wir zunächst die inneren, willkürlichen von einer Muskelempfindung begleiteten Veränderungen von den äußeren Veränderungen, deren Kennzeichen die entgegengesetzten sind. Wir stellen fest, daß es vorkommen kann, daß eine äußere Änderung durch eine innere Änderung aufgehoben wird, die die ursprüngliche Empfindung wiederherstellt. Die äußeren Veränderungen, die sich durch innere Veränderungen aufheben lassen, nennt man Veränderungen der Lage, und die, die das nicht gestatten, heißen Veränderungen des Zustandes. Die inneren Veränderungen, die fähig sind, eine äußere Veränderung aufzuheben, werden Ortsveränderungen des Körpers im ganzen genannt, die anderen Veränderungen der Haltung.

Es mögen nun á und â zwei äußere Veränderungen sein, á' und â' zwei innere, und wir nehmen an, daß a sowohl von á' von â' aufgehoben werden kann, und daß á' ebensogut á wie â aufhebt; die Erfahrung zeigt uns dann, daß auch â' ebensogut á als â aufheben kann. In diesem Fall sagen wir, daß á und â der gleichen Ortsveränderung entsprechen und ebenso, daß á' und â' der gleichen Ortsveränderung entsprechen.

Nach dieser Feststellung können wir uns ein physisches Kontinuum denken, das wir das Kontinuum oder die Gruppe der Ortsveränderungen nennen wollen, und das wir auf folgende Weise definieren können. Die Elemente dieses Kontinuums seien die inneren Veränderungen, die imstande sind, äußere Veränderungen aufzuheben. Zwei dieser Veränderungen, á' und â' sind als ununterscheidbar anzusehen, erstens wenn sie es naturgemäß sind, das heißt, wenn sie einander zu nahe stehen, und zweitens, wenn á' imstande ist, die gleiche äußere Veränderung aufzuheben wie eine dritte innere Veränderung, die ihrer Natur nach nicht von â' zu unterscheiden ist. In diesem zweiten Fall sind sie sozusagen ununterscheidbar durch Übereinkunft, das heißt durch das Übereinkommen, von Umständen abzusehen, durch die sie unterschieden werden könnten.

Unser Kontinuum ist jetzt vollkommen definiert, da wir seine Elemente kennen, und da wir bestimmt haben, unter welchen Bedingungen sie als ununterscheidbar angesehen werden sollen. Wir haben also alles, was dazu gehört, unsere Definition anzuwenden und zu bestimmen, wieviel Dimensionen dieses Kontinuum hat. Wir werden erkennen, daß es deren sechs hat. Das Kontinuum der Ortsveränderung ist also dem des Raumes nicht gleich, da die Zahl der Dimensionen nicht die gleiche ist; es ist dem Räume nur verwandt.

Woher wissen wir, daß das Kontinuum der Ortsveränderungen sechs Dimensionen hat? Wir wissen es aus Erfahrung.

Es wäre leicht, die Erfahrungen zu beschreiben, durch die wir zu diesem Ergebnis gelangen. Man würde sehen, daß man in diesem Kontinuum Schnitte in Anwendung bringen kann, die es teilen und die Kontinua sind, daß man diese Schnitte selbst durch andere Schnitte zweiten Grades teilen kann, die auch noch Kontinua sind, und daß man erst nach den Schnitten sechsten Grades, die keine Kontinua mehr sind, einhalten müßte. Nach unseren Definitionen ist hiermit gesagt, daß die Gruppe der Ortsveränderungen sechs Dimensionen hat.

Es wäre leicht, wie gesagt, aber es wäre recht langwierig und würde wohl auch etwas oberflächlich ausfallen. Die Gruppe der Ortsveränderungen ist, wie wir gesehen haben, dem Raum verwandt, und man kann den Raum daraus ableiten; aber sie ist dem Raum nicht gleichwertig, weil sie nicht die gleiche Anzahl Dimensionen hat; und wenn wir gezeigt haben werden, wie sich der Begriff dieses Kontinuums bilden, und wie man daraus den des Raumes gewinnen kann, so könnte man immer noch fragen, warum uns der Raum mit drei Dimensionen viel geläufiger ist als dieses Kontinuum mit sechs Dimensionen, und man könnte also bezweifeln, daß sich der Begriff des Raumes im menschlichen Geist auf diesem Umweg gebildet habe.

 

§ 2. Die Identität zweier Punkte.

Was ist ein Punkt? Wie können wir wissen, ob zwei Punkte des Raumes identisch oder verschieden sind? Oder mit anderen Worten, was will ich mit der Behauptung sagen: der Gegenstand A nimmt im Augenblick á den Punkt ein, den der Gegenstand B im Augenblick â einnimmt.

Dies ist das Problem, das wir uns im § 4 des vorigen Kapitels gestellt haben. Wie ich schon erklärt habe, handelt es sich nicht darum, die Stellungen der Gegenstände A und B im absoluten Raum zu vergleichen; die Frage hätte dann offenbar gar keinen Sinn; es handelt sich nur darum, die Lage der zwei Gegenstände in bezug auf unveränderlich mit meinem Körper verbundene Achsen zu vergleichen, immer unter der Voraussetzung, daß der Körper auf die gleiche Haltung zurückgeführt ist.

Ich nehme an, daß ich zwischen den Augenblicken á und â weder meinen Körper noch mein Auge bewegt habe, was ich durch meinen Muskelsinn gewahr werde. Ich habe also weder meinen Kopf, noch meinen Arm, noch meine Hand geregt. Nun stelle ich fest, daß mir im Augenblick a ein Teil der Eindrücke, die ich dem Gegenstand A zuschreibe, durch eine Faser meines Sehnervs übermittelt wurde, ein anderer durch einen der Gefühlsnerven meines Fingers; ich bemerke ferner, daß im Augenblick ß andere Eindrücke, die ich dem Gegenstand B zuschreibe, mir teils durch denselben Sehnerv, teils durch denselben Gefühlsnerv zugeführt werden.

Hier muß ich stehen bleiben, um eine Erklärung einzuschalten. Wie werde ich gewahr, daß der Eindruck, den ich A zuschreibe und der davon ganz verschiedene Eindruck, den ich B zuschreibe, mir durch den gleichen Nerv übermittelt werden? Soll man annehmen, um als Beispiel die Sehempfindungen zu wählen, daß A zwei gleichzeitige Empfindungen hervorbringt, eine reine Lichtempfindung a und eine Farbenempfindung a' daß B ebenso gleichzeitig eine Lichtempfindung b und eine Farbenempfindung b' hervorbringt, und daß, wenn mir diese verschiedenen Empfindungen durch die gleiche Netzhautfaser zugeführt werden, a mit b identisch ist, daß aber gewöhnlich die Farbenempfindungen a' und b', die durch verschiedene Körper hervorgebracht werden, verschieden sind? In diesem Fall wäre es diese Identität der Empfindung a, die die Empfindung a' begleitet, mit der Empfindung b, die die Empfindung b' begleitet, die uns gewahr werden ließe, daß uns alle diese Empfindungen durch die gleiche Faser zugeführt werden.

Wie es auch mit dieser Hypothese sein mag, und obgleich ich geneigt bin, ihr andere, bedeutend verwickeltere vorzuziehen, so ist es gewiß, daß wir auf irgend eine Weise gewahr werden, daß zwischen den Empfindungen a + a' und b + b' etwas Gemeinsames ist. Sonst würden wir gar kein Mittel haben, zu erkennen, daß der Gegenstand B den Platz des Gegenstandes A eingenommen hat.

Ich gehe nicht weiter darauf ein, sondern komme auf die Hypothese zurück, die ich soeben aufgestellt habe. Ich nehme an, daß ich festgestellt habe, daß die Eindrücke, die ich B zuschreibe, mir im Augenblick â durch die gleichen Fasern der optischen sowohl als der Gefühlsnerven, zugeführt werden, die mir im Augenblick á die Empfindungen, die ich A zuschrieb, übermittelt haben. Wenn dem so ist, so werden wir ohne Zögern erklären, daß der Punkt, den B im Augenblick â einnimmt, identisch ist mit dem Punkt, den A im Augenblick á einnahm.

Ich habe eben zwei Bedingungen angeführt, unter denen diese zwei Punkte identisch sind; die eine bezieht sich auf das Gesicht, die andere auf das Gefühl. Betrachten wir jede einzeln. Die erste ist notwendig, aber nicht genügend. Die zweite ist gleichzeitig notwendig und genügend. Wer die Geometrie kennt, wird sich das leicht folgendermaßen erklären: O sei der Punkt der Netzhaut, worin sich im Augenblick á das Bild des Körpers A gestaltet; M sei der Punkt des Raumes, der im Augenblick á von dem Körper A eingenommen wird; M' sei der Punkt des Raumes, der im Augenblick â vom Gegenstand B eingenommen wird. Damit der Körper B sein Bild in O entwerfe, ist es nicht notwendig, daß die Punkte M und M' zusammenfallen. Da der Blick in die Entfernung reicht, so genügt es, daß die drei Punkte O M M' in gerader Linie sind. Die Bedingung, daß beide Gegenstände ihr Bild in O entwerfen, ist also notwendig, aber nicht genügend dafür, daß die beiden Punkte M und M' zusammenfallen. Es sei nun P der Punkt, den mein Finger einnimmt, und wo er bleibt, da er sich nicht rührt. Wenn ich nun fühle, daß der Körper A im Augenblick á meinen Finger berührt, so fallen M und P zusammen, weil das Tastgefühl nicht in die Entfernung reicht. Wenn ich fühle, daß B meinen Finger im Augenblick â berührt, so fallen M' und P zusammen. Die Bedingung, daß A meinen Finger im Augenblick á, B ihn im Augenblick â berührt, ist daher gleichzeitig notwendig und genügend dafür, daß M und M' zusammenfallen.

Wir aber, die wir noch nichts von der Geometrie wissen, können nicht so folgern; alles was wir tun können, ist, aus Erfahrung festzustellen, daß die erste, auf das Gesicht bezügliche Bedingung erfüllt sein kann, ohne daß es die zweite, auf das Gefühl bezügliche ist, daß es aber die zweite nicht sein kann, ohne daß es die erste ist.

Setzen wir den Fall, die Erfahrung hätte uns das Gegenteil gelehrt. Das könnte sein, und diese Annahme hat nichts Widersinniges. Setzen wir also den Fall, wir hätten erfahrungsmäßig festgestellt, daß die auf die Berührung bezügliche Bedingung erfüllt sein könne, ohne daß es die des Gesichtes sei, und daß die des Gesichtes im Gegenteil nicht erfüllt sein könne, ohne daß es die des Tastgefühls sei. Es ist klar, daß wir, wenn es sich so verhielte, urteilen würden, daß das Tastgefühl in die Entfernung reicht, während der Blick nicht in die Entfernung reicht.

Das ist aber noch nicht alles. Bisher habe ich angenommen, daß ich, um den Platz eines Gegenstandes zu bestimmen, nur mein Auge und einen einzigen Finger benutze; ich hätte aber ebensogut andere Mittel anwenden können, zum Beispiel alle meine anderen Finger.

Ich nehme an, daß mein erster Finger im Augenblick a eine Tastempfindung verspürt, die ich dem Gegenstand A zuschreibe. Ich führe eine Reihe von Bewegungen aus, die einer Reihe R von Muskelempfindungen entspricht. Infolge dieser Bewegungen verspürt mein zweiter Finger im Augenblick a' eine Tastempfindung, die ich ebenfalls dem Gegenstand A zuschreibe. Sodann übermittelt mir derselbe zweite Finger im Augenblick ß, ohne daß ich mich gerührt habe, was ich durch das Gefühl meiner Muskeln gewahr werde, wieder eine Tastempfindung, die ich diesmal dem Gegenstand B zuschreibe; ich mache nun eine Reihe von Bewegungen, die einer Reihe R' von Muskelempfindungen entspricht. Ich weiß, daß diese Reihe R' die Umkehrung der Reihe R ist und den entgegengesetzten Bewegungen entspricht. Wodurch ich es weiß, das sind vielfältige, frühere Erfahrungen, die mir oft gezeigt haben, daß die ursprünglichen Eindrücke sich wiederherstellen, wenn ich hintereinander die zwei Reihen von Bewegungen machte, die den Reihen R und R' entsprechen, das heißt, daß die beiden Reihen sich gegenseitig ausgleichen. Kann ich unter dieser Voraussetzung erwarten, daß im Augenblick â', wenn die zweite Reihe von Bewegungen beendet ist, mein erster Finger eine Tastempfindung verspüren wird, die dem Gegenstand B zuzuschreiben ist?

Um diese Frage zu beantworten, würden die, die schon Geometrie kennen, folgendermaßen schließen. Es ist wahrscheinlich, daß sich weder der Gegenstand A zwischen den Augenblicken á und á' bewegt hat, noch der Gegenstand B zwischen den Augenblicken â und â'; nehmen wir dies an. Im Augenblick á nahm der Gegenstand A einen bestimmten Punkt M des Raumes ein. In diesem Augenblick berührte er also meinen ersten Finger, und da das Gefühl nicht in die Entfernung reicht, war mein erster Finger gleichfalls auf dem Punkt M. Ich machte sodann die Reihe R von Bewegungen, und am Ende dieser Reihe, im Augenblick á', stellte ich fest, daß der Gegenstand A meinen zweiten Finger berührte. Ich schloß daraus, daß sich nun dieser zweite Finger in M befand, das heißt, daß die Bewegungen R zur Folge hatten, meinen zweiten Finger an den Platz des ersten zu bringen. Im Augenblick â ist der Gegenstand B mit meinem zweiten Finger in Berührung gekommen. Da ich mich nicht bewegt habe, so ist dieser zweite Finger in M geblieben, also ist der Gegenstand B nach M gekommen; nach unserer Annahme bewegt er sich nicht bis zum Augenblick â'. Aber zwischen den Augenblicken â und â' mache ich die Bewegungen R'; da diese Bewegungen das Umgekehrte der Bewegungen R sind, so müssen sie zur Folge haben, den ersten Finger an den Platz des zweiten zu bringen. Im Augenblick â' wird also der erste Finger in M sein, und da der Gegenstand B gleichfalls in M ist, so wird dieser Gegenstand meinen ersten Finger berühren. Die gestellte Frage muß also mit Ja beantwortet werden.

Wir, die wir noch nichts von der Geometrie wissen, wir können nicht in dieser Weise folgern, aber wir stellen fest, daß diese Voraussehung sich gewöhnlich verwirklicht, und wir können die Ausnahmen immer dadurch erklären, daß wir sagen, der Gegenstand A habe sich zwischen den Augenblicken á und á' bewegt, oder der Gegenstand B zwischen den Augenblicken â und â'.

Aber hätte die Erfahrung nicht das entgegengesetzte Ergebnis haben können; wäre dieses entgegengesetzte Ergebnis an sich absurd? Augenscheinlich nicht. Was würden wir gemacht haben, wenn uns die Erfahrung das Umgekehrte gelehrt hätte? Wäre dann die ganze Geometrie unmöglich geworden? Nicht im geringsten; wir hätten nur gefolgert, daß das Tastgefühl in die Entfernung reicht.

Wenn ich sage, das Tastgefühl reicht nicht in die Entfernung, aber der Blick reicht in die Entfernung, so hat diese Behauptung nur einen Sinn, und das ist folgender. Um zu erkennen, ob B im Augenblick â den von A im Augenblick á eingenommenen Punkt einnimmt, kann ich mich einer Menge verschiedener Erkennungszeichen bedienen; zu einem nehme ich mein Auge, zu einem anderen meinen ersten Finger, zu einem dritten meinen zweiten Finger, usw. Aber es genügt, daß das auf einen meiner Finger bezügliche Kennzeichen zutrifft, damit es auch bei allen anderen zutreffe; es genügt aber nicht, daß das auf mein Auge bezügliche Erkennungszeichen eintritt. Dies ist der Sinn meiner Behauptung; ich beschränke mich darauf, eine Erfahrungstatsache festzustellen, die sich gewöhnlich bewahrheitet.

Wir haben am Schluß des vorigen Kapitels den Sehraum zergliedert und haben gesehen, daß man, um diesen Raum zu erzeugen, die Netzhautempfindungen, die Konvergenz- und Akkommodationsempfindungen dazunehmen muß; daß, wenn diese zwei letzteren nicht immer übereinstimmen, der Sehraum vier Dimensionen hätte anstatt drei, und daß man andererseits, wenn man nichts in Betracht zöge als die Netzhautempfindungen, den »einfachen Sehraum« erhalten würde, der nur zwei Dimensionen hätte. Betrachten wir hingegen den Tastraum, indem wir uns auf die Empfindungen eines einzigen Fingers beschränken, das heißt zusammengefaßt, die Gesamtheit der Stellungen, die dieser Finger einnehmen kann. Dieser Tastraum, den wir im nächsten Abschnitt analysieren werden, und den ich infolgedessen im Augenblick nicht weiter besprechen möchte, hat drei Dimensionen. Warum hat der eigentliche Raum ebensoviel Dimensionen wie der Tastraum und mehr als der einfache Sehraum? Der Grund ist der, daß das Tastgefühl nicht in die Entfernung reicht, wohl aber der Blick. Diese beiden Behauptungen haben nur einen und denselben Sinn, und wir haben soeben gesehen, welches dieser Sinn ist.

Ich komme jetzt auf einen Punkt zurück, über den ich eben schnell hinweggegangen bin, um die Erörterung nicht zu unterbrechen: Woher wissen wir, daß die Eindrücke, die A im Augenblick á und B im Augenblick â auf unserer Netzhaut hervorbringen, uns durch die gleiche Netzhautfaser zugeführt werden, obgleich diese Eindrücke der Art nach verschieden sind? Ich habe eine einfache Hypothese aufgestellt, aber hinzugefügt, daß andere, erheblich umständlichere Hypothesen mir viel wahrscheinlicher erscheinen. Hier will ich noch einiges über die Hypothesen sagen, die ich damit gemeint habe. Wie wissen wir, daß die Eindrücke, die von dem roten Gegenstand A im Augenblick á und von dem blauen Gegenstand B im Augenblick â hervorgebracht werden, wenn beide Gegenstände sich im gleichen Punkt der Netzhaut abbilden, etwas Gemeinsames haben? Man kann die einfache Hypothese, die ich weiter oben gemacht habe, verwerfen und annehmen, daß uns diese beiden qualitativ verschiedenen Eindrücke durch zwei verschiedene, aber sich berührende Nervenfasern zugeführt werden.

Welches Mittel habe ich dann, um zu wissen, daß diese Fasern sich berühren? Wahrscheinlich hätten wir gar keins, wenn das Auge unbeweglich wäre. So aber lassen die Bewegungen des Auges uns erkennen, daß zwischen der Empfindung des Blauen im Punkt A und der Empfindung des Blauen im Punkt B der Netzhaut die gleichen Beziehungen sind wie zwischen der Empfindung des Roten im Punkt A und der Empfindung des Roten im Punkt B. In der Tat haben sie uns gezeigt, daß die gleichen Bewegungen, die den gleichen Muskelempfindungen entsprechen, uns vom ersten zum zweiten oder vom dritten zum vierten übergehen lassen. Ich gehe nicht auf diese Erwägung ein, die sich, wie man sieht, an die von Lotze aufgeworfene Frage der Lokalzeichen anschließt.

 

§ 3. Der Tastraum.

Ich kann also die Identität zweier Punkte, des Punktes, den A im Augenblick á einnimmt, und des Punktes, den B im Augenblick â einnimmt, erkennen, aber nur unter der einen Bedingung, daß ich mich zwischen den Augenblicken á und â nicht bewegt habe. Das genügt uns aber noch nicht. Wenn wir annehmen, daß ich mich in dem Zeitraum zwischen den Augenblicken á und â in irgendeiner Weise geregt habe, woher kann ich dann wissen, ob der Punkt, den A im Augenblick á einnimmt, mit dem Punkt, den B im Augenblick â einnimmt, identisch ist? Ich nehme an, daß im Augenblick á der Gegenstand A, und im Augenblick â der Gegenstand B mit meinem ersten Finger in Berührung ist. Gleichzeitig hat mich aber meine Muskelempfindung darüber belehrt, daß mein Körper sich in der Zwischenzeit bewegt hat. Ich habe weiter oben zwei Reihen von Muskelempfindungen R und R' betrachtet und gesagt, daß man bisweilen dazu veranlaßt wird, von zwei solchen Reihen R und R' die eine als die Umkehrung der anderen anzusehen, weil wir oft bemerkt haben, daß, wenn die beiden Reihen sich folgen, unsere ursprünglichen Empfindungen wieder hergestellt werden.

Wenn mich meine Muskelempfindung belehrt, daß ich mich zwischen den Augenblicken á und â bewegt habe, aber derart, daß ich die zwei Reihen von Muskelempfindungen R und R' die ich als die Umkehrung voneinander betrachte, nacheinander verspürt habe, so werde ich noch ebensogut, als wenn ich mich nicht bewegt hätte, schließen, daß die Punkte, die A im Augenblick á und B im Augenblick â einnehmen, identisch sind, wenn ich feststelle, daß mein erster Finger den Gegenstand A im Augenblick á und B im Augenblick â berührt.

Diese Lösung ist, wie sich zeigen wird, noch nicht ganz befriedigend. Sehen wir zu, wieviel Dimensionen wir nach ihr dem Räume zuschreiben müßten. Ich will die beiden Punkte, die A und B in den Augenblicken á und â einnehmen, vergleichen, oder ich will die beiden Punkte vergleichen, die mein Finger in den zwei Augenblicken á und â einnimmt; beides kommt auf das gleiche heraus, da ich annehme, daß mein Finger im Augenblick á den Gegenstand A und im Augenblick â den Gegenstand B berührt. Das einzige Mittel, über das ich zu diesem Vergleich verfüge, ist die Reihe P von Muskelempfindungen, die die Bewegungen meines Körpers zwischen diesen beiden Augenblicken begleitet haben. Die verschiedenen denkbaren Reihen P bilden augenscheinlich ein physisches Kontinuum, dessen Dimensionen sehr zahlreich sind. Kommen wir überein, die zwei Reihen P und P + R + R' nicht als verschieden zu betrachten, wenn die zwei Reihen R und R' die Umkehrung voneinander sind in dem diesem Wort weiter oben gegebenen Sinn; trotz dieser Übereinkunft wird die Gesamtheit der verschiedenen Reihen P noch ein physisches Kontinuum bilden, und die Zahl der Dimensionen wird geringer, aber doch noch sehr groß sein.

Jeder dieser Reihen P entspricht ein Punkt des Raumes; zwei Reihen P und P' entsprechen also zwei Punkte M und M'. Die Mittel, über die wir bisher verfügen, erlauben uns, zu erkennen, daß M und M' in zwei Fällen nicht unterschieden sind: 1. wenn P mit P' identisch ist; 2. wenn P' gleich P + R + R' ist, R und R' als Umkehrung voneinander betrachtet. Wenn wir in allen anderen Fällen M und M' als unterschieden ansähen, so würde die Gesamtheit der Punkte ebensoviel Dimensionen haben als die Gesamtheit der unterschiedenen Reihen P, also viel mehr als drei.

Denen, die schon etwas von der Geometrie wissen, wäre dies durch folgenden Schluß leicht verständlich zu machen. Unter den Reihen von denkbaren Muskelempfindungen gibt es einige, die Bewegungsreihen entsprechen, bei denen sich der Finger nicht rührt. Wenn man die Reihen P und P + ò nicht als verschieden betrachtet, falls die Reihe ò Bewegungen entspricht, bei denen der Finger sich nicht rührt, so wird die Gesamtheit der Reihen ein Kontinuum mit drei Dimensionen bilden; wenn man aber die Reihen P und P' dann als unterschieden betrachtet, wenn nicht P' = P + R + R' ist, R und R' invers zueinander, so wird die Gesamtheit der Reihen ein Kontinuum von mehr als drei Dimensionen bilden.

Nehmen wir im Raum eine Fläche A an, auf dieser Fläche eine Linie B, auf dieser Linie einen Punkt M; es sei K0 die Gesamtheit aller Reihen P, K1 die Gesamtheit aller der Reihen P, deren entsprechende Bewegungen zur Folge haben, daß der Finger sich auf der Fläche A befindet; ebenso seien K2 und K3 die Gesamtheit der Reihen P, bei deren Abschluß der Finger sich in B oder in M befindet. Es ist zunächst klar, daß K1 einen Schnitt bildet, der K0 teilt; K2 wird ein Schnitt sein der K1 und K3 ein Schnitt, der K2 teilt. Es ergibt sich daraus nach unserer Definition, daß, wenn K3 ein physisches Kontinuum mit n Dimensionen ist, K0 ein solches mit n + 3 Dimensionen sein wird.

Es seien nun P und P' = P + ρ zwei zu K3 gehörige Reihen; nach Vollendung beider Bewegungen befindet sich der Finger in M; daraus ergibt sich, daß der Finger zu Beginn und zu Ende der Reihe ? auf dem gleichen Punkt M ist. Die Reihe ??? ist also eine derjenigen, die Bewegungen entsprechen, bei denen der Finger sich nicht rührt. Wenn man P und P + ρ nicht als verschieden betrachtet, so vereinigen sich alle Reihen von K3 in eine einzige; also wird K3 Null Dimensionen haben und K0, wie ich zeigen wollte, drei. Wenn ich im Gegenteil, P und P + nicht als vereinigt betrachte (wenn nicht ρ = R + R' und R und R' invers sind), so ist es klar, daß K3 eine große Zahl Reihen verschiedener Empfindungen enthalten wird; denn der Körper kann, ohne daß der Finger sich rührt, eine Menge verschiedener Haltungen annehmen. Dann wird K3 ein Kontinuum bilden und K0 wird mehr als drei Dimensionen haben, was ich ebenfalls zeigen wollte.

Wir, die wir noch keine Geometrie kennen, können nicht auf diese Weise schließen, wir können nur Tatsachen feststellen. Nun stellt sich uns aber eine Frage: Wie kommen wir dazu, bevor wir die Geometrie kennen, die Reihen ρ, bei denen sich der Finger nicht rührt, von den anderen zu unterscheiden? Denn erst nachdem wir diesen Unterschied gemacht haben, können wir P und P + ρ als identisch ansehen, und nur unter dieser Bedingung können wir, wie wir gesehen haben, zum Raum mit drei Dimensionen gelangen.

Wir werden veranlaßt, die Reihen ρ auszuzeichnen, weil es oft vorkommt, daß, wenn wir die Bewegungen ausführen, die diesen Reihen von Muskelempfindungen entsprechen, die Tastempfindungen, die uns durch den Nerv des Fingers, den wir den ersten genannt haben, übermittelt werden, fortbestehen und durch diese Bewegungen nicht geändert werden. Dies lehrt uns die Erfahrung, und nur sie konnte es uns lehren.

Wenn wir die Reihen von Muskelempfindungen R + R' ausgezeichnet haben, die durch die Vereinigung zweier entgegengesetzter Reihen gebildet werden, so geschah es, weil sie die Gesamtheit unserer Eindrücke unverändert »erhalten« haben; wenn wir nun die Reihen ρ auszeichnen, so tun wir es, weil sie bestimmte Eindrücke erhalten. (Wenn ich sage: eine Reihe von Muskelempfindungen R »erhält« einen unserer Eindrücke A so meine ich damit, daß wir feststellen, daß, wenn wir den Eindruck A verspüren und dann die Muskelempfindung R, wir den Eindruck A auch noch nach der Muskelempfindung R fühlen.)

Ich habe weiter oben gesagt, daß es oft vorkommt, daß die Reihen ρ die Tastempfindungen unseres ersten Fingers nicht ändern; ich habe gesagt oft, nicht immer; in der Sprache des täglichen Lebens heißt das, daß sich der Tasteindruck nicht geändert hat, wenn sich der Finger nicht bewegt hat, unter der Bedingung, daß sich der Gegenstand A, der mit meinem Finger in Berührung war, auch nicht bewegt hat. Wir können diese Erklärung nicht geben, wenn wir noch keine Geometrie kennen; wir können nur feststellen, daß der Eindruck oft fortbesteht, aber nicht immer.

Es genügt aber, daß er oft fortbesteht, um uns die Reihen ρ als bemerkenswert erscheinen zu lassen, und uns zu veranlassen, die Reihen P und P + ρ in die gleiche Klasse zu zählen und sie dadurch als nicht unterschieden zu betrachten. Unter diesen Bedingungen haben wir gesehen, daß sie ein physisches Kontinuum mit drei Dimensionen erzeugen.

Wir haben hiermit also einen Raum von drei Dimensionen, den mein erster Finger erzeugt. Jeder meiner Finger wird einen gleichen hervorbringen. Wie kommen wir dazu, sie als identisch mit dem Sehraum, als identisch mit dem geometrischen Raum anzusehen? Das müssen wir noch prüfen.

Bevor wir aber weitergehen, wollen wir eine Betrachtung anstellen; nach dem Vorhergehenden kennen wir die Punkte des Raumes oder, allgemeiner, die endliche Lage unseres Körpers nur durch die Reihen der Muskelempfindungen, durch die uns die Bewegungen offenbart werden, die uns aus einer bestimmten Anfangslage in diese Endlage überführen. Es ist aber klar, daß diese endliche Lage einerseits von diesen Bewegungen abhängt und anderenteils von der anfänglichen Lage, von der wir ausgingen. Die Bewegungen werden uns nur durch unsere Muskelempfindungen enthüllt; nichts läßt uns aber die Anfangslage erkennen; nichts kann uns ermöglichen, sie von allen anderen denkbaren Lagen zu unterscheiden. Das ist es, was die wesentliche Relativität des Raumes evident macht.

 

§ 4. Die Identität der verschiedenen Räume.

Wir kommen also dazu, die beiden Kontinua K' und K' zu vergleichen, von denen das eine zum Beispiel von meinem ersten Finger F erzeugt wird, das andere von meinem zweiten Finger F'. Diese zwei physischen Kontinua haben beide drei Dimensionen. Jedem Element des Kontinuums K', oder, wenn man sich lieber so ausdrückt, jedem Punkt des ersten Tastraumes entspricht eine Reihe von Muskelempfindungen P, durch die ich aus einer bestimmten Anfangslage in eine bestimmte Endlage übergehe. Statt zu sagen, daß wir den Raum auf unveränderlich mit unserem Körper verbundene Achsen beziehen, würde man vielleicht besser in Übereinstimmung mit dem vorhergehenden sagen, daß wir ihn auf Achsen beziehen, die mit der Anfangslage unseres Körpers unveränderlich verbunden sind. Außerdem wird ein und derselbe Punkt dieses ersten Raumes den Reihen P und P + ρ entsprechen, wenn wir wissen, daß ρ eine Reihe ist, durch die sich der Finger F nicht bewegt.

Ebenso entspricht jedem Element des Kontinuums K' oder jedem Punkt des zweiten Tastraumes eine Reihe P von Empfindungen, und der gleiche Punkt wird P' und P' + ρ' entsprechen, wenn ρ' eine Reihe ist, durch die der Finger F' sich nicht bewegt.

Was uns die Reihen ρ und ρ' unterscheiden läßt, ist, daß die erstere die Gefühlseindrücke, die der Finger F verspürt, nicht ändert, während die zweite die erhält, die der Finger F' verspürt.

Wir können folgendes feststellen: zu Anfang verspürt mein Finger F' eine Empfindung A' ich mache Bewegungen, die die Muskelempfindungen R erzeugen; mein Finger F verspürt die Empfindung A'; ich mache Bewegungen, die eine Reihe von Empfindungen ρ erzeugen; mein Finger F fährt fort, die Empfindungen A zu verspüren, da dies die charakteristische Eigenschaft der Reihen ρ ist; ich mache dann Bewegungen, die die Reihe R' von Muskelempfindungen hervorbringen, das heißt die Umkehrung von R in dem oben gegebenen Sinne dieses Wortes. Ich bemerke hierauf, daß mein Finger F' von neuem die Empfindung A' verspürt ( R muß hierzu wohlverstanden in geeigneter Weise gewählt sein).

Hiermit ist gesagt, daß die Reihe R + ρ + R', die die Gefühlseindrücke des Fingers F' erhält, eine der Reihen ist, die ich ρ' genannt habe. Umgekehrt wird, wenn man eine beliebige Reihe ρ' nimmt, R' + ρ' + R eine Reihe sein, die wir ρ nennen.

Also wird, wenn R geeignet gewählt ist, R + ρ + R' eine Reihe ρ' sein, und indem man ρ auf alle möglichen Arten verändert, wird man alle möglichen Reihen ?' erhalten.

Alles dieses können wir, da wir noch keine Geometrie kennen, nur feststellen; die aber, denen die Geometrie bekannt ist, würden die Tatsache so erklären: Zu Anfang ist mein Finger F' auf dem Punkt M in Berührung mit dem Gegenstand a der ihn den Eindruck A' verspüren läßt; ich mache die Bewegungen, die der Reihe R entsprechen. Ich habe schon gesagt, daß diese Reihe geeignet gewählt sein müsse; ich muß die Wahl derart treffen, daß die Bewegungen den Finger F auf den ursprünglichen von dem Finger F' eingenommenen Platz bringen, das heißt auf M. Der Finger F' wird also nun in Berührung mit dem Gegenstand a sein, der ihn den Eindruck A verspüren läßt.

Sodann führe ich die Bewegungen aus, die der Reihe ρ entsprechen; bei diesen Bewegungen ändert sich die Stellung des Fingers nach Voraussetzung nicht; der Finger bleibt also in Berührung mit dem Gegenstand a und fährt fort, die Empfindung A zu verspüren. Endlich mache ich die Bewegungen, die der Reihe R' entsprechen. Da R' die Umkehrung von R ist, so führen diese Bewegungen den Finger F' auf den Punkt, den vorher der Finger F einnahm, auf den Punkt M. Wenn, wie anzunehmen erlaubt ist, der Gegenstand a sich nicht bewegt hat, so wird sich dieser Finger in Berührung mit dem Gegenstand befinden und wieder den Eindruck A' verspüren, was bewiesen werden sollte.

Wenden wir uns nun den Folgerungen zu. Ich betrachte eine Reihe von Muskelempfindungen P; dieser Reihe entspricht ein Punkt M des ersten Tastraumes. Kommen wir nun auf die beiden Reihen R und R' zurück, von denen die eine die Umkehrung der anderen ist, über die wir soeben gesprochen haben. Der Reihe R + P + R' wird ein Punkt N des zweiten Tastraumes entsprechen, da jeder beliebigen Reihe von Muskelempfindungen, wie wir gesagt haben, ein Punkt sowohl des ersten als des zweiten Tastraumes entspricht.

Ich will die beiden so definierten Punkte N und M als einander entsprechend betrachten. Was berechtigt mich dazu? Die notwendige Bedingung dieser Übereinstimmung ist, daß die Identität der zwei Punkte M und M'; die im ersten Räume den Reihen P und P' entsprechen, die Identität zwischen den zwei entsprechenden Punkten N und N' des zweiten Raumes zur Folge hat, das heißt zwischen den Punkten, die den beiden Reihen R + P + R' und R + P'+ R' entsprechen. Wir werden sehen, ob diese Bedingung erfüllt ist.

Zuerst eine Bemerkung. Wenn R und R' die Umkehrung voneinander sind, so wird R + R' = O, und infolgedessen R + R' + P = P + R + R' = P oder auch P + R + R' + P' = P + P'; aber es folgt nicht daraus, daß R + P + R' = P ist; denn obwohl wir das Additionszeichen angewendet haben, um die Aufeinanderfolge unserer Empfindungen darzustellen, so ist es doch klar, daß die Anordnung dieser Aufeinanderfolge nicht gleichgültig ist; wir können nicht wie bei der gewöhnlichen Addition die Reihenfolge umkehren; um eine abgekürzte Sprache zu gebrauchen: unsere Operationen sind assoziativ, aber nicht kommutativ.

Ist dies vorausgeschickt, so ist es, damit P und P' dem gleichen Punkt M = M' des ersten Raumes entsprechen, notwendig und genügend, daß P' = P + ρ sei. Dann wird

R + P' + R' = R + P + ρ + R'
= R + P + R' + R + ρ + R'

sein.

Wir haben aber festgestellt, daß R + ρ + R' eine der Reihen ρ ist. Also haben wir

R + P' + R' = R + P + R' + ρ',

was so viel heißt, als daß R + P' + R' und R + P + R' dem gleichen Punkt N = N' des zweiten Raumes entsprechen, was zu beweisen war.

Unsere beiden Räume stimmen also Punkt für Punkt überein; sie können einer in den anderen »transformiert« werden, sie sind isomorph. Wie kommen wir dazu zu schließen, daß sie identisch sind?

Betrachten wir die beiden Reihen ρ und R + ρ + R' = ρ'. Ich habe gesagt, daß die Reihe ρ oft, aber nicht immer den Tasteindruck A des Fingers F erhält, und ebenso kommt es oft, aber nicht immer vor, daß die Reihe ρ' den Tasteindruck A' des Fingers F' erhält. Nun bemerke ich, daß es sehr oft (das heißt viel öfter als das, was ich soeben oft nannte) vorkommt, daß, wenn die Reihe ρ den Eindruck A des Fingers F erhält, auch gleichzeitig die Reihe ρ' den Eindruck A' des Fingers F' erhält; und umgekehrt, daß, wenn der erste Eindruck geändert ist, der zweite es ebenfalls sein wird. Das kommt sehr oft vor, aber nicht immer.

Wir legen diese Erfahrungstatsache aus, indem wir sagen, der unbekannte Gegenstand a, der den Eindruck A auf den Finger F verursacht, ist mit dem unbekannten Gegenstand a' der den Eindruck A' auf den Finger F' verursacht, identisch. In der Tat, wenn sich der erste Gegenstand bewegt, was wir durch das Verschwinden des Eindrucks A bemerken, so bewegt sich der zweite ebenfalls, da der Eindruck A' gleichfalls verschwindet. Wenn der erste Gegenstand unbeweglich bleibt, bleibt auch der zweite unbeweglich. Wenn die zwei Gegenstände miteinander identisch sind, – der erste mit dem Punkt M des ersten Raumes, der zweite mit dem Punkt N des zweiten Raumes –, so sind auch diese beiden Punkte identisch. Das ist es, was uns veranlaßt, die beiden Räume als identisch anzusehen; oder besser, das ist es, was wir ausdrücken wollen, wenn wir sagen, daß sie identisch sind.

Das was wir soeben von der Identität der beiden Tasträume gesagt haben, erspart uns, die Frage bezüglich der Identität des Tastraumes und des Sehraumes zu erörtern, die in der gleichen Weise zu behandeln wäre.

 

§ 5. Der Raum und die Erfahrung.

Es hat den Anschein, als gelangte ich zu Schlüssen, die mit den Ideen der Empiriker übereinstimmen. Ich habe in der Tat versucht, die Rolle der Erfahrung darzustellen, und die Erfahrungstatsachen zu analysieren, die in der Entstehung des Raumes mit drei Dimensionen mitwirken. Wie groß aber auch der Einfluß dieser Tatsachen sein mag, es bleibt etwas, was wir nicht vergessen dürfen, worauf ich übrigens schon mehr als einmal die Aufmerksamkeit gelenkt habe. Diese Erfahrungstatsachen bewahrheiten sich oft, aber nicht immer. Das soll selbstverständlich nicht heißen, daß der Raum oft drei Dimensionen hat, aber nicht immer.

Ich weiß, daß es leicht ist, sich herauszuziehen, und daß man, wenn die Tatsachen sich nicht bewahrheiten, dies dadurch erklären kann, daß man sagt, die äußeren Gegenstände haben sich bewegt. Wenn die Erfahrung den erwarteten Erfolg hat, so sagt man, sie belehrt uns über den Raum; hat sie ihn nicht, so hält man sich an die äußeren Dinge, die man beschuldigt, sich bewegt zu haben; mit anderen Worten, wenn es ihr nicht gelingt, gibt man ihr gewaltsam einen Stoß.

Diese Stöße sind gerechtfertigt, das bestreite ich nicht; sie genügen aber, uns erkennen zu lassen, daß die Eigenschaften des Raumes nicht eigentlich Erfahrungstatsachen sind. Wenn wir andere Gesetze hätten beweisen wollen, würden wir es ebensogut erreicht haben durch andere, entsprechende Gewaltstöße. Hätten wir diese Stöße nicht immer durch die gleichen Gründe rechtfertigen können? Höchstens hätte man uns entgegenhalten können: »Eure Stöße sind berechtigt, aber ihr mißbraucht sie. Wozu so oft die äußeren Gegenstände sich bewegen lassen?«

Kurz, die Erfahrung beweist uns nicht, daß der Raum drei Dimensionen hat; sie beweist uns nur, daß es bequem ist, ihm drei zuzuschreiben, weil dann die Zahl der Gewaltstöße auf ein Minimum beschränkt ist.

Ich füge noch hinzu, daß die Erfahrung uns immer nur auf den Raum der Vorstellung führt, der ein physisches Kontinuum ist, und nie auf den geometrischen Raum, der ein mathematisches Kontinuum ist. Höchstens kann sie uns lehren, daß es bequem ist, dem geometrischen Raum drei Dimensionen beizulegen, damit er ebensoviel habe wie der Raum der Vorstellung.

Die Frage der Erfahrung kann auch unter einer anderen Form auftreten. Ist es unmöglich, die physischen Vorgänge, zum Beispiel die mechanischen, anders als im Raum mit drei Dimensionen zu begreifen? Wäre es so, dann hätten wir einen objektiven Erfahrungsbeweis, sozusagen unabhängig von unserer Physiologie, für die Formen unserer Vorstellung.

Es ist aber nicht so; ich, will die Frage hier nicht vollständig behandeln, ich beschränke mich darauf, an das schlagende Beispiel zu erinnern, das uns die Hertzsche Mechanik gibt.

Es ist bekannt, daß der große Physiker nicht an das Bestehen der Kräfte im eigentlichen Sinn des Wortes glaubte; er nahm an, daß die sichtbaren, materiellen Punkte durch gewisse unsichtbare Verbindungen an andere, unsichtbare Punkte gefesselt seien, und daß das, was wir den Kräften zuschreiben, die Wirkung dieser unsichtbaren Verbindungen sei.

Das ist aber nur ein Teil seiner Ideen. Denken wir uns ein System von n sichtbaren oder unsichtbaren materiellen Punkten; das gibt im ganzen 3 n Koordinaten; betrachten wir sie als die Koordinaten eines einzigen Punktes im Raume mit 3 n Dimensionen. Dieser eine Punkt soll der Bedingung unterworfen sein, auf einer Fläche (mit einer beliebigen Anzahl von Dimensionen < 3 n) zu bleiben kraft der Verbindungen, von denen wir soeben gesprochen haben. Um sich auf dieser Fläche von einem Ort an einen anderen zu begeben, wird er immer den kürzesten Weg nehmen; das soll der einzige Grundsatz sein, der die ganze Mechanik zusammenfaßt.

Obgleich man von dieser Hypothese glauben sollte, daß man durch ihre Einfachheit verführt oder durch ihren erkünstelten Charakter abgestoßen werde, so genügt die einzige Tatsache, daß Hertz sie begreifen und sie für bequemer als unsere gebräuchlichen Hypothesen halten konnte, um zu beweisen, daß sich unsere gewöhnlichen Ideen und besonders die drei Dimensionen des Raumes dem Mechaniker durchaus nicht mit unüberwindlicher Stärke aufzwingen.

 

§ 6. Der Geist und der Raum.

Die Erfahrung hat also nur eine einzige Rolle gespielt, sie hat den Anstoß gegeben. Aber diese Rolle war nichtsdestoweniger sehr wichtig, und ich habe es für nötig gehalten, sie hervortreten zu lassen. Diese Rolle wäre unnötig gewesen, wenn eine Form a priori existierte, die sich unseren Sinnen aufdrängte, und die der Raum mit drei Dimensionen wäre.

Besteht diese Form, oder, mit anderen Worten, können wir uns den Raum mit mehr als drei Dimensionen vorstellen? Und vor allem, was bedeutet diese Frage? Es ist klar, daß wir uns im wahren Sinn des Wortes weder den Raum mit vier, noch den Raum mit drei Dimensionen vorstellen können. Zunächst können wir uns weder leere Räume vorstellen noch auch Gegenstände im Raum, sei es mit drei oder vier Dimensionen, erstens, weil diese Räume, der eine wie der andere, unendlich sind, und es uns unmöglich ist, uns eine Figur im Raum, das heißt einen Teil im Ganzen, vorzustellen, ohne uns das Ganze vorzustellen, und das ist unmöglich, weil das Ganze unendlich ist; zweitens, weil diese Räume, einer wie der andere, mathematische Kontinua sind, und wir uns nur physische Kontinua vorstellen können; drittens, weil diese Räume, einer wie der andere, homogen sind, und die Rahmen, in die wir unsere doch immer begrenzten Empfindungen einschließen, nicht homogen sein können.

Also kann die gestellte Frage nur den einen Sinn haben: Ist es möglich, sich vorzustellen, daß die Ergebnisse der oben besprochenen Erfahrungen, wenn sie anders ausgefallen wären, uns veranlaßt hätten, dem Raume mehr als drei Dimensionen zuzuschreiben; kann man sich vorstellen, daß zum Beispiel die Akkommodationsempfindung nicht immer mit der Konvergenzempfindung der Augen übereinstimmte, oder daß die in § 2 besprochenen Erfahrungen, deren Ergebnis wir in die Worte kleideten: »Das Tastgefühl reicht nicht in die Entfernung«, uns zu entgegengesetzten Folgerungen geführt hätten?

Und ohne Zweifel ist das möglich; im Augenblick, wo man sich ein Experiment ausdenkt, stellt man sich eben dadurch die beiden entgegengesetzten Ergebnisse vor, zu denen es führen kann. Es ist möglich, aber es ist schwer, weil wir eine Menge Ideenverbindungen zu bekämpfen haben, die die Frucht einer langen persönlichen Erfahrung und der noch längeren Erfahrung des Menschengeschlechtes sind. Machen vielleicht diese Ideenverbindungen, wenigstens soweit wir sie von unseren Vorfahren geerbt haben, diese Form a priori aus, von der wir, wie man sagt, die reine Anschauung haben sollen?« Dann sehe ich nicht ein, warum man sie als der Analyse widerstrebend ansehen und mir das Recht, ihren Ursprung aufzusuchen, verweigern sollte.

Wenn man sagt, unsere Empfindungen seien ausgedehnt, so kann man damit nur meinen, daß sie immer mit der Vorstellung gewisser Muskelempfindungen verknüpft sind, die den Bewegungen entsprechen, durch die wir den Gegenstand, der sie verursacht, erreichen würden, mit anderen Worten, durch die wir uns ihrer erwehrten. Und gerade weil diese Verbindung zum Schutze des Organismus nützlich ist, ist sie so alt in der Geschichte der Art und erscheint uns unzerstörbar. Nichtsdestoweniger ist es nur eine Ideenverbindung, und es ist denkbar, daß sie durchbrochen würde. Man darf also nicht sagen, daß die Empfindung nicht in das Bewußtsein eintreten könne, ohne in den Raum einzutreten; man kann nur sagen, daß sie in Wirklichkeit nicht in das Bewußtsein eintritt, ohne daß sie zugleich in den Raum eintritt, das heißt, ohne daß sie in diese Verbindung aufgenommen werde.

Ich kann auch nicht verstehen, daß man sagt, die Idee der Zeit sei logisch später als der Raum, weil wir sie uns nur in der Form einer Geraden vorstellen können; ebensogut kann man sagen, die Zeit ist logisch später als die Wiesenkultur, da man die Zeit mit einer Sense bewaffnet darstellt. Daß man sich die verschiedenen Zeitabschnitte nicht als gleichzeitig vorstellen kann, versteht sich von selbst, weil es eben die wesentliche Eigenschaft dieser Zeitabschnitte ist, nicht gleichzeitig zu sein. Damit ist nicht gesagt, daß man nicht die Anschauung der Zeit hat. Aus demselben Grunde würde man die des Raumes nicht haben, weil man sich aus den genannten Gründen auch ihn nicht im eigentlichen Sinn des Wortes vorstellen kann. Das, was wir uns unter dem Namen einer Geraden denken, ist ein grobes Bild, das der geometrischen Geraden so wenig gleicht als der Zeit selbst.

Warum hat man gesagt, daß jeder Versuch, dem Raum eine vierte Dimension zu geben, diese immer auf eine der anderen zurückführt? Das ist leicht zu verstehen. Betrachten wir unsere Muskelempfindungen und die »Reihen«, die sie bilden können. Infolge zahlreicher Erfahrungen sind die Vorstellungen dieser Reihen untereinander durch ein sehr verwickeltes Gewebe verbunden; unsere Reihen sind klassifiziert. Es sei mir erlaubt, mich der Bequemlichkeit der Sprache halber in ganz grober, ungenauer Weise auszudrücken, indem ich sage, daß unsere Reihen von Muskelempfindungen in drei Klassen geordnet sind, die den drei Dimensionen des Raumes entsprechen. Wohlverstanden, die wahre Einteilung ist viel verwickelter; aber dies wird genügen, um meine Schlußfolgerungen verständlich zu machen. Wenn ich mir eine vierte Dimension vorstellen will, so denke ich mir eine andere Reihe von Muskelempfindungen, die einer vierten Klasse angehört. Da aber alle meine Muskelempfindungen schon in einer der bereits existierenden Klasse untergebracht sind, so kann ich mir nur eine Reihe denken, die einer dieser drei Klassen angehört, so daß meine vierte Dimension auf eine der drei anderen zurückführt.

Was wird hierdurch bewiesen? Daß es zuerst nötig wäre, die alte Einteilung zu zerstören, und sie durch eine neue zu ersetzen, wo die Reihen von Muskelempfindungen in vier Klassen eingeteilt würden. Dann würde die Schwierigkeit verschwinden.

Man zeigt sie manchmal an einem viel schlagenderen Beispiel. Ich nehme an, ich sei in einem Zimmer eingeschlossen zwischen den sechs unüberschreitbaren Mauern, den vier Seitenwänden, der Decke und dem Fußboden; es ist mir unmöglich herauszukommen oder mir auszudenken, daß ich herauskäme. Könnte man sich denn nicht denken, daß die Tür sich öffne oder daß zwei der Wände verschwänden? Selbstverständlich, wird man antworten, muß man voraussetzen, daß die Wände unbeweglich bleiben. – Jawohl, aber ich habe doch das Recht, mich zu bewegen; und dann werden die Scheidewände, die wir uns in absoluter Ruhe denken, in Beziehung auf mich in Bewegung sein. – Gewiß, aber eine derartige relative Bewegung kann keine beliebige sein; wenn die Gegenstände in Ruhe sind, so ist ihre auf beliebige Achsen bezogene Bewegung die eines festen, unveränderlichen Körpers, aber die scheinbaren Bewegungen, die ihr euch ausdenkt, entsprechen nicht dem Gesetz der Bewegungen eines unveränderlichen starren Körpers. – Ja, aber nur die Erfahrung hat uns die Bewegungsgesetze eines unveränderlichen, starren Körpers gelehrt, nichts würde uns hindern, uns auszudenken, daß sie anders wären. Kurz, um mir einzubilden, daß ich aus meinem Gefängnis herauskäme, brauche ich mir nur einzubilden, daß die Wände zu verschwinden scheinen, wenn ich mich bewege.

Ich glaube also, daß, wenn man unter Raum ein mathematisches Kontinuum mit drei Dimensionen versteht, wäre es auch gestaltlos, der Geist es bildet; aber er schafft es nicht aus nichts, er braucht Material und Vorbilder. Dieses Material und die Vorbilder findet er in sich. Er hat aber nicht nur ein einziges Vorbild, das sich ihm aufzwingt, er hat die Wahl; er kann zum Beispiel zwischen dem Raum mit vier und dem Raum mit drei Dimensionen wählen. Welche Rolle spielt nun dabei die der Erfahrung? Sie gibt ihm die Anleitung, nach der er seine Wahl trifft.

Zum Schluß noch eine Frage: woher kommt der quantitative Charakter des Raumes? Er kommt von der Rolle, die die Reihen der Muskelempfindungen bei seiner Entstehung spielen. Es sind Reihen, die sich wiederholen können, und aus ihrer Wiederholung entsteht die Zahl; weil sie sich endlos wiederholen können, ist der Raum unendlich. Und darum ist der Raum auch relativ, wie wir am Ende des § 3 gesehen haben. Also ist es die Wiederholung, die dem Raum seine wesentlichen Merkmale verleiht, die Wiederholung aber setzt die Zeit voraus; damit ist gesagt, daß die Zeit logisch früher war als der Raum.

 

§ 7. Die Rolle der halbkreisförmigen Kanäle.

Ich habe bis jetzt nicht von der Rolle gewisser Organe gesprochen, denen die Physiologen mit Recht einen wichtigen Einfluß zuschreiben, ich meine die halbkreisförmigen Kanäle. Zahlreiche Erfahrungen haben genügend gezeigt, daß diese Kanäle unserem Orientierungssinn nötig sind; aber die Physiologen sind nicht ganz einer Meinung. Zwei entgegengesetzte Theorien sind aufgestellt worden, die von Mach-Delage und die von de Cyon.

De Cyon ist ein Physiologe, der seinen Namen durch wichtige Entdeckungen über die Innervation des Herzens bekannt gemacht hat; ich kann seine Ansichten über die Frage, die uns beschäftigt, nicht immer teilen. Da ich nicht Physiologe bin, so trage ich Bedenken, die Experimente zu beurteilen, die er gegen die entgegengesetzte Theorie von Mach-Delage richtet; sie scheinen mir jedoch nicht beweisend zu sein, denn in vielen von ihnen ließ er den Druck in einem Kanal im ganzen variieren, während physiologisch nur der Unterschied des Druckes auf beide Enden des Kanals sich ändert; bei anderen waren die Organe schwer verletzt, was ihre Funktion beeinflussen mußte.

Wie dem auch sei; wenn die Experimente auch einwandfrei wären, würden sie vielleicht die alte Theorie widerlegen; sie würden aber für die neue Theorie nichts beweisen. In der Tat wird es, wenn ich die Theorie richtig verstanden habe, genügen, sie darzustellen, um zu zeigen, daß es unmöglich ist, ein Experiment zu ersinnen, das sie bestätigt.

Nach dieser Theorie haben die drei Paare von Kanälen nur die einzige Funktion, uns kundzutun, daß der Raum drei Dimensionen hat. Die japanischen Mäuse haben nur zwei Paar Kanäle; sie glauben allem Anschein nach, daß der Raum nur zwei Dimensionen hat, und sie bekunden diese Ansicht auf die seltsamste Weise: sie bilden einen Kreis, indem jede die Nase unter den Schwanz der vorhergehenden steckt, und so gruppiert beginnen sie, sich rasch zu drehen. Die Lampreten, die nur ein Paar Kanäle haben, glauben, daß der Raum nur eine Dimension habe, aber ihre Kundgebungen sind weniger stürmisch.

Es ist leicht ersichtlich, daß eine derartige Theorie nicht annehmbar ist. Die Sinnesorgane sind dazu bestimmt, uns die Veränderungen zu verkünden, die in der äußeren Welt vor sich gehen. Man könnte nicht verstehen, warum der Schöpfer uns Organe gegeben hätte, die dazu bestimmt wären, uns unaufhörlich zuzurufen: Denke daran, daß der Raum drei Dimensionen hat! da doch die Zahl dieser Dimensionen nicht dem Wechsel unterworfen ist.

Wir müssen also auf die Theorie von Mach-Delage zurückkommen. Das, was wir durch die Nerven der Kanäle erkennen können, ist der Unterschied des Druckes an den beiden Enden eines und desselben Kanales, und dadurch kommt uns zum Bewußtsein:

1. die Richtung der Vertikallinie in bezug auf drei unveränderlich mit dem Kopf verbundene Achsen;

2. die drei Komponenten der Translationsbeschleunigung des Schwerpunktes des Kopfes;

3. die durch die Drehungen des Kopfes hervorgerufenen Zentrifugalkräfte;

4. die Beschleunigung der Drehbewegungen des Kopfes.

Es ergibt sich aus den Experimenten von Delage, daß diese letzte Angabe bei weitem die wichtigste ist; ohne Zweifel weil die Nerven weniger empfindlich gegen den Unterschied des Druckes selbst sind, als gegen die plötzlichen Änderungen dieses Unterschiedes. Die drei ersten Angaben können also unbeachtet bleiben.

Wenn wir die Beschleunigung der Drehgeschwindigkeit des Kopfes in jedem Augenblick kennen, so folgern wir daraus durch eine unbewußte Integration die schließliche Stellung des Kopfes, in bezug auf eine bestimmte Anfangsstellung, die als Ursprung angenommen ist. Die halbkreisförmigen Kanäle tragen also dazu bei, uns über die Bewegungen, die wir ausgeführt haben, Aufschluß zu geben, und zwar in gleichem Maße wie die Muskelempfindungen. Wenn wir also oben von der Reihe R und der Reihe P gesprochen haben, so hätten wir nicht sagen sollen, daß es nur Reihen von Muskelempfindungen sind, sondern gleichzeitig Empfindungen der Muskeln und Empfindungen der halbkreisförmigen Kanäle. Außer dieser Hinzufügung brauchten wir an dem vorhergehenden nichts zu ändern.

In den Reihen R und P nehmen diese Empfindungen der halbkreisförmigen Kanäle ersichtlich einen äußerst wichtigen Platz ein. Dennoch würden sie allein nicht genügen, weil sie uns nur über die Bewegungen des Kopfes belehren können; sie lehren uns nichts über die Bewegungen des Rumpfes oder der Glieder in bezug auf den Kopf. Außerdem scheinen sie uns nur über die Drehungen des Kopfes und nicht über die Verschiebungen, die er ausführt, zu unterrichten.


 << zurück weiter >>