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Leos Mutter war von dem Begräbnisse her im Hause ihres Sohnes geblieben. Frau von Wernberg hatte nun die Siebzig erreicht. Es gab nur noch wenig Dinge auf der Welt, die sie wirklich interessierten; allen voran stand unter diesen das Wohlergehen ihres einzigen Sohnes.
Frau von Wernberg bewunderte ihren Sohn, trotzdem sie seine großen und kleinen Schwächen kannte, wie nur eine Frau einen Mann bewundert. Ihr mütterlicher Stolz war so groß, daß sie der Welt gegenüber niemals zugegeben hätte, daß Leo, daß eines ihrer Kinder überhaupt, Fehler besitze. In's Unrecht konnten sich diese Kinder nur ihr gegenüber setzen. Die Mutter allein hatte das Recht, über sie zu urteilen und sie zu rügen.
So stark war bei dieser Frau das Gefühl ausgebildet für ihre Art, daß sie die Gatten ihrer Töchter kaum zur Familie gehörig rechnete. Daß die Töchter heirateten, war ja unvermeidlich – sie selbst hatte diese Heiraten mehr oder weniger gemacht – aber sie betrachtete die Schwiegersöhne als notwendiges Übel. Es waren Menschen, die sich in ihren Augen zwischen sie und die Töchter stellten.
Auch zu der Gattin des Sohnes hatte sie anfangs ähnlich gestanden. Aber hier schien die Zeit manches 116 bessern zu wollen. Ein Sohn wird durch die Ehe niemals so entfremdet werden wie eine Tochter.
Und als nun gar ein Knabe geboren wurde, ein Stammhalter und Erbe des Namens, begann Frau von Wernberg, die Schwiegertochter mit anderen Augen anzusehen. Sie mußte es sich im stillen eingestehen: diese Verbindung begann zum Guten auszuschlagen. Allmählich räumte sie der jungen Frau von Wernberg einen Platz ein in ihrer Achtung, begann, sie als Leo ebenbürtig zu betrachten.
Die Excellenz war längere Zeit nicht im Hause ihres Sohnes zu Besuch gewesen. Es konnte ihr nicht entgehen, daß sich seitdem in dem Verhältnis von Leo und Thekla manches verändert habe.
Äußerlich schien ja nichts an dem Verhalten der Ehegatten auszusetzen. Leo war von ausgesuchter Höflichkeit gegen seine Frau. Niemals kam ein Streit vor. Man nahm sich wohl in Gegenwart der Mutter auch besonders in Acht.
Und doch war etwas nicht in Ordnung zwischen den beiden. Ganz anders hatte Frau von Wernberg die Gattin ihres Sohnes in Erinnerung. Der Frau mußte eine Enttäuschung widerfahren sein! –
Die Excellenz beobachtete und sann nach. Sie sah unter anderem, daß Fräulein von Ziegrist viel im Hause verkehre. Lilly war schlau genug, sich in Gegenwart von Leos Mutter zusammenzunehmen, spielte sich auf die Gesetzte. Und als sie merkte, daß die alte Dame sich für die Kirche interessiere, begann sie, mit Marie Kalkmeyer zu wetteifern in Gesprächen über Religiöses und innere Mission.
Aber der alten Dame streute man so leicht keinen Sand in die Augen. Es fiel ihr auf, daß sich Fräulein 117 von Ziegrist ihr gegenüber immer als Freundin Theklas bezeichnete, Thekla aber schien sich nicht viel aus ihr zu machen.
Ob Thekla etwa eifersüchtig war auf Lilly? –
Frau von Wernberg hatte in ihrem langen Leben manches durchgemacht und gesehen; sie wußte, daß auf dem Gebiete der Neigungen nichts unmöglich ist. Seit den Enthüllungen, die der Scheidungsprozeß ihrer Tochter Tessi zu Tage gefördert hatte, war ihr Mißtrauen noch gewachsen. In Liebesdingen traute sie keinem Manne über den Weg, selbst dem eigenen Sohne nicht. Sie wußte, Leo hatte keine moralischen Grundsätze. Welcher Mann hätte die gehabt? Und wenn er sie hatte, welcher Mann war stark genug, der Versuchung zu widerstehen, wenn ihm Gelegenheit gemacht wurde? –
Sie gehörte nicht zu denen, welche die Männer deshalb verdammen; sie rechnete einfach mit der Thatsache, daß der Mann von Natur zur Untreue neigt. Deshalb mußte man auf der Hut sein, vorbeugen, wenn nötig. Neuen Skandal in der Familie wollte sie um keinen Preis.
Leos Mutter liebte es im allgemeinen nicht, sich in die Angelegenheiten ihrer Kinder einzumischen, das schien ihr kleinbürgerlich ängstlich und geschmacklos. Aber hier ließ es sich nicht umgehen.
Eines Tages sagte sie daher zu ihrem Sohne: sie fände, daß Fräulein von Ziegrist öfter und vertrauter bei ihnen verkehre, als es sich schicke.
Leo erwiderte darauf: »Mama, laß mir doch den Spaß! Lilly amüsiert mich. Ich brauche sie zu meiner Unterhaltung, wie andere Leute in's Theater gehen, oder sich sonstwie Zerstreuung verschaffen. Es ist durchaus harmloser Natur. Wenn ich mich hätte in Lilly verlieben wollen, dann hätte ich vor zehn Jahren bessere Gelegenheit 118 gehabt. Und selbst, wenn ich wollte – Lilly ist viel zu klug und vorsichtig zu Dummheiten. Du brauchst wirklich keine Angst haben, Mama!«
»Hast du dich so in der Hand, Leo? – Und selbst wenn es völlig ungefährlich wäre, so bliebe immer noch der Schein! Es ist nicht gut gethan! Du stellst deine Frau auf eine zu harte Probe.«
»Thekla und Lilly sind alte Freundinnen. Sie kennen einander genau. Thekla ist nicht eifersüchtig und wird es nie werden, eben weil sie weiß, wie harmlos dieser kleine Flirt ist.«
»Eine Frau zeigt nicht immer, was sie empfindet.«
»Nein, nein! – Lillys wegen regt sich Thekla nicht auf. Willst du strenger sein, als meine Frau, Mama? Ich bitte dich, laß mir das! Lilly gehört nun mal zu meinen Lebensbedürfnissen. Ich muß jemanden haben, mit dem ich mich aussprechen kann. Lilly giebt mir oft guten Rat; sie hat viel Urteil. Der Umgang mit ihr ist, weiß Gott, das einzige Nette, was ich habe.«
»Leo, es klingt eigentümlich, einen Familienvater so sprechen zu hören!«
»Ach, Mamachen, ich weiß schon! – Thekla ist ja gut! Aber gewisse Seiten fehlen ihr nun mal! Kein Mensch ist ideal. Lilly hat Fehler, große Fehler! Aber sie hat eine Eigenschaft, die unbezahlbar ist: sie ist ohne jedes Vorurteil. Ich brauche das, wie gesagt, wie man manchmal das Bedürfnis hat, eine schwere Cigarre zu rauchen, oder ein Glas Wein von besonderem Aroma zu trinken. Nenne es Liebhaberei! Aber von Liebe, Mama, ist keine Spur! Ich glaube, wenn ich Lilly platonisch kommen wollte, sie würde sich totlachen.«
Die alte Dame schüttelte mißbilligend den Kopf. Ihr Ernst machte ihm Eindruck. Er war doch vielleicht zu 119 weit gegangen! Auf jeden Fall schien es geraten, der Mutter diese Einbildung auszureden.
Er nahm eine ernsthaftere Miene an, erkärte, daß er Thekla und Lilly nicht in einem Atemzuge nennen möchte. Die eine liebe er, die andere diene ihm im besten Falle zum Zeitvertreib. Aber wenn es der Mutter passender erscheine, wolle er sich in Zukunft mit Lilly mehr in Acht nehmen.
Die Excellenz war von der Unterredung mit ihrem Sohne nicht befriedigt. Selbst wenn Leo, wie er sagte, kein tieferes Interesse für Fräulein von Ziegrist empfand, wer stand einem denn für das Mädchen? –
Noch bedenklicher aber machte sie etwas anderes, was sie mit seinem Ohre aus Leos Verteidigung herausgehört hatte: eine nur schlecht verhehlte Gleichgiltigkeit gegen seine Frau.
Die Excellenz neigte nicht zur Empfindsamkeit. Auch über die Ehe dachte sie durchaus nüchtern und sachlich. Sie hatte selbst eine Vernunftheirat geschlossen mit einem älteren Manne. Sie wußte, daß eheliche Gemeinschaft ganz gut bestehen kann, auch wenn sich die Gatten nicht zugethan sind wie Turteltauben. Viel wichtiger war in ihren Augen: Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Familiensinn, die Gattentreue. Nach ihrer Auffassung war das Gelöbnis am Altare unbedingt bindend, unter keinen Umständen durfte es gelockert werden. Eheleute sollten in den widrigsten Umständen zusammenhalten; so war es göttlicher Wille und menschliches Gesetz.
Es genügte der alten Dame nicht, mit Leo allein gesprochen zu haben, auch die andere Seite wollte sie hören. Sie benutzte dazu eine Vormittagsstunde, wo der Hausherr abwesend war. Von dem Ministerwechsel begann sie, der die Gemüter immer noch stark beschäftigte. Sie 120 bedauerte ihren Sohn, der dadurch ungerechterweise zurückgesetzt worden sei.
Frau Thekla hatte hierzu nicht viel zu sagen. Sie konnte nicht finden, daß Leo zu beklagen sei. Sie hatte noch nicht erlebt, daß er jemals zu kurz gekommen wäre. Auf irgend eine Art würde er schon auch mit diesem Minister fertig werden; dessen war sie sicher.
Die Excellenz hörte auch hier wieder den kühlen Ton heraus, der ihr nicht gefiel zwischen den beiden. Sie fand, daß Thekla ihren Sohn nicht zur Genüge würdige. Sie sei lange nicht stolz, lange nicht geehrt genug, die Gattin eines solchen Mannes zu sein.
Thekla widersprach ihr nicht. Es war zu begreifen, daß die Mutter so empfand. Sie konnte ja stolz sein auf ihren Sohn; bedeutend war er, überlegen, klug, weltgewandt, mit einem Worte glänzend! Gern erkannte Thekla das alles an. Aber was war er für sie? – Was hatte sie davon, daß er für tonangebend galt bei Hof, daß man ihm große Carrière weissagte? Hatte sie geheiratet, um sich mit ihrem Manne brüsten zu können?
Er besaß seine Welt für sich mit Interessen, die ihn ganz in Anspruch nahmen. Darin lebte er, darin war er zufrieden. Daß sie auch eine Welt war, sie ganz allein, das sah er garnicht. Sie kam für ihn nur in Betracht als eine Person, mit der man sich öffentlich zeigte, die bei seinen Diners repräsentierte, die allenfalls ein wenig Hausfrau, ein wenig Mutter sein durfte. Und wenn er das Bedürfnis danach hatte, war sie ihm gelegentlich auch Geliebte.
Aber alles das, soviel es auch scheinen mochte, war doch nicht sie. Jede andere hätte ihm das vielleicht besser sein können. Das umschloß doch nicht ihre, Theklas, ganze Persönlichkeit! Es waren Teile von ihr, aber nicht ihr 121 innerstes Wesen. Nein, ihr Bestes, ihre Seele, kannte er nicht, wollte er nicht kennen.
Er hatte es ja auch nicht nötig! Wer konnte ihn dazu zwingen? Es gehörte ja nicht zu den Pflichten eines korrekten Ehemannes! Seelische Intimität zwischen verheirateten Leuten wäre ihm entschieden lächerlich vorgekommen. Das waren zu weitgehende Forderungen. Man konnte auch ohnedem eine äußerlich ganz tadellose Ehe führen.
So bittere Gedanken sprach Thekla nicht aus. Schwerlich würde ihre Schwiegermutter sie verstanden haben! Denn sie war die Mutter ihres Sohnes; seine Eigenschaften waren die ihren, in's Männliche übertragen. Die zwei verstanden einander, wie sich nur zwei Menschen verstehen, die aus demselben Stoffe geformt sind. Ihre Liebe war noch etwas mehr als Kindes- und Mutterliebe; war unbewußte Bespiegelung eines Wesens im anderen.
Es konnte nicht von Frau von Wernberg erwartet werden, daß sie jemals Partei nehmen werde gegen Leo. Er war in jeder Frage von vornherein für sie im Recht. Sie würde mit voller Überzeugung gegen jedermann für ihn eingetreten sein; er war ja ein Teil, eine Fortsetzung und Übersetzung von ihr. Gegen ihn gehalten war sie, Thekla, eine Fremde für die Mutter.
»Du machst vor allem einen großen Fehler, mein liebes Kind!« fuhr die Excellenz in ihren Ermahnungen fort, »du versuchst es nicht, ihm wirklich etwas zu sein. Eine Frau sollte ihrem Manne überallhin, auf jedes Gebiet, folgen können! Ich meine damit nicht, daß man sich aufdrängen soll. Unangenehm empfinden darf er's nicht, kaum merken, daß wir stets um ihn sind. In der Gesellschaft, bei seinen Vergnügungen, wie bei seiner Arbeit, daheim und im öffentlichen Leben, überall muß er 122 uns wiederfinden. Wenn unsere Gaben und Kenntnisse dazu nicht ausreichen, müssen wir sie uns anerziehen. Ich habe mich von Natur auch nicht für Staatsgeschäfte interessirt, aber da ich sah, daß sie meines Mannes Lebenselement waren, bin ich ihm auf seinen Wegen gefolgt. Es gab schließlich nichts, auch auf dem Gebiete des öffentlichen Lebens nicht, das er mit mir nicht durchgesprochen hätte. Und so soll es sein! Die Interessen und Passionen der Männer liegen nun mal auf anderen Gebieten als die unseren; das ist nicht zu ändern! Jeder Mann ist ehrgeizig, damit müssen wir rechnen! Ja, wir sollen seinen Ehrgeiz teilen. Wenn man seinen Mann liebt, muß man doch auch wünschen, daß er vorwärts kommt! Auch du mußt dir Verständnis für Leos Streben aneignen, Thekla! Ich glaube, es ist noch nicht zu spät dazu. Wenn du es nicht verstehst, deinen Mann in einer neuen Weise an dich zu fesseln, eure Interessen dauernd zu verflechten, dann sehe ich Gefahr für euch. Sieh dich vor, mein Kind! Die Neigung eines Mannes ist leichter verscherzt, als wiedergewonnen. Sie sind nun mal so konstruiert, daß sie sich dahin wenden, wo man ihnen entgegenkommt. Eine kluge Gattin benutzt das. Durch Sprödigkeit hat sich schon manch eine um ihr Glück gebracht. Sowie in einer Ehe erst die Gleichgiltigkeit Einzug hält, kommt unfehlbar auch der Überdruß. Die Erziehung schützt dann vor nichts. Ich habe das bei Tessi durchgemacht und möchte es nicht noch einmal erleben!«
* * *
123 Theklas Mutter hatte geschrieben, ob die Tochter nicht auf einige Zeit zu ihnen kommen wolle; Arthur und Ella schlössen sich ihrer Bitte an. Sie alle hätten bei dem Begräbnis übereinstimmend gefunden, daß Thekla keinen guten Eindruck mache, und daß für ihre Kräftigung etwas Ernstliches geschehen müsse. Sie solle sich mal von alledem losmachen und in größter Stille eine Zeit lang bei ihnen leben.
Für Thekla hatte der Vorschlag viel Verlockendes. Sie empfand es oftmals schmerzlich, wie fremd sie den Ihren durch die räumliche Trennung geworden war. Recht froh würde sie ja dort auch nicht werden, aber trüber als zu Haus konnte es nicht sein. Leo bedurfte ihrer nicht und der Junge nicht unbedingt. In seiner Frische und Lebhaftigkeit wurde ihr Gerd jetzt häufig zu viel. Er wuchs und gedieh; das war gut! Aber der Anblick seiner drallen, von Gesundheit und Leben strotzenden Gestalt machte ihr Herz zusammenzucken im Schmerze der Erinnerung an das, was sie verloren hatte.
Sie glaubte bestimmt, mit dieser Idee bei ihrem Manne und seiner Mutter auf Widerstand zu stoßen; aber wider Erwarten billigten die beiden den Plan. Die Excellenz fand, daß die Schwiegertochter etwas thun müsse für ihre zerrütteten Nerven. Leo war auch für den »Luftwechsel«; vielleicht würde sie dann die düstere Stimmung los, in der sie sich jetzt befinde.
Kurz, man hatte mehr Gründe für ihre Reise, als sie selbst. Frau Thekla lächelte bitter; wie entbehrlich sie doch schien!
Es wurde verabredet, daß die Excellenz, die jetzt nichts anderes vorhatte, bei Leo bleiben solle, um die beurlaubte Hausfrau zu ersetzen.
Mutter und Sohn brachten Thekla auf den Bahnhof.
124 Gegen ihren Willen flossen Thekla die Thränen. Vom Coupéfenster aus schickte sie noch Grüße und Küsse an Gerd.
»Du hast eine gute, eine sehr gute Frau, Leo!« sagte die Excellenz zu ihrem Sohne, als sie den Bahnhof verlassen hatten.
»Ach ja, Mutter, das weiß ich! Vielleicht wäre etwas weniger gut, besser!«
»Wie soll man das verstehen, Leo?«
»Ich weiß nicht wie es kommt; ich glaube es ist ihre Empfindsamkeit, die mich reizt. Sie hat ganz wunderliche Anschauungen und Auffassungen von gewissen Dingen. Verschrobenheit könnte man es beinahe nennen. Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, ihr das abzugewöhnen; aber sie hat eine Art von sanfter Opposition, der man nicht beikommen kann.«
Wie die Worte, die er sprach, denen glichen, welche die Mutter einstmals, als er sie über den Eindruck befragt, den ihr seine Braut mache, an ihn gerichtet hatte! Er war sich dessen nicht bewußt, wohl aber Frau von Wernberg. Sie hatte richtig prophezeit damals! Sich dessen jetzt zu rühmen, schien ihr unangebracht; viel wichtiger war es ihr, zwischen diesen beiden den gefährdeten Frieden wieder herzustellen.
»Fehler haben wir schließlich alle, Leo!« sagte sie bedachtsam. »Theklas Schwächen gehören nicht zu den unerträglichen. Du darfst nicht übertriebene Anforderungen stellen. In der Ehe ist das erste Gesetz: sich in einander schicken, sich bescheiden mit dem, was man hat. Thekla ist die Frau deiner Wahl, vergiß das nicht!«
Leo seufzte. »Jawohl!« sagte er nach einer Weile, »sich bescheiden! Eine bittere Sache! – Aber du hast recht: Mama: Thekla ist die Frau meiner Wahl!«
125 Es war das erste Mal, daß Frau Thekla die Ihren im neuen Heim aufsuchte. Das Gefühl des Befremdens blieb ihr nicht erspart, das einen beschleicht, wenn man Menschen, die man Zeit ihres Lebens in einer bestimmten Umgebung zu sehen gewohnt war, auf einmal an einem anderen Schauplatze unter veränderten Bedingungen wiederfindet.
Von Arthurs vieren war nur noch das zweite Kind am Leben, ein Mädchen. Die kleine Gertrud stellte mit ihrem dunkelbraunen Haar, dem milchzarten Teint und den großen blauen versonnenen Augen eine Mischung dar der elterlichen Typen. Ella war schnell gealtert, von ihrer ehemaligen Schönheit sprachen eigentlich nur noch die Augen. Sie verzog das einzige Kind, das ihr geblieben war, geradezu mit Bewußtsein. Arthur hatte sich äußerlich nur wenig verändert. Er ging ganz in der Familie auf, war ein rührender Vater, Sohn und Gatte. Es zu großen Ehren zu bringen in seinem Berufe, schien er auch jetzt keinen Drang zu empfinden.
Am meisten Freude noch konnte Thekla über die Wandlung empfinden, die mit ihrer Mutter vor sich gegangen war. Die Veränderung des Schauplatzes war ihr gut bekommen, und die Rolle der Großmutter stand ihr gut. Wenn man bedachte, was diese Frau alles durchgemacht hatte: zwei Männer begraben, mehr als ein Enkelkind verloren. Innerlich blieb sie gänzlich unberührt von diesen Ereignissen. Die Witwe erschien am Ende der Fünfzig genau das, was sie als Mädchen auch schon gewesen war: weltunerfahren, leicht beeinflußbar, harmlos und sehr gutmütig. Aber jetzt, wo sie keine schwereren Pflichten mehr hatte als die der Großmutter, sich von den Enkelkindern ein wenig quälen zu lassen, war sie weit mehr an ihrem Platze, als zu den Zeiten, wo die 126 Erziehung ihrer eigenen Kinder ernste Anforderungen an sie stellte.
Agnes hatte lauter Jungens, vier an der Zahl, übermütiges, ausgelassenes Korps. Für die kleine Gertrud wuchsen in den Seeheimischen Vettern ziemlich stürmische Courmacher heran. Die Art, wie sich Agnes ihr Leben eingerichtet hatte, gab Frau Thekla immer wieder Anlaß zum Staunen. Agnes leitete den Hausstand, führte die Kasse, machte die wichtigsten Besorgungen, versorgte die Jungens, von denen zwei schon zur Schule gingen. Seeheim war den größten Theil des Tages durch den Dienst beschäftigt. Wenn er nach Hause kam, verlangte er, ein nettes, bequemes Heim vorzufinden. Ueberdies setzte er aber seine Ehre darein, soviel Haus zu machen, als sich irgend ermöglichen ließ. Die Jungens mußten auch immer gut angezogen sein, wie es sich für Offizierssöhne schicke; kurz es sollte mit knappen Mitteln viel geleistet werden.
Frau Thekla bewunderte es im höchsten Grade, wie ihre kleine Schwester – Agnes blieb nun mal die kleine für sie – so vielseitigen Anforderungen nachzukommen verstand. Frau von Seeheim war keinen Augenblick unbeschäftigt; bald rief sie ihre Pflicht in die Küche, gleich darauf mußte sie die Rechenhefte der Schüler durchsehen, dann wieder galt es, dem Burschen den Kopf zurecht zu setzen, oder mit dem Kinderfräulein einen Strauß auszufechten. Zwischendurch empfing man womöglich Besuch; und die Frau, die eben noch die Küchenschürze umgehabt hatte, mußte auf einmal die Weltdame spielen. Mit ihren vier Jungens pflegte sie sehr ausgelassen zu sein, war ihnen ein Spielkamerad; wenn nötig, wußte sie aber auch die Reitpeitsche gegen die Widerspenstigen zu gebrauchen. Auch die Interessen ihres Mannes teilte sie, kannte die halbe Rangliste auswendig, verfolgte mit Eifer 127 das Avancement, und leistete Großes im Regiments- und Garnison-Klatsch.
Agnes ging im Augenblicke auf, hielt sich an das Nächstliegende, strebte nie nach dem Unmöglichen. Sie hatte das schon als kleines Kind gehabt. Überall war sie auf ihre Rechnung gekommen. Gemüt, Phantasie, Feingefühl machten ihr keine Schwierigkeiten. Sie nahm Dinge und Menschen, wie sie waren. Wo es nötig war, fügte sie sich, paßte sich an, setzte dabei aber doch ihren Willen schließlich durch.
War das nicht eigentlich das Richtige? – Man sah doch: Agnes hatte Erfolg! Ihr Hauswesen war gut im stande, die Kinder gediehen, und ihr Mann war zufriedengestellt, bis auf kleine Zwistigkeiten hin und wieder, die Agnes auf die leichte Schulter nahm. Man konnte sie eine glückliche Frau nennen.
Frau Thekla gönnte ihr das Glück. Sie verglich sich mit Agnes im Geiste. Die Bedingungen lagen schließlich für sie nicht ungünstiger als für Agnes! Warum verstand man es nicht besser, sich mit dem Leben einzurichten? Lag es nicht an ihr selbst? Fehlte ihr die Begabung zum Glücklich-Sein?
Sie sann angestrengt darüber nach. Stellte sie etwa zu hohe Anforderungen, an die Verhältnisse, an die Menschen, an das Glück? Agnes nahm eben vorlieb, war darum stets zufrieden und stellte ihre Umgebung zufrieden. Die Menschen waren nun mal nicht ideal, und man selbst war es doch auch nicht! Welches Recht hatte man also, soviel zu fordern? –
Solchen Grübeleien zum Trotze besserte sich ihr Befinden von Tag zu Tage. Die Ihren sagten ihr, daß sie anfange, ihr altes Gesicht wiederzubekommen. Sie begann Teilnahme zu empfinden für alles um sie her. Fast 128 erschien es ihr unrecht, daß sie schon wieder heiter sein konnte.
Warum denn nicht? Sie war doch nicht die Einzige, die Kummer erlebt hatte! Da war ihre Mutter, da war Ella! Was hatten diese Frauen verloren, und sie lebten doch auch, freuten sich dessen, was ihnen das Schicksal gelassen hatte. Warum sollte sie allein matt und kraftlos dahinleben und ihr Geschick beseufzen!
Von zu Haus erhielt sie regelmäßige Berichte. Zwar Leo schrieb ihr nicht oft und meist nur kurz – er verschanzte sich hinter den Amtsgeschäften – und die Exzellenz war auch keine eifrige Korrespondentin. Aber da war jetzt ein Fräulein, welches Leo angenommen hatte, um den Jungen zu beschäftigen und ihn allmählich an den Zwang der Schule zu gewöhnen. Diese Dame berichtete der Mutter in wohlgesetzten Briefen über die Fortschritte, die Gerd angeblich machte. Solchen Briefen lagen dann häufig rührende Zettel bei: Bildchen, die Gerd gezeichnet hatte, allerlei Geflochtenes und Gepapptes, Hieroglyphen, zu denen man ihm offenbar die Hand geführt; oder er schickte Küsse in Gestalt von kleinen Ringen auf dem Papier.
Es kam Frau Thekla so wunderlich vor, daß er alle diese Fortschritte machte in ihrer Abwesenheit. Ein ganz anderer großer Junge würde er werden, garnicht mehr ihr kleiner dummer Gerd sein!
Manchmal erschien es ihr geradezu widersinnig, daß sie hier saß, fern von ihrem Hause, fern von Mann und Kind. Etwas davon mochte sich wohl auch in ihre Briefe eingeschlichen haben, die sie nach Hause schickte; denn ihre Schwiegermutter schrieb ihr, sie solle vernünftig sein. Vor allem müsse sie sich ganz erholt haben, ehe sie ans Zurückkehren denken könne.
129 Jawohl vernünftig sein! Sie hatten ganz recht zu Haus: es gehörte Gesundheit dazu, Kraft und Nerven vor allem, um den »Pflichten als Gattin und Mutter« zu genügen. Sie war ja auch voll der besten Vorsätze.
Eines Tages hatte sie eine Rücksprache mit ihrem Bruder. Arthur erklärte ihr: er sei nunmehr soweit, daß er den Zuschuß, den er bis jetzt immer noch von der Schwester bezogen hatte, nicht mehr brauche. Mit trübem Lächeln fügte er die Erklärung sofort hinzu: sein Einkommen habe sich vermehrt, seine Familie aber vermindert. Mit der Zeit hoffe er, alles, was er durch ihre Güte erhalten habe, bei Heller und Pfennig zurückzuzahlen.
Mit der wachsenden Kräftigung empfand Frau Thekla mehr und mehr das Bedürfnis nach Beschäftigung. Sie hätte gern Ella und Agnes unterstützt in ihrer häuslichen Thätigkeit, aber man ließ sie nicht dazu heran. Auch hier wieder bekam sie zu hören, sie müsse sich pflegen.
Ganz gern hätte Thekla die Ruhepause dazu benutzt, um ihre Stimme mal wieder etwas zu üben, aber in beiden Häusern, bei Arthur sowohl wie bei Seeheims, gab es nur ganz ungenügende Instrumente, und niemand hatte Zeit und Lust, sie zu begleiten.
Schließlich begann sie, um die Muße doch nicht gänzlich ungenutzt verstreichen zu lassen, zu lesen: Zeitungen, Bücher, was ihr gerade in die Hände fiel. Auch mit Litteratur waren die Häuser der Ihren schlecht versehen; sein Lese- und Bildungsbedürfnis befriedigte man mit Hilfe des Journallesezirkels.
In der veralteten Nummer eines illustrierten Familienblattes stieß Frau Thekla unter der Rubrik »Bücherschau« auf einen Namen, der ihren Blick fesselte: Elsbeth Broitsch. So hatte eine ihrer Klassenkameradinnen aus Fräulein Zuckmanns Schule geheißen. Sie war hier als Verfasserin 130 eines Buches genannt, das den Titel führte: »Frauenrecht und Mannesgewalt«. Es wurde als eine aufsehenerregende Arbeit der »bekannten Frauenrechtlerin« angepriesen.
Also Elsbeth Broitsch schrieb Bücher und war eine bekannte Frauenrechtlerin. Frau Thekla sah die Schulkameradin vor sich: klein, rothaarig, das unschöne Gesicht voll Sommersprossen, stets schlecht angezogen, wie sie mit Leidenschaft ihre Nägel kaute. Sie war der Sündenbock der Klasse gewesen. Weder die Mitschülerinnen, noch die Lehrerinnen und die Lehrer hatten viel von ihr wissen wollen. Sie war begabt, aber unberechenbar, unordentlich und gelegentlich respektlos gewesen, ein schwer zu rubrizierendes, unbequemes Mädchen.
Für Thekla Lüdekind hatte Elsbeth Broitsch eine Liebe gehabt, die an Vergötterung grenzte. Nachträglich rührte es Frau Thekla, zu denken, wie dieses Wesen an ihr gehangen hatte, wie sie ihr nachgeschlichen war einem Hündchen gleich, um Gegenliebe bettelnd. In der Erinnerung kam sie sich grausam und hartherzig vor, konnte sich selbst nicht verstehen, daß sie so treue Neigung fortgesetzt hatte abweisen können.
Und diese Elsbeth Broitsch schrieb also! – Frau Thekla wollte doch mal sehen, was daran sei, obgleich sie der Titel: »Frauenrecht und Mannesgewalt« nicht gerade anzog.
Sie schaffte sich das Buch an. Es war eine Broschüre, zusammengestellt aus Vorträgen, welche die Verfasserin an verschiedenen Orten, vor Vereinen und Kongressen, gehalten hatte.
Das Buch fesselte Frau Thekla von der ersten Zeile an. Ganz anders war es als alles, was sie bisher gelesen hatte. Es erschütterte und empörte sie gleicherzeit in seinem unerhörten Freimut. Mit atemloser Spannung las sie es auf einem Niedersitz durch, von Anfang bis zu Ende.
131 Es war in dieser Schrift eine Übersicht gegeben der rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage der Frauen aller Stände und Klassen. Überall, so behauptete die Verfasserin, werde das Weib bevormundet und übervorteilt vom Manne. Sie wies das an Beispielen nach, belegte ihre Behauptungen mit statistischem Material. Überhaupt trat sie auf, schwergerüstet mit naturwissenschaftlichen, historischen und nationalökonomischen Kenntnissen; Namen von Gelehrten, von Erscheinungen, ja von ganzen Wissensgebieten klangen an Theklas Ohr, die sie noch nie zuvor gehört hatte. Und mit diesen Dingen sprang ein Mädchen um, das in der Klasse tief unter ihr gesessen hatte, Elsbeth spielte mit den schwierigsten Hypothesen und Begriffen, wie mit Federbällen.
Vieles in dem Buche forderte Theklas Widerspruch heraus, besonders als sie es ein zweites Mal las. Das Wissenschaftliche daran vermochte sie ja nicht zu kontrolieren, aber der gesunde Instinkt lehrte sie, einzelne der abgeleiteten Sätze als Übertreibungen zu durchschauen. Elsbeth Broitsch war gelehrt, das sah man; aber wie mochte es um ihre Lebenserfahrung stehen? Sie schien unverheiratet. Gewisse gänzlich schiefe Urteile über das Verhältnis der Geschlechter konnte nur ein Mädchen aufgestellt haben. Eine Unduldsamkeit und Einseitigkeit sprach aus der Wertung des Mannes, deren eine Gattin und Mutter nicht fähig gewesen wäre. Auch vom Parteifanatismus hielt sich die Schrift nicht frei. Die Frau der niederen Stände wurde idealisiert, während die »Bourgeoisfrau« geradezu karrikiert erschien in der »Versumpfung ihres Haremsdaseins«.
Aber trotz aller Übertreibungen und Irrtümer hatte das Buch doch einen großen Reiz für Thekla. Das eifrige Suchen nach Wahrheit, ein großer Glaube an die Sache, und ein heißes Bedürfnis nach Glück sprachen daraus, 132 machten es sympathisch, ja rührend. Soweit Frau Thekla auch sonst von der Verfasserin entfernt sein mochte in Entwickelung und Anschauung, sie durfte in ihr doch eine Schwester begrüßen. Ja, in dem, was hier gewollt und gefordert wurde, lag etwas, das ihrem geheimsten Empfinden und Hoffen verwandt war. Sie, Thekla, wäre freilich niemals im stande gewesen, das so zum Ausdruck zu bringen, wie Elsbeth es gethan; selbst, wenn sie es gekonnt hätte, würde sie es haben bleiben lassen. War es nicht traurig, so die Leiden der Frauenwelt an's Tageslicht gezerrt zu sehen? War es erlaubt, Dinge, Vorgänge, Gefühle, die man sich kaum selbst zu gestehen wagte, zu sezieren und vor aller Welt Augen zu entblößen?
Es waren in der Schrift eine Anzahl Bücher angezogen verwandten Inhalts. Eine ganze Fachlitteratur schien es da zu geben. Aber Frau Thekla verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sie kennen zu lernen. Dieser eine Wink genügte ihr. Das was sie hier gelesen hatte, konnte sie ja nicht wieder vergessen. Wie Vieles hätte sie dieser Elsbeth Broitsch sagen können aus ihrer eigenen Erfahrung. Elsbeth hatte ja recht in ihren Anklagen gegen den Mann, seinen Egoismus, seine Gewissenlosigkeit, seine Brutalität; tausendmal recht auch in ihren Klagen über die Frau, ihre Gedankenlosigkeit, Kleinmut und Indolenz, recht schließlich auch in dem düsteren Bilde, das sie von dem Verhältnisse der Geschlechter entwarf.
Nur eines hatte diese strengere Richterin über der herben Kritik ganz übersehen: die angeborene, unausrottbare Güte der Weibesnatur, welche die Fehler des Mannes, und wären sie blutrot, in schneeweiß verwandelt.
Sollte sie sich hinsetzen und darüber an Elsbeth schreiben? Nein! Es würde nichts genutzt haben. Man mußte selbst zu der Wahrheit aufsteigen, daß im 133 Verzeihen der Schwache zum Starken wird, Frauenrecht Mannesgewalt besiegt. Solche Erkenntnis aber war nur durch Leid zu gewinnen.