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Frau Thekla befand sich in ihrem Schlafzimmer. Die Schneiderin war bei ihr. Auf allen Möbeln, ja selbst auf dem Bett lagen Kleider, Umhänge, Mäntel und Taillen umher. Und immer noch mehr davon schleppte Hedwig herbei. Wernberg war auf einige Tage verreist. Seine Gattin benutzte die Gelegenheit, ihre Gesellschaftstoiletten einer gründlichen Musterung zu unterziehen. Man war schon mitten drin in der Winterszeit, aber die eigentliche Saison begann doch erst zu Neujahr.
Drei Winter hintereinander war Thekla nun schon als verheiratete Frau ausgegangen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte es damit gut sein können; eine Mutter gehörte doch eigentlich nicht auf Bälle! – Aber Leo war anderer Ansicht. Er hatte ihr wiederholt auseinandergesetzt, daß der Hof es ihnen ernstlich verargen würde, wenn sie sich ohne triftigen Grund hätten zurückziehen wollen. Außerdem sei man es sich selbst schuldig und schließlich auch dem Jungen, die tonangebende Stellung, die man innehatte, nicht aus Bequemlichkeit aufzugeben. Thekla hatte sich bisher noch immer diesem Wunsche gefügt, weniger, weil seine Gründe sie überzeugt hätten, als vielmehr, weil sie sah, daß, im geselligen Treiben zu stehen, für ihn Lebensbedürfnis war.
4 Man hatte heute bereits ein gut Stück Arbeit hinter sich. Verschiedene Kleider waren anprobiert worden. Einige wurden als veraltet zurückgestellt, andere sollten aufgefrischt werden. Da war eine Taille zu verändern, von einer Robe waren die Spitzen abzutrennen und auf eine andere zu setzen, eine Sortie-de-Bal sollte modernisiert, ein seidenes Dinerkleid gereinigt werden. Alle diese Fragen erforderten Zeit.
Frau Thekla stand in Unterkleidern, einen Hermelinkragen über den bloßen Schultern vor dem Gegenspiegel. Sie ließ sich ankleiden und auskleiden, an sich herum nesteln, stecken, glätten und probieren. Die beiden anderen Frauen: Schneiderin und Jungfer, knieten abwechselnd vor ihr, Nähnadeln mit Zwirn, Schere und Fingerhut in der Hand, Stecknadeln noch überdies zwischen den Lippen haltend. Hedwig kannte, seit ihre Heiratspläne so kläglich gescheitert waren, nur einen Ehrgeiz: ihre gnädige Frau jederzeit so angezogen zu sehen, daß sie alle anderen Damen ausstach. Die Schneiderin, Frau Santas, eine hagere Witwe, bediente ihre Kunden mit unterwürfiger Geschwätzigkeit, die auf kluger Berechnung beruhte. Sie war in die intimsten Verhältnisse der ersten Häuser eingeweiht, leistete Großes im Klatsch und verstand es, während sie die Damen zu unterhalten vorgab, ihre eigenen Geschäfte zu betreiben. Man probierte jetzt ein Hofkleid an, aus Seidenbrokat mit Courschleppe.
»Frau Baronin sind schlanker geworden, wir müssen das Kleid im Ganzen enger machen,« meinte die Santas, während sie mit Stecknadeln eine Falte absteckte. »Es ist so sehr verschieden bei den verheirateten Damen; manche bekommen ihre Figur nach ein paar Monaten schon wieder, andere verlieren sie auf Nimmerwiedersehen. Frau Baronin haben eigentlich erst Figur bekommen, seit – wie alt ist 5 denn der Prinz jetzt – seit drei Jahren. Ich spreche immer: junge Mädchen anziehen ist keine Kunst, da kommt's ja schließlich auch nicht so drauf an; aber bei jungen Frauen da zeigt sich's, was eine kann. – – Den Ausschnitt müssen wir verändern. Man trägt übrigens jetzt keine Modestie mehr. Wenn man solchen Hals hat, wie Frau Baronin, ist das wirklich auch nicht nötig. Um jeden Zoll wär's schade! – Was manche Damen für Figuren haben! – Da ist diese Komtesse Nadelwitz, von der sie jetzt so viel Aufsehen machen. Die bestellt sich alles in Berlin, aber neulich kommt sie zu mir, als sie das Kostüm zur Gavotte schnell haben mußte. Ich sage, Frau Baronin, wie wir sie auf hefteln – mein Zuschneidefräulein war dabei – wir haben uns angesehen. – Ich sage Ihnen . . . ..«
Thekla schnitt das Weitere ab.
»Wollen sich Frau Baronin nicht mal von hinten sehen?« fragte die Santas. »Das Kleid sitzt wie neu. Ich spreche immer: eine gute Façon ist nicht tot zu kriegen und eine gute Figur auch nicht!«
Frau Thekla betrachtete sich von allen Seiten im Stehspiegel und äußerte ihre Befriedigung. Schon wollte sie sich wieder auskleiden lassen, als ihr mit einemmale der Einfall kam: wie, wenn sie sich Gerdchen so zeigte. Er hatte sie noch nie im Ballkostüm gesehen, denn im vorigen Winter war er noch zu dumm gewesen, um irgendwas in sich aufzunehmen. Was er wohl für Augen machen würde, der kleine Kerl! –
Sie steckte sich schnell eine Brillantbroche vor, that einen Reiherstutz in's Haar, um die große Toilette zu vervollständigen. Dann nahm sie die Courschleppe über den Arm und bat Hedwig, die Thür zum Kinderzimmer aufzumachen.
6 Klein-Gerdchen saß im Kinderstühlchen an einem niedren Tisch, neben sich die Kinderfrau. Sie war dabei, ihm wohl zum zwanzigsten Male aus bunten Pappwürfeln einen Turm aufzubauen, und er brachte zum zwanzigsten Male dieses Monument durch einen Schlag mit der kleinen Faust zum Einsturz.
Der Junge starrte die lichte Gestalt, die sich jetzt zeigte, aus großen, unklugen Augen an. »Nu, Gerd, was is denn aber das?« rief die Wärterin. »Wird das nicht am Ende gar das Christkindel sein!« Die Mutter trat näher. Jetzt wurde sie erkannt. Ein beseligtes Lächeln ging über das Gesicht des Kleinen. »Mama!« rief er und klatschte in die Hände.
Sie ließ die Schleppe fallen und hob den Jungen aus seinem Stühlchen zu sich empor. Seine blonden Locken vermischten sich mit ihrem Haar, dem sie sehr ähnlich waren. Das Kind griff nach der Brillantbroche: »Auch haben!« Das war sein Stichwort allem gegenüber, was ihm in's Auge fiel. Thekla zog ihm sanft das Händchen fort, damit er sich nicht stechen sollte. »Gerd, mein Liebling! Gefalle ich dir?« – fragte sie ganz ernsthaft. Der Junge lachte sie an und machte Miene nach dem Reiherstutz zu langen. »Auch haben!« Sie mußte das Haupt bei Seite beugen, um seinen kecken Griffen zu entgehen. Nachdem Thekla das Kind abgeküßt und es der Wärterin zurückgegeben hatte, fragte sie: ob sie dem Papa etwas von ihm ausrichten solle, in ihrem Briefe.
»Sprich!« soufflierte die Kinderfrau. »Sprich: Gerdchen läßt Papa schön grüßen. Wir sind sehr artig, und der Papa möchte schön gesund bleiben und recht bald wiederkommen!« Thekla nickte und winkte dem Jungen noch von der Thür aus zu. »Guckguck, Gerdchen!«
Die Santas hatte inzwischen die Gelegenheit benutzt, 7 wo die Herrin im Nebenzimmer war, der Jungfer eine Anzahl Musterbücher und Kataloge vorzulegen. Hedwig sollte helfen, ihre Dame zum Bestellen möglichst vieler und kostspieliger Toiletten zu bewegen. »Hier ist die neue Saison! Lauter Nouveautés!« rief die Schneiderin, als Thekla zurückkam. »Frau Baronin brauchen verschiedenes.« Thekla sah sich die Muster zerstreuten Blickes an; ihre Gedanken waren noch bei dem Jungen. »Ja, sehr nett!« sagte sie, »aber, ich bestelle nichts ohne meinen Mann.« Die Santas lächelte. »Die andern Damen suchen sich ihre Roben immer selbst aus!« Es war ihr gar nicht recht, daß man die Entscheidung des Gatten abwarten wollte. Sie kannte Herrn von Wernberg; ihm konnte man so leicht nichts vormachen. Er wußte genau, wieviel Meter Stoff in einem Kleide steckten, und in Bezug auf den Preis war er sehr peinlich. Aber trotz alles Zuredens brachte sie die junge Frau nicht dazu, heute schon ihre Wahl zu treffen. »In ein paar Tagen kommt mein Mann zurück. Schicken Sie mir dann Ihre Proben, Frau Santas!«
Die Schneiderin ging. Thekla schlüpfte in ein Alltagskleid. Sie befahl Hedwig, Ordnung zu machen. Dann begab sie sich in ihr Wohnzimmer, denn sie wollte nunmehr den Brief an Leo schreiben.
Wernberg war zu seiner Mutter gereist. Die Excellenz brauchte den Rat des Sohnes. Ihre zweite Tochter, die Gräfin Nieden, wollte sich von ihrem Manne scheiden lassen. Die Vermögensauseinandersetzung und die Frage, wem die Kinder zugesprochen werden würden, machte Schwierigkeiten. Die Gräfin weilte augenblicklich im Hause der Mutter. Leos Aufenthalt bei den Damen war auf so lange vorgesehen, als er dort gebraucht werden würde. Thekla schrieb ihm jeden Tag, denn das verlangte er. Sie hatte bisher nicht viel zu berichten gehabt. Dem Jungen ging 8 es gut, und auch sonst war im Hause alles in Ordnung. Heute konnte sie ihm wenigstens eine Neuigkeit erzählen: Sie war vormittags in einem Galanteriewarengeschäft mit der Herzogin zusammengetroffen, die in Begleitung einer Hofdame dort Einkäufe machte. Die Landesmutter hatte sie angeredet, sich nach Gerd erkundigt, kurz, war sehr liebenswürdig gewesen. Die Unterhaltung wurde Leo Wort für Wort wiedergegeben; Thekla wußte, daß ihn das mehr als irgend etwas anderes erfreuen werde.
Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm die Mappe vor und wollte das Datum schreiben. Ja, was für ein Datum hatte man denn? Mechanisch langte sie nach dem zierlichen Buchkalender, den ihr ein Papiergeschäft zum letzten Neujahr als Reklame in's Haus geschickt hatte. Wie, heute der zehnte Dezember? Ihr Hochzeitstag! – Frau Thekla legte die Feder aus der Hand und lehnte sich zurück. Daß man so etwas einfach vergessen konnte! – Leo würde sicher auch nicht daran gedacht haben! Und es war doch erst vier Jahre her!
Was hatte sich nicht alles zugetragen seitdem! Menschen waren gestorben, neue dafür in ihren Gesichtskreis getreten. Die gute alte Sidonie Wallamber lag auch schon draußen. Sie hatte noch Theklas und Leos Trauung in voller Munterkeit miterlebt; auf der Hochzeitsreise in Biarritz erhielten sie die Nachricht von Tante Sidoniens Heimgang.
Tante Sidonie – ihre Verlobungszeit – – wie ihr das alles jetzt so sonderbar erschien, in dem gedämpften Lichte der Erinnerung! Eine ganz andere Person schien ihr die Thekla aus jener Zeit, mit anderen Empfindungen, Gedanken und Bedürfnissen. Früher war ihr Leben gewesen, wie ein Gewässer, das Wind und Zufall da und dorthin getrieben hatten, jetzt wurde es eingeengt durch die steilen Ufer der Notwendigkeit; schneller, bewußter 9 und tiefer schien es seinem Ziele zuzueilen. Kaum daß sie noch gefragt wurde, oder daß sie sich selbst fragen durfte, was sie wolle; ein härteres Schicksal regierte sie jetzt, sie mußte vorwärts in einer ihr selbst unbekannten Richtung. Beschaulichkeit, Träumerei, jungfräulich empfindsames Sich-zurückziehen und -einpuppen in seine Gefühle gab es nicht mehr.
Wenn man der Thekla von damals gesagt hätte, daß sie schon im zweiten Jahre nach der Hochzeit, ihr Obdach, Tante Wandas trauliches Häuschen, verlassen werde, um in ein modernes, großes, elegantes Gebäude zu ziehen, das Wernberg auf demselben Grundstück hatte errichten lassen!
Da drüben lag es, das alte, kleine, liebe Haus, in dem Wanda Lüdekind ihr Leben zugebracht und beendet hatte. Jetzt wohnte eine fremde Familie darin zur Miete. Eine Mauer war zwischen dem alten Hause und dem Gartengrundstück aufgeführt worden, weil Leo es nicht wünschenswert fand, daß die Mieter ihm in seine Parterrefenster blickten.
Thekla hatte nie wieder, seit dem Umzuge in das neue Haus, das alte betreten. Nur ihr Blick schweifte manchmal herüber, wenn sie wie heute an ihrem Schreibtische saß. Was hinter jener hohen Mauer jetzt vor sich gehe, wollte sie gar nicht wissen. Für sie lebten unter jenem Dache noch immer: Tante Wanda, Reppiner, und mancher andere alte Freund. Die Herrin jener besonderen Welt, Wanda Lüdekind, war gestorben, der Freundeskreis auseinandergeflogen. Von Reppiner, der in eine andere Stadt übergesiedelt war, hatte sie lange nichts mehr vernommen. Und sie selbst schließlich war auch nicht mehr die alte, nicht mehr Thekla Lüdekind, sondern Frau von Wernberg, etwas ganz anderes.
Sie saß eine ganze Weile so in Nachdenken versunken. 10 Die Tinte in der Feder trocknete ein, der Briefbogen blieb unbeschrieben. Als die elektrische Klingel im Vorsaale erklang, schrak sie zusammen; so tief hatte sie sich in das Land der Vergangenheit verloren.
Hoffentlich würde Karl daran denken, daß ihm befohlen war, während der gnädige Herr verreist, keinen Besuch vorzulassen. Wieder Erwarten trat der Diener ein und meldete: »Gnädige Fraus Mutter und der Herr Bruder!«
Die Mutter und Arthur! – Das war freilich etwas anderes! Frau Thekla eilte in den Vorsaal, um sie zu empfangen, rief dabei dem Diener zu, er solle das Kaffeezeug bringen.
Die beiden waren lange nicht da gewesen. Es herrschte zwischen Thekla und ihrer Familie, seit sie geheiratet hatte, kein allzu reger Verkehr.
Theklas Mutter trauerte. Sie war zum zweiten Male Witwe. Bei Sänger war ein altes Unterleibsleiden, das als verheilt gegolten hatte, von neuem aufgetreten. Seine Frau pflegte ihn bis zum letzten Atemzuge mit Aufopferung. Er war noch auf dem Totenbette der phrasenreiche, moralisierende, pedantische Herr, der er zeitlebens gewesen. An den Ernst seines Zustandes glaubte er keinen Augenblick. Leute, wie er, können sich nun mal nicht vorstellen, daß die Welt ohne sie bestehen kann. Und als er schließlich gegangen war, bestand sie weiter ebenso gut, wenn nicht besser. Wer hätte sich auch um diesen selbstzufriedenen Mann ernsthaft grämen sollen? – Seine Frau betrauerte ihn zwar, aber es war ein Schmerz der nicht hinabreichte bis in die Tiefen des großen Leids. Ja, in ihrer Trauer an diesem frischen Grabhügel dachte sie mehr an den ersten Gatten, als an ihn. So geht es: alte Wunden öffnen sich nach Jahre, und fließen über, stärker, als da sie geschlagen 11 wurden; ein Zeichen vielleicht, daß sie ihrer Zeit nicht genug geblutet haben. –
Frau Sänger war zu ihrem Sohne gezogen. Arthurs Familie hatte sich inzwischen um zwei weitere Kinder vermehrt. Ella stand mit ein paar Jungens und einem Mädchen, was Kinderreichtum anlangte, an der Spitze der Familie. Ein viertes wurde erwartet.
Agnes besaß zwei Knaben. Übrigens war Seeheim kürzlich in die nächstgrößte Stadt des Landes versetzt worden.
Wernberg und Arthur waren einander nie sonderlich grün gewesen. Arthur machte dem Gatten seiner Schwester Hochmut und Eigennutz zum Vorwurf, Leo dagegen rümpfte die Nase über Arthur, der es in seiner Indolenz nie zu etwas bringen werde.
Am meisten unter diesem kühlen Verhältnis litt Thekla. An ihr vollzog sich das, was jede junge Frau erleben muß: sie war durch die Heirat den Ihren entfremdet worden, gehörte nun unwiederbringlich dem Familienkreise ihres Mannes an.
Sie freute sich, daß Arthur sie wiedermal aufsuchte, und daß er gar die Mutter mitbrachte, war ihr doppelt willkommen. Daß Leo nicht anwesend, schien nur gut; da brauchte man wenigstens keine Auseinandersetzungen zwischen den Schwägern zu befürchten.
»Nun wollen wir recht gemütlich sein!« sagte Thekla, als sie die beiden in ihr Zimmer geführt hatte. »Mama, du wirst doch ablegen! Erst wird Kaffee getrunken und später lasse ich Gerdchen kommen. Arthur hat den Jungen seit einem Jahr, glaube ich, nicht mehr angesehen.«
»Ach weißt du, Thekla, nimm mir's nicht übel!« erwiderte Arthur »aber ich genieße von dem Artikel: kleine Kinder, zu Haus so viel, daß ich ganz zufrieden bin, mal 12 nichts von ihnen zu sehen und zu hören. Zwei liegen jetzt glücklich bei uns im Zahnen. Es ist ein Doppelkonzert, zum Davonlaufen!«
»Die arme Ella! Könnt ihr denn die Schreihälse nicht umquartieren?«
»Das kannst du sagen, mit einem Kind und einem Dutzend Zimmern! Unsereins muß sich die Ohren mit Geduld verstopfen.«
Man hatte sich gesetzt. Es war für Thekla so wunderlich, die Mutter wieder in Witwentracht zu sehen. Wie hatte die arme Frau sich im Laufe der letzten Jahre verändert! Fast nichts mehr erinnerte daran, daß sie ehemals eine frische, stattliche Erscheinung gewesen war, auf die man den Ausdruck »hübsch« hatte anwenden können. Wie grausam war das alles zerstört! Die Anmut gewichen und als Ersatz nicht einmal der Stempel der Eigenart da. Für Thekla hatte dieser natürliche Prozeß, den sie Schritt für Schritt an ihrer Mutter beobachtete, etwas unendlich Wehmütiges. Ob man auch mal so werden würde? –
Arthur hatte sich gegen früher eigentlich verjüngt, die Ehe bekam seinem inneren und äußeren Menschen gut. Er trug einen Backenbart, sein Haar begann sich zu lichten. Es war keine Frage, er wurde seinem Vater ähnlicher mit jedem Jahre.
Karl brachte das Kaffeezeug. Es war das Silber, welches Sidonie von Wallamber dem gegebenen Versprechen gemäß ihrem Neffen Leo vermacht hatte.
Frau Sänger that das, was sie immer zu thun pflegte, wenn sie bei ihrer Tochter Thekla zu Besuch war; sie bewunderte alles, was ihr in die Augen fiel, wahllos: die Wohnung, die Möbel, die Nippessachen, die Bilder.
»Und wie die Sachen bei euch gehalten werden! So 13 blankes Silber habe ich niemals erreichen können. Euer Diener muß das Putzen ausgezeichnet verstehen.«
»Ja, dafür hat ihn auch Leo angelernt, Mama!«
»Was für eine beneidenswerte Frau du bist, Thekla!« rief die Mutter in Extase. »Dein Mann nimmt dir alle Sorge um das Hauswesen ab. Freilich, man muß ja auch bedenken, wieviel du ihm zugebracht hast!«
Thekla schüttelte unwillig den Kopf, sie liebte es durchaus nicht, wenn ihre Mutter darauf zu sprechen kam.
Arthur hatte inzwischen das Porträt seines Vaters unverwandt betrachtet.
»Weißt du Thekla,« meinte Arthur, »um nichts beneide ich dich, außer um dieses Bild. Das ist doch etwas Einziges! Alle Photographieen und was es sonst giebt, kommen dem nicht nahe.«
Die Witwe wandte sich um; das Porträt hing hinter ihr. Auch Thekla betrachtete das ihr so wohlbekannte Meisterwerk. Es herrschte für eine Zeit zwischen den dreien tiefe Stille. Das Leben, das sie soweit auseinander geführt hatte, schien sie einmal wieder ihre Zusammengehörigkeit fühlen lassen zu wollen.
»Wenn man in der Lage wäre, sich das malen zu lassen!« sagte Arthur und seufzte.
»Arthur, ich lasse das Bild für dich kopieren!« rief Thekla. »Der Maler lebt noch. Er übernimmt den Auftrag sicher! Dann hat's die Mutter auch gleich mit. Was sagt ihr dazu? –«
»Thekla, das wäre herrlich von dir!« erwiderte Arthur.
»Wenn es nur dein Mann erlaubt,« fiel die Witwe ein. »Ich glaube, solche Kopie kostet am Ende geradesoviel wie das Original. Ich habe keine Ahnung, was Wanda damals bezahlt hat.«
14 »Das ist doch nicht unsere Sache, Mutter!« sagte Arthur halblaut.
»Ich meine nur, weil Wernberg doch nun mal so genau ist. Ich möchte nicht gern, daß Thekla Unannehmlichkeiten davon hätte!«
»Nun ich hoffe, daß Wernberg soviel Takt besitzen wird, sich darein wenigstens nicht zu mischen.«
»O, sprecht doch nicht so!« rief Thekla gequält.
Es entstand wieder eine Pause. Jedes hatte seine eigenen Gedanken. Die Zusammengehörigkeit war eben doch nur ein kurzer Schein gewesen. Im Grunde war man sich sehr fremd. Jedes von ihnen war seinen eigenen Weg gegangen. Die natürlichen Bande, die sie eine Zeit lang zusammengehalten hatten, zerfielen unaufhaltsam.
»Wir sind eigentlich in einer ganz bestimmten Absicht hierher gekommen, Thekla, mit dir etwas zu besprechen,« sagte Arthur und blickte dabei die Mutter fragend an. Die Mutter nickte ihm beistimmend zu.
»Also zunächst das Erfreuliche: ich bin nun endlich Regierungsassessor geworden.«
»Das ist ja herrlich, Arthur! Da wünsche ich dir von Herzen Glück!« rief Thekla und reichte dem Bruder die Hand. Sie wußte, daß er schon seit einiger Zeit sehnlichst auf Beförderung wartete.
»Die Sache hat allerdings noch einen Haken,« fuhr er fort. »Ich bin nämlich gleichzeitig versetzt worden.«
»Ihr wollt fort von hier!«
»Und das ziemlich schnell! Ich muß schon binnen heute und vierzehn Tagen antreten.«
»Nun und bist du denn zufrieden?«
»Ja und nein! Man geht natürlich nicht leichten Herzens von dem Orte, wo man seine Jugend zugebracht hat. Aber auf der anderen Seite sehe ich auch manches 15 Gute. Das Leben in H . . . . . soll billiger sein als hier, und die gesellschaftlichen Ansprüche nicht so groß. Dann haben wir dort Seeheims. Die Mutter wird auch mit uns gehen, hat sie gesagt.«
»Mama, du willst verziehen?« rief Thekla.
»Ja, mein Kind, ich habe mich dazu entschlossen. Obgleich's einem ja schwer wird, sich zu trennen, vor allem von den Gräbern. – Aber Arthur hat ganz recht, wenn er sagt: außer der Erinnerung haben wir doch eigentlich nichts hier, was uns fesselt.«
»Denkt ihr denn garnicht an mich? – Wenn ihr nun auch noch geht, dann habe ich niemanden hier von meiner eigenen Familie!«
Mutter und Sohn sahen sich von neuem mit einem Blicke des Einverständnisses an. Dann sagte Arthur: »Gewiß ist es schade, daß die Familie so ganz auseinandergerissen wird. Aber während der letzten Jahre haben wir sowieso nicht viel von dir gehabt, Thekla! Daß du daran nicht schuld bist, wissen wir. Du hast dich zu deinem Manne gehalten, und das ist ganz in der Ordnung so. Wernberg – du entschuldigst ein offenes Wort – Wernberg hat uns niemals irgend was von Verwandschaftlichkeit blicken lassen, eher das Gegenteil!«
Thekla schwieg zu dem, was der Bruder sagte. Obgleich er sie von Schuld freisprach, trafen sie seine Worte doch. Der Vorwurf blieb bestehen, daß es ihr nicht gelungen war, zwischen ihrer Familie und Leo ein besseres Verhältnis herzustellen.
»Und auch darum ist es gut, daß wir gehen,« fuhr Arthur fort. »Für mich war das Gefühl, stets über die Achsel angesehen zu werden, nicht gerade angenehm. Von Ella gar nicht zu reden! Und für die Mutter bedeutete es einen immerwährenden Kummer; das hört nun auf! – 16 Ich weiß übrigens einen, der sich mehr als wir alle über meine Versetzung freuen wird, das ist dein Herr Gemahl selbst.«
»Nein, Arthur!« rief Thekla, »du thust ihm unrecht.« Irgend eine Verdächtigung gegen ihres Mannes Gesinnung wollte sie nicht ertragen, auch von ihrem Bruder nicht. »Du bist nicht gerecht, keines von euch ist es gegen Leo. Ihr haltet ihn für egoistisch, ich weiß das! Aber er ist ganz anders, als ihr denkt!«
»Gut, gut, du stehst für deinen Mann ein! Das wird dir niemand verdenken. Ich habe meine eigene Ansicht, und die werde ich so leicht nicht ändern.«
»So sag's doch nur offen heraus, was du denkst!« rief Thekla erregt. »Ich kenne ja eure Ansicht, die Ansicht der ganzen Familie!«
»Aber Thekla, wie kannst du das nur so auffassen!« fiel hier die Mutter ein. »So hat es doch Arthur gar nicht gemeint!«
»Ich finde den Verdacht niedrig! Und ich fürchte, Leo hat etwas gemerkt von eurer Denkweise. Ist es denn ein Wunder, wenn er sich gegen euch abschließt, da er solcher Gesinnung begegnet?«
»Du übertreibst Thekla!« rief Frau Sänger. »Wir haben uns ja damals alle sehr gefreut, als Herr von Wernberg dich nahm. Er war ein Mann, der jedem Mädchen gefallen konnte! Aber daß du eine gute Partie bist, darüber kann doch auch kein Zweifel sein!« –
»Ich will davon ein für allemal nichts hören, Mama!« sagte Thekla und setzte sich gerade auf. »Du kannst dir einfach nicht vorstellen, wie mich so etwas demütigt!«
»Ich habe dich nicht kränken wollen, mein Kind!« erwiderte die Witwe. »Arthur, sage du mal, was wir eigentlich wollten.«
17 »Wir kommen mit einer Bitte, Thekla! Du hast es mir damals in großherziger Weise ermöglicht, zu heiraten. Dafür kann ich dir nicht dankbar genug sein. Natürlich ist es nach wie vor mein Streben, deine Unterstützung mit der Zeit einmal fortfallen zu sehen. Aber soweit ist es jetzt leider noch nicht! Vielleicht wird dein Mann denken, daß durch meine Beförderung sich unsere Verhältnisse wesentlich gebessert hätten. Dem ist nicht so. Mein Gehalt? – Du lieber Gott, wenn man drei Kinder hat! – Natürlich trägt ja die Mutter das Ihre mit zu unserer Wirtschaft bei; aber du weißt ja: es ist nicht viel, was sie noch besitzt.«
Thekla, längst unruhig geworden, unterbrach ihn: »Ich möchte wissen, Arthur, wozu du mir das erzählst?«
»Ich halte es für meine Pflicht, dir genau zu sagen, wie es mit uns steht, da ich dich bitten will, mir das, was du uns damals zugesagt hast, noch eine Weile fortzugewähren, bis ich in gesicherten Verhältnissen sein werde.«
»Es ist ganz selbstverständlich, Arthur, daß alles genau bleibt, wie es gewesen. Und ich begreife bloß nicht, warum darüber so viele Worte verloren werden müssen.«
»Doch, Thekla, darüber muß gesprochen werden! Du bist immer sehr generös gewesen. Aber vergiß nicht, daß du verheiratet bist. Ich vermute, nein, ich weiß es, daß Wernberg es mit anderen Augen ansieht.«
»Arthur, ich könnte dir wahrhaft böse sein!«
»Bitte, versetze dich mal in meine Lage, liebe Schwester! Das Bewußtsein, von jemandem abzuhängen, hat immer etwas Demütigendes. Du darfst mir das nicht falsch auslegen; dir gegenüber empfinde ich davon nichts. Aber der Gedanke, daß mein Schwager den Zuschuß vielleicht wie eine Art höheren Almosens auffaßt, ist mir schrecklich; das mußt du verstehen, Thekla!«
18 »Nun, darauf erwidere ich dir, Arthur, daß Leo einer Auffassung, wie du sie ihm unterschiebst, nicht fähig ist. Noch nie hat er eine Äußerung mir gegenüber fallen lassen, wonach er mißbilligte, was ich dir damals versprochen habe. Und ich weiß ganz genau, er wird sie auch in Zukunft nicht thun! Dazu ist er viel zu vornehm und viel zu zartfühlend vor allen Dingen!«
»Ich will dir nicht widersprechen, Thekla! Du mußt schließlich deinen Mann am besten kennen. Jedenfalls müssen wir dir dankbar sein für das, was du fortgesetzt an uns thust.«
Damit sah man diese Angelegenheit als erledigt an, und das Gespräch wandte sich anderen, erquicklicheren Dingen zu.