Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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X.

Gabriels Zustand hatte sich verschlechtert. Frau Thekla bekam eines Morgens ein paar Zeilen von ihm 260 durch die Quartierwirtin überbracht, worin er ihr mitteilte: er fühle sich zu schwach, um sich zu erheben, ob es nicht möglich sei, daß sie ihn aufsuche.

Thekla war eben damit beschäftigt, an die Seinen zu schreiben. Nachdem Gabriel ihr gestanden hatte, was der eigentliche Anlaß seiner Reise nach Selzbad gewesen, hielt sie es für ihre Pflicht, seiner Mutter und Ella Mitteilung davon zu machen, wo er sich aufhalte. Die Verantwortung, allein um sein Geheimnis zu wissen, schien ihr unerträglich.

Diese Briefe waren nicht leicht zu schreiben. Wie sollte sie es den Seinen begreiflich machen, welche Rolle sie selbst dem Kranken gegenüber spiele. Sollte sie erklären, daß es sein eigener von ihr gänzlich unbeeinflußter Entschluß gewesen sei, nach Selzbad zu kommen; und wenn sie das erklärte, sah es nicht aus, als wolle sie sich reinwaschen? –

Der Brief an Frau Bartusch lag fertig vor ihr, an dem für Ella bestimmten schrieb sie noch, da kam der von Gabriel gesandte, mit Bleistift geschriebene Zettel.

Thekla schwankte; sollte sie auch das noch für ihn thun? – Durch die Briefe, die sie eben geschrieben, war es ihr recht zum Bewußtsein gebracht worden, wie leicht mißzuverstehn ihre Lage Gabriel gegenüber sei. Vorsichtiger und weiser war es auf alle Fälle, wenn sie seine Bitte ablehnte. Sie brauchte ja nur einfach zu behaupten, daß sie aus irgend welchen Gründen gezwungen sei, nach Haus zu reisen; dann ging sie der ganzen Schwierigkeit aus dem Wege.

Aber dann sah sie wieder Gabriels vergrämtes Gesicht im Geiste vor sich, seinen flehenden Blick, hörte seine rührende Bitte, daß sie ihn nicht allein lassen möge. Was war solchem Elende gegenüber der äußere Schein? Sollte sie einen Freund verkommen lassen aus Angst vor thörichtem 261 Klatsch? Lag hier nicht wirkliche Not vor, Not des Leibes und noch tiefere der Seele? – Dieser Mann brauchte sie, wie nie zuvor ein Mensch ihrer bedurft hatte. An dieses Krankenlager rief sie die Pflicht, eine höhere Pflicht, als die, ängstlich um ihren Ruf besorgt zu sein.

Sie kleidete sich also zum Ausgehen an, besorgte unterwegs ihre Briefe und begab sich nach Gabriels Wohnung.

Sie fand den Zustand des Kranken schlimmer noch, als sie nach seinen Zeilen hatte erwarten können. Er war geschwächt durch den fürchterlichsten Husten. Was er in den letzten vierundzwanzig Stunden ausgestanden haben mochte, konnte sie nur ahnen.

Dazu war er schlecht versorgt. In dem Hause wohnten noch andere Kurgäste, die Wände waren dünn, schon hatte sich eine Partei beklagt über den »widerwärtigen Husten« des Kranken. Die Quartierwirtin wäre den einzelnen Herrn gern los gewesen, da sie fürchtete, er könne ihr die anderen Gäste vertreiben. Das Zimmer, in welchem er lag, war klein und jeder Bequemlichkeit bar. Mit dem schnellen Blicke der Frauen für derlei Dinge erkannte Thekla, daß der Staub hier seit Tagen nicht gewischt und daß die Bettwäsche alt sei.

Sie sorgte zunächst dafür, daß Ordnung und Sauberkeit hergestellt werde. Die Wirtin hatte ihren Gast bisher nicht besonders hoch eingeschätzt, weil er wenig Gepäck mitgebracht und gänzlich ohne Anhang war. Jetzt, wo sie sah, daß eine vornehme Dame sich um ihn kümmerte, stieg er bedeutend in ihrer Achtung. Es fand sich, daß sie noch ein besseres Zimmer frei habe, wo die Gefahr, daß der Patient durch seinen Husten anderen lästig falle, nicht bestand.

Frau Thekla beaufsichtigte selbst die Aufstellung eines 262 bequemen Bettes, überließ aber anderen den Transport des Kranken in sein neues Asyl, da sie glaubte, daß ihm ihre Anwesenheit hierbei peinlich sein werde. Dann ging sie zu demselben Arzt, den sie bereits für Hedwig konsultiert hatte; holte ihn an das Lager des Freundes.

Der Doktor war ein richtiger Badearzt; die längste Zeit seines Lebens hatte er in Selzbad zugebracht, war nur eingerichtet auf die Leiden, für welche seine Quellen angeblich Heilung brachten. Alle anderen Krankheiten war er geneigt, für unerlaubt anzusehen. Seine Entrüstung war daher groß, einen Patienten vorzufinden, der von rechts wegen gar nicht hierher gehörte. Ein Kehlkopfschwindsüchtiger im Selzbad! Der Doktor schüttelte ungehalten den Kopf. Womöglich starb der Mensch hier, und verdorben war dann das Renommee des ganzen Bades! Er schrieb etwas auf zur Linderung des Hustenreizes und sagte zu Thekla: leider sei der Herr nicht transportfähig, sonst würde er ihn unbedingt haben fortschaffen lassen.

Thekla war nun doppelt froh, an seine Mutter geschrieben zu haben. Aus dem, was der Arzt hatte durchblicken lassen, kam sie zu der traurigen Einsicht, daß es hier zu Ende gehe. Gabriels Verhalten konnte sie nur in dieser Befürchtung bestärken. Der Kranke lag, nach Atem ringend, mit unnatürlich gerötetem Gesicht in seinen Kissen; mit verkrampften Fingern zog er die Bettdecke an sich. Er sprach wenig. Eigentlich wiederholte er nur immer die Bitte, daß Thekla nicht von ihm gehe.

Frau Thekla entschloß sich, die Nacht bei ihm zuzubringen. Ihm diesen Wunsch abzuschlagen, fühlte sie sich nicht fähig.

Sie sprach mit der Wirtin, die ihr Bettschirm, Nachtlampe und Armstuhl zu verschaffen versprach. Nun wollte sie nur noch in ihre Wohnung gehen, um Hedwig 263 mitzuteilen, was sie vorhabe und sich mit bequemen Kleidern für die Nachtwache zu versehen.

Beim Fortgehen versicherte sie dem Kranken, spätestens in einer Stunde werde sie wieder bei ihm sein.

* * *

Inzwischen hatte Leo Wernberg seinen Plan, nach dem Selzbad zu reisen, ausgeführt. Die Wohnung war schnell ausfindig gemacht; er traf jedoch nur Hedwig zu Haus an.

Die Jungfer erschrak nicht wenig, als sie den Herrn so plötzlich auftauchen sah. Er fragte das Mädchen in kurz angebundener Weise aus, wo die gnädige Frau sei. Hedwig wußte ganz gut, zu wem ihre Herrin gegangen sei, aber verdutzt durch das schroffe Auftreten Wernbergs wagte sie nicht, es zu sagen. Sie hielt es, wie Dienstboten, wenn sie ratlos sind, gern thun, für das Beste, zu lügen, behauptete: die gnädige Frau sei vor kurzem ausgegangen, um noch einen kleinen Spaziergang zu machen.

Wernberg sah dem Gesichte des Mädchens die Verwirrung an, er beschloß, hier zu bleiben und zu warten, denn irgendwann mußte seine Frau ja doch wieder nach Haus zurückkehren, um so mehr, als die Dunkelheit nicht mehr allzu fern war.

Er setzte sich in den bequemsten Stuhl, den er in dem Quartiere auftreiben konnte und zündete sich eine Cigarre an.

So verging eine Stunde. Ob die gnädige Frau oft so spät des Abends auszugehen pflege, fragte er Hedwig, die ihm die Lampe brachte. Hedwig antwortete verlegen: die gnädige Frau müsse jeden Augenblick zurückkommen. 264 Sie hatte inzwischen einige Worte auf einen Zettel geschrieben und durch einen Boten an ihre Herrin geschickt.

Wernberg setzte eben die zweite Cigarre in Brand, als Thekla endlich kam. Er erhob sich nicht, sie zu begrüßen, blieb in seinem Stuhle sitzen und blickte sie forschend an.

»Du machst deine Spaziergänge zu einer merkwürdigen Tageszeit!« sagte er mit deutlichem Hohn. »Ist das Selzbader Mode?«

»Ich war nicht zum Spazierengehen aus!« sagte sie scheinbar ruhig.

»Deine Duenna behauptet das!«

»Hedwig hat dich belogen, ganz unnötigerweise. Was ich vorhatte, brauchte das Tageslicht nicht zu scheuen. Ich war bei einem Kranken.«

»Bei einem Kranken? Sieh mal an! Darf man den Namen wissen? Eine Badebekanntschaft vielleicht?«

»Nein, ein alter Freund; ich könnte sagen: mein ältester Freund. Es ist Gabriel Bartusch!«

»Hm – nun möchte ich bloß wissen, bist du nicht völlig klar bei Verstand, oder bist du so schamlos geworden, kurz hat sich in deinem Kopfe etwas verschoben?«

»Er ist schwer krank, hat keinen Menschen hier.«

»Diese Krankheit des Herrn scheint mir zu der Kategorie von Finten zu gehören, wie sie mir vorhin Hedwig vormachen wollte. Vorläufig glaube ich dir kein Wort.«

Thekla zuckte die Achseln. »Wenn du mich mit meiner Jungfer auf eine Stufe stellst, dann ist es wohl unnütz, weiter zu reden.«

Nach einer Pause fragte Leo: »Seit wann ist er hier?«

»Fünf, sechs Wochen kann es sein.«

»Hast du ihn oft gesehen?«

265 »Täglich!«

Er fuhr halb aus seinem Stuhle auf, starrte sie verdutzt an. Es lag so etwas kalt Entschlossenes in ihrem Wesen! Sie erschien ihm geradezu unheimlich. Ganz, ganz anders hatte er sich diese Begegnung im Geiste ausgemalt; einen Triumph hatte er zu feiern gedacht.

»Du wunderst dich, daß ich dir davon nichts geschrieben habe,« fuhr Thekla fort. »Vielleicht hätte ich es thun sollen. Jedenfalls wäre es klüger gewesen! So sieht es fast aus, als hätte ich dir etwas Unrechtes zu verbergen. Aber schließlich bist du selbst daran schuld, wenn ich dir das nicht schreiben wollte.«

»Ich?« –

»Ja du! Denn ich konnte sicher sein, daß du mich nicht verständest, daß du meinem Verkehr mit Gabriel Bartusch eine niedrige Auslegung geben würdest; wie du es ja in Wirklichkeit auch thust.«

»Das muß ich sagen!« rief er und sprang auf seine Füße. »Ist soetwas erhört? Eine Frau verkehrt Wochen lang mit einem fremden Manne. Ihr seid zusammen gesehen worden in größter Intimität. Schließlich brüstest du dich noch damit! Ich soll alles in schönster Ordnung finden, nicht wahr? – Nein, meine Liebe, vorläufig trägst du noch meinen Namen! Es ist mir nicht gleichgiltig, wie du dich aufführst. Die Leute zeigen mit Fingern auf dich. Mit Recht würde man mir Schlappheit vorwerfen, ließe ich mir das bieten! Ich bin hier, um ein ernstes Wort mit dir zu reden. Du bist außer Rand und Band geraten, mein Kind! Man muß dir den Kappzaum anlegen! Morgen früh um sieben Uhr geht ein Zug. Du hast jetzt Zeit, mit deinem Mädchen zu packen; kannst auch versuchen, noch ein paar Stunden zu schlafen. Ich werde in diesem Stuhle hier die Nacht zubringen. Morgen 266 nachmittag sind wir zu Haus. Das weitere wird sich dann finden.«

Er setzte sich wieder, machte sich in erheuchelter Ruhe mit seiner Cigarre zu schaffen, die ausgegangen war. Thekla in Hut und Umhang, wie sie von draußen hereingekommen war, stand ihrem Manne gegenüber, ließ die Augen nicht von ihm.

»Was stehst du da und stierst?« rief er ihr zu. »Es ist so, wie ich sage; morgen früh reisen wir. Hast du noch Rechnungen zu bezahlen, so kann das per Post geschehen. Rufe Hedwig und fangt an!«

»Ich reise nicht mit dir!« sagte Thekla.

»Höre, Thekla, ich möchte dir doch raten . . . . . .«

»Du kannst mich nicht zwingen!«

»Meinst du?« Er sprang auf und stellte sich drohend vor sie hin. »Allerdings kann ich dich zwingen, und ich werde es thun! Siehst du so! . . . . . .«

Dabei faßte er ihren Arm und schüttelte sie mit aller Gewalt, bis er selbst gänzlich außer Atem war. »Siehst du so! Und es kann noch besser kommen!«

Thekla ließ keinen Schmerzenslaut hören, obgleich er ihr den Arm nahezu ausgerenkt hatte. Totenbleich blickte sie ihn fest an. »Willst du mich nicht auch in's Gesicht schlagen, Leo?« fragte sie, mit einer ihr selbst fremden, rauhen Stimme.

Er hatte bereits den Arm erhoben, aber ihr Anblick entwaffnete ihn. In ihrer Haltung lag etwas, das ihn zur Ohnmacht verdammte. Er knirschte mit den Zähnen, sein Gesicht verzerrte sich, schwer atmend stand er vor ihr.

Sie glättete sich das Haar, brachte ihre Kleidung in Ordnung. Keine Wimper zuckte. Äußerste Gefaßtheit lag in jeder ihrer Bewegungen.

»Wirst du reisen oder nicht?« fragte er keuchend.

267 »Nicht mit dir!«

»Mit wem?«

»In einigen Tagen werde ich reisen, allein. Ich habe an Gabriels Mutter geschrieben; sie kann jeden Tag hier eintreffen. Eher verlasse ich den Kranken nicht. Und wenn ich dann reise, ist es nicht zu dir, sondern zu meiner Mutter.«

»Weißt du, daß das Scheidung bedeutet?«

Thekla stand an der Thür, die Hand auf der Klinke und antwortete: »Ich glaube, Leo, wir sind längst geschieden.«

 


 


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