Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.
Die Zukunft der mathematischen Physik.

Die Prinzipien und die Erfahrung. Was bleibt unter so viel Trümmern aufrecht stehen? Das Prinzip der kleinsten Wirkung ist bis jetzt unberührt, und Larmor scheint zu glauben, daß es die anderen lange überleben wird; es ist allerdings viel unbestimmter und viel allgemeiner.

Welche Haltung wird die mathematische Physik bei diesem allgemeinen Zusammenbruch der Prinzipien annehmen? Aber bevor man sich allzusehr aufregt, ist es gut, sich zu fragen, ob denn auch alles das wahr ist. Alle diese Bedenken gegen die Prinzipien ergeben sich nur im unendlich Kleinen; man braucht das Mikroskop, um die Brownsche Bewegung zu sehen; die Elektronen sind sehr klein; das Radium ist sehr selten, und man hat davon nie mehr als einige Milligramm auf einmal; und dann kann man sich fragen, ob neben diesem unendlich Kleinen, das man sieht, nicht ein anderes unendlich Kleines ist, das man nicht sieht, und das dem ersten das Gegengewicht hält.

Es ist dies also eine Vorfrage, und dem Anschein nach kann nur die Erfahrung sie lösen. Wir können es also nur den Experimentatoren überlassen und sollten uns, bis sie den Streit endgültig entschieden haben, nicht mit diesen beunruhigenden Problemen beschäftigen, sondern unsere Arbeiten ruhig fortsetzen, als ob die Prinzipien noch nicht angefochten wären. Wir haben ja noch viel zu tun, ohne das Gebiet, wo man sie mit voller Sicherheit anwenden kann, zu verlassen; wir haben noch genug, worauf wir unsere Tätigkeit während dieser Periode des Zweifels richten können.

Die Rolle des Analytikers. Und dennoch bestehen diese Zweifel; ist es wahr, daß wir nichts tun können, die Wissenschaft davon zu befreien? Es muß gesagt werden, es ist nicht nur die experimentelle Physik, die sie aufgebracht hat, die mathematische Physik hat für ihr Teil reichlich dazu beigetragen. Die Experimentatoren haben das Radium Energie hergeben sehen, aber die Theoretiker haben alle Schwierigkeiten klargelegt, die sich bei der Ausbreitung des Lichtes durch ein sich bewegendes Mittel einstellten; ohne sie würde man die Schwierigkeiten wahrscheinlich nicht geahnt haben. Wenn sie sich also nach Kräften bemüht haben, uns in die Zweifel hineinzubringen, so können wir auch fordern, daß sie uns helfen, wieder herauszukommen. Sie müssen alle diese neuen Ansichten, die ich soeben flüchtig skizziert habe, der Kritik unterwerfen und kein Prinzip aufgeben, bevor sie einen ehrlichen Versuch gemacht haben, es zu retten. Was sie in dieser Richtung tun können, will ich zu erklären versuchen.

Vor allem handelt es sich darum, eine befriedigendere Theorie der Elektrodynamik der sich bewegenden Körper auszubilden. Hier drängen sich, wie ich schon genügend gezeigt habe, die Schwierigkeiten hauptsächlich zusammen; so sehr man auch Hypothesen anhäuft, man kann nicht allen Prinzipien gleichzeitig genügen. Bis jetzt ist es nur gelungen, die einen zu retten unter der Bedingung, daß man die anderen opferte; aber noch ist nicht alle Hoffnung verloren, bessere Resultate zu erzielen. Wenn wir die Theorie von Lorentz nehmen, sie nach allen Richtungen umwenden, sie nach und nach abändern, so wird sich leicht noch alles in Ordnung bringen lassen.

Könnte man nicht, statt anzunehmen, daß die in Bewegung befindlichen Körper eine Verdichtung in der Richtung der Bewegung erleiden, und daß diese Verdichtung die gleiche sei, wie auch die Natur dieser Körper und die Kräfte, denen sie sonst unterworfen sind, sein mögen, eine einfachere und natürlichere Hypothese aufstellen? Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, daß es der Äther ist, der sich verändert, wenn er sich in Bewegung befindet in bezug auf das materielle Mittel, das ihn durchdringt, daß er, so verändert, die Störungen nicht mehr mit der gleichen Geschwindigkeit in allen Richtungen fortpflanzt. Er würde die, die sich parallel mit der Bewegung des Mittels ausbreiten, sei es in der gleichen oder der entgegengesetzten Richtung, schneller leiten, und die, die sich senkrecht dazu ausbreiten, langsamer. Die Wellenoberflächen wären keine Kugeln mehr, es wären Ellipsiode, und man könnte die außergewöhnliche Verdichtung der Körper entbehren.

Ich führe dies nur als Beispiel an, da die Abänderungen, die man versuchen könnte, augenscheinlich endlos variieren könnten.

Die Aberration und die Astronomie. Es ist auch möglich, daß uns die Astronomie einst Aufschluß über diesen Punkt gibt; war sie es doch, die die Frage zuerst angeregt hat, indem sie uns die Erscheinung der Aberration des Lichtes kennen lehrte. Wenn man die Theorie der Aberration nur grob ausführt, so kommt man zu sehr seltsamen Ergebnissen. Die scheinbaren Stellungen der Sterne sind von ihren wirklichen Stellungen verschieden durch die Bewegung der Erde, und da diese Bewegung sich ändert, so ändern sich auch diese scheinbaren Stellungen. Die wirkliche Stellung kennen wir nicht, aber wir können die Änderungen der scheinbaren Stellungen beobachten. Die Beobachtung der Aberration zeigt uns also nicht die Bewegungen der Erde, wohl aber die Änderungen dieser Bewegung, sie kann uns folglich nicht über die absolute Bewegung der Erde belehren.

Dies gilt wenigstens in erster Annäherung, es wäre aber nicht mehr so, wenn wir die Tausendstel der Sekunde messen könnten. Man würde dann sehen, daß die Amplitude der Schwingung nicht allein von der Änderung der Bewegung abhängt, eine Änderung, die wohl bekannt ist, da es die Bewegung unserer Erdkugel in ihrer elliptischen Bahn ist, sondern von dem mittleren Wert dieser Bewegung, derart, daß die Konstante der Aberration nicht ganz die gleiche für alle Sterne ist, und daß uns die Unterschiede die absolute Bewegung der Erde im Raum kennen lehrten.

Dieses wäre unter einer anderen Form der Zusammensturz des Prinzips der Relativität. Wir sind allerdings weit davon entfernt, das Tausendstel der Sekunde wahrzunehmen, aber dennoch sagen manche, daß die gesamte absolute Geschwindigkeit der Erde vielleicht viel größer ist als ihre Geschwindigkeit in bezug auf die Sonne. Wenn sie zum Beispiel 300 km in der Sekunde betrüge anstatt 30, so würde das genügen, um die Erscheinung merklich zu machen.

Ich glaube, daß man, wenn man so folgert, eine zu einfache Theorie der Aberration annimmt; Michelson hat uns, wie ich schon gesagt habe, gezeigt, daß die physikalischen Vorgänge nicht imstande sind, die absolute Bewegung nachzuweisen; ich bin überzeugt, daß es ebenso mit den astronomischen Vorgängen ist, wie weit man auch die Genauigkeit treiben möge.

Wie dem auch sei, die Angaben, die die Astronomie uns in dieser Richtung liefert, werden dem Physiker eines Tages wertvoll sein. Inzwischen glaube ich, daß die Theoretiker in Erinnerung an Michelsons Versuche ein negatives Resultat erwarten können, und daß sie ein nützliches Werk tun würden, wenn sie eine Theorie der Aberration ausbilden würden, die dem im voraus Rechnung trägt.

Die Elektronen und das Spektrum. Der Dynamik der Elektronen kann man sich von vielen Seiten nähern, aber unter den Wegen, die dahin führen, ist einer, der etwas vernachlässigt worden ist, und doch ist es einer von denen, die uns die meisten Überraschungen versprechen. Es sind die Bewegungen der Elektronen, die die Streifen der Emissionsspektren hervorbringen; dies wird bewiesen durch das Zeemannsche Phänomen. Was in einem glühenden Körper schwingt, ist gegen den Magnet empfindlich, also elektrisch. Dies ist ein erster, sehr wichtiger Punkt, aber man ist noch nicht weiter gekommen; warum sind die Streifen des Spektrums nach einem regelmäßigen Gesetz verteilt? Diese Gesetze sind von den Experimentatoren in ihren kleinsten Einzelheiten studiert worden; sie sind sehr genau und verhältnismäßig einfach. Das erste Studium dieser Verteilung erweckt den Gedanken an die Harmonie, die man in der Akustik findet; aber der Unterschied ist doch groß. Nicht nur sind die Zahlen der Schwingungen nicht die aufeinanderfolgenden Vielfachen ein und derselben Zahl; wir finden sogar nichts den Wurzeln der transzendenten Gleichungen Entsprechendes, auf die uns so viele Probleme der mathematischen Physik führen: das der Schwingungen eines elastischen Körpers beliebiger Form, das der Hertzschen Schwingungen in einem Entlader beliebiger Form, das Fouriersche Problem über die Erkaltung eines festen Körpers.

Die Gesetze sind einfacher, aber von ganz anderer Art, und um nur einen dieser Unterschiede hervorzuheben: die Schwingungszahl der Oberschwingungen strebt einer endlichen Grenze zu, statt ins Unendliche zu wachsen.

Hierüber hat man sich noch nicht Rechenschaft gegeben, und ich glaube, daß dies eins der wichtigsten Geheimnisse der Natur ist. Ein japanischer Physiker, Nagaoka, hat kürzlich eine Erklärung vorgeschlagen. Die Atome sind nach ihm aus einem großen positiven Elektron, der von einem Ring aus sehr vielen, sehr kleinen negativen Elektronen umgeben ist, gebildet; wie der Planet Saturn mit seinem Ring. Dies ist ein sehr interessanter, aber noch nicht ganz befriedigender Versuch, er müßte erneuert werden. Wir dringen sozusagen in das Innere der Materie ein. Und von unserem heutigen Standpunkt aus werden wir vielleicht die Dynamik der Elektronen besser verstehen und leichter mit den Prinzipien in Einklang bringen, wenn wir wissen, warum die Schwingungen glühender Körper von den gewöhnlichen elastischen Schwingungen so verschieden sind, warum die Elektronen sich nicht wie die uns vertraute Materie verhalten.

Die Übereinkunft in der Erfahrung. Nehmen wir jetzt an, daß alle Bemühungen scheitern, obwohl ich, alles wohl erwogen, dies nicht glaube; was müssen wir dann tun? Müßte man versuchen, die angegriffenen Prinzipien auszubessern, indem man ihnen, wie die Franzosen sagen, einen »Stoß mit dem Daumen« versetzt? Dies ist augenscheinlich immer möglich, und ich nehme nichts von dem zurück, was ich weiter oben gesagt habe. Wenn man mich angreifen wollte, so könnte man mich fragen, ob ich nicht gesagt habe, daß die Prinzipien, wenn auch experimentellen Ursprunges, jetzt unerreichbar für die Erfahrung seien, weil sie zu Übereinkommen geworden sind; und eben sage ich, daß die neuesten Eroberungen der Erfahrung diese Prinzipien in Gefahr bringen?

Allerdings: ich hatte damals recht und habe jetzt nicht unrecht. Ich hatte damals recht, und was jetzt vor sich geht, ist ein neuer Beweis dafür. Nehmen wir als Beispiel die kalorimetrische Erfahrung Curies über das Radium. Ist es möglich, es mit dem Prinzip der Erhaltung der Energie in Einklang zu bringen? Man hat es auf sehr viele Arten versucht; es ist aber unter anderen eine, die ich hervorheben möchte. Es ist nicht die Erklärung, die heute den Sieg davonzutragen scheint, aber es ist eine der vorgeschlagenen. Man hat angenommen, daß das Radium nur ein Vermittler sei, daß es nur Strahlungen unbekannter Natur aufspeicherte, die den Raum in allen Richtungen durchziehen, und alle Körper außer dem Radium durchdringen, ohne dadurch geändert zu werden und ohne irgendeine Wirkung auf sie auszuüben. Nur das Radium entzöge ihnen etwas Energie und gäbe sie uns später unter verschiedenen Formen zurück.

Wie vorteilhaft und wie bequem ist diese Erklärung. Erstens ist sie unbeweisbar und darum auch unwiderlegbar. Dann kann sie dazu dienen, von jeder beliebigen Verletzung des Mayerschen Prinzips Rechenschaft zu geben; sie beantwortet im voraus nicht nur den Einwurf von Curie, sondern alle Einwürfe, die zukünftige Experimentatoren vorbringen können. Diese neue und unbekannte Energie kann zu allem dienen.

Das ist gerade das, was ich gesagt habe, und das zeigt uns deutlich, daß unser Prinzip für die Erfahrung unangreifbar ist.

Und was haben wir nun mit diesem Daumenstoß gewonnen? Das Prinzip ist unberührt, aber wozu kann es noch nützen? Es erlaubte uns vorauszusehen, daß wir unter gewissen Umständen auf gewisse allgemeine Mengen Energie zählen könnten; es hat uns beschränkt. Jetzt aber, wo man uns diesen unendlichen Vorrat neuer Energie zur Verfügung stellt, sind wir durch nichts mehr gehemmt, und, wie ich in »Wissenschaft und Hypothese« gesagt habe, wenn ein Prinzip aufhört fruchtbar zu sein, so wird es die Erfahrung, ohne ihm direkt zu widersprechen, doch verurteilen.

Die zukünftige mathematische Physik. Das ist es also nicht, was zu tun wäre; wir müßten von Grund auf neu bauen. Wir könnten uns übrigens trösten, wenn wir dazu genötigt würden. Man braucht noch nicht zu folgern, daß die Wissenschaft eine Penelopearbeit verrichtet, daß sie nur vergängliche Gebäude aufführen kann, die sie bald wieder mit eigenen Händen von Grund aus zerstören müßte.

Wie ich schon früher gesagt habe, sind wir schon durch eine ähnliche Krisis hindurchgegangen. Ich habe gezeigt, daß man in der zweiten Phase der mathematischen Physik, der der Prinzipien, die Spuren der ersten, der der zentralen Kräfte, wiederfindet; es wird noch ebenso sein, wenn wir eine dritte kennen werden. So erkennt man bei dem Tier, das sich häutet, das seine zu enge Hülle bricht und sich mit einer jüngeren umgibt, unter seiner neuen Decke leicht die wesentlichen Züge des fortbestehenden Organismus.

Nach welcher Richtung wir uns ausbreiten werden, können wir nicht voraussehen; vielleicht wird die kinetische Theorie der Gase sich so entwickeln, daß sie den anderen zum Vorbild dienen kann. Dann würden die Tatsachen, die anfangs einfach erschienen, nur noch die Resultanten einer sehr großen Zahl elementarer Tatsachen sein, die nur die Gesetze des Zufalls nach ein und demselben Ziel hinführen würden. Das physikalische Gesetz würde dann ein vollständig neues Ansehen erhalten; es wäre nicht mehr bloß eine Differentialgleichung, es würde den Charakter eines statistischen Gesetzes annehmen.

Vielleicht müßten wir auch eine ganz neue Mechanik ersinnen, die uns nur undeutlich vorschwebt, worin, da der Widerstand mit der Geschwindigkeit wächst, die Geschwindigkeit des Lichtes eine unüberschreitbare Grenze wäre. Die gewöhnliche Mechanik würde ganz einfach eine erste Annäherung bleiben, die für nicht sehr große Geschwindigkeiten wahr bleiben würde, so daß man noch die alte Dynamik unter der neuen finden würde. Wir brauchen also nicht zu bedauern, an die Prinzipien geglaubt zu haben, und, da die für die alten Formeln zu großen Geschwindigkeiten immer nur Ausnahmen sein würden, wäre es in der Anwendung sogar am sichersten, zu tun, als glaubte man immer noch daran. Sie sind so nützlich, daß ihnen ein Platz aufgehoben werden müßte. Sie ganz ausschließen wollen, hieße, sich einer wertvollen Waffe berauben. Ich füge aber zum Schluß noch ausdrücklich hinzu, daß wir noch nicht so weit sind, und daß noch durch nichts bewiesen ist, daß sie nicht siegreich und unberührt aus dem Kampfe hervorgehen werden.


 << zurück weiter >>