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Frau Thekla war seit Wochen im Selzbad. Einem Badearzt hatte sie sich nicht vorgestellt. Täglich trank sie einige Glas selbstbereiteten Kefirs; eine Kur, die ihr bereits einmal ausgezeichnet bekommen war. Im übrigen hielt sie sich soviel wie möglich im Freien auf, lief sich müde in den herrlichen Tannenwaldungen, die hier ringsum das Bergland bedeckten.
Sie hatte sich in einem ländlichen Häuschen eingemietet, das etwas abgelegen war von dem Kurhaus und den Brunnen-Anlagen. Seitdem Thekla vor Jahren mit Tante Wanda hier gewesen, hatte sich der Badeort wesentlich vergrößert.
Große Freude hatte Frau Thekla, als sie eines Morgens einen Brief empfing, auf dessen Umschlage ihre Adresse mit großen unbeholfenen Buchstaben geschrieben stand. Gerd schrieb seinen ersten richtigen Brief. Trudel konnte schon mit dem großen Einmaleins rechnen, die Großmutter 227 hatte ihm einen Ball und eine Peitsche geschenkt, und alle ließen grüßen. Das waren die wichtigen Nachrichten, die vier Seiten einnahmen. Und diese rührenden Buchstaben, eingeklemmt zwischen Bleistiftlinien, die ihm jedenfalls das Fräulein vorgezogen hatte! Der Mutter standen die Thränen in den Augen, sie küßte das Papier wiederholt. Den ganzen Tag ging sie umher, erfüllt vom Bewußtsein stillen Glücks. Gerd war doch der Beste von allen; ihr goldener, einziger Junge!
Die Mutter schrieb ihr häufig. Daß sie von Gerd entzückt war, schien ja bei einer Großmutter selbstverständlich; aber sie lobte auch das Fräulein und die verständige Art, die sie mit dem Kinde habe. Vetter und Cousine: Gerd und Trudel, spielten reizend zusammen, und mit den Seeheimschen Jungens messe er schon seine Kräfte. Es sei eine ganze kleine muntere Gesellschaft zusammen. Thekla möge ihn nur ja recht lange dalassen. Dazu war Frau Thekla nur zu gern bereit. Sicherlich bekam es dem Jungen ausgezeichnet, mal unter anderen Kindern zu sein.
Zwischendurch kam ein Brief von Hedwig. Das Mädchen schrieb, sie habe eine große und sehr unbescheidene Bitte: ob die gnädige Frau nicht erlaube, daß sie ihren Dienst bei ihr wieder antreten dürfe. Sie vermöchte sich mit den Ihren – bei denen sie zu Besuch war – durchaus nicht zu stellen, sei vor Ärger schon ganz krank und melancholisch geworden. Ob die gnädige Frau sie denn gar nicht gebrauchen könne? – Frau Thekla antwortete umgehend: sie möge nur ja kommen.
Nach einigen Tagen trat Hedwig im Selzbade auf. Dem armen Dinge schien es daheim wirklich nicht gut ergangen zu sein; sie sah ganz elend und abgespannt aus. Frau Thekla ging mit ihr zu einem Arzt, der dem Mädchen Brunnen und Bäder verordnete und größte Schonung. 228 Mit einem Male war das umgekehrte Verhältnis eingetreten zwischen den beiden; jetzt war es die Herrin, die ihr Mädchen pflegte und ihr manchen Handgriff leistete, den für gewöhnlich die Dienerin that.
Frau Theklas Hoffnung, im Selzbad gänzlich von Bekannten verschont zu bleiben, sollte sich nicht erfüllen. Ein Fräulein von Wächtelhaus überfiel sie eines Tages. Zu ihrer größten Freude habe sie erfahren, daß Frau von Wernberg hier sei, erklärte diese ältliche Dame. Endlich ein Bekannter! Es seien ja außer ihnen gar keine anständigen Menschen hier. Schon hätte sie an's Abreisen gedacht, als sie Frau von Wernbergs Namen in der Kurliste entdeckt habe. Nun werde sie natürlich bleiben.
Nichts Unangenehmeres hätte Thekla passieren können, als gerade diese Person hier zu treffen. Fräulein von Wächtelhaus gehörte dem Kreise der Hofgesellschaft an, der ihr am wenigsten sympathisch war. Als Schwester des Theaterintendanten spielte sie eine gewisse Rolle. Gleich ihrem Bruder pflegte sie die Medisance; besaß jedoch nur seine Geschwätzigkeit, nicht seinen Witz.
Eine solche Person zum täglichen Umgang zu haben, war eine höchst unerquickliche Aussicht. Thekla schützte Hedwigs Unwohlsein vor, das sie verhindere, an etwas Anderes zu denken, als an die Pflege ihrer Jungfer. Der Vorwand war doch wohl etwas durchsichtig; man schien zu merken, daß man nicht gewünscht werde und verabschiedete sich mit spitzem Gesicht.
Eines Tages entdeckte Hedwig, welche in Ermangelung anderer Beschäftigung die Kurliste zu studieren pflegte, einen ihr bekannten Namen. Sie überraschte ihre Herrin mit der Frage: »Hier steht ein Herr Bartusch; ob das vielleicht der Schwager ist von gnädiger Frau ihrem Herrn Bruder? –«
229 Thekla nahm ihr die Kurliste aus der Hand. Richtig, da stand unter den zuletzt angekommenen Fremden: »Gabriel Bartusch.«
Das war noch schlimmer als Fräulein von Wächtelhaus' Anwesenheit! Bei der Kleinheit des Badeortes würde man sich früher oder später doch wahrscheinlich treffen. Was dann?
Ob er seiner Gesundheit wegen hier war? Ob auch er bereits in Erfahrung gebracht hatte, daß sie am Orte sei? –
Frau Thekla hatte nach Empfang dieser Nachricht die erste schlechte Nacht, seit sie im Selzbade war. Sie beschloß, noch vorsichtiger zu sein als bisher; in der Nähe des Brunnenplatzes wollte sie sich gar nicht mehr blicken lassen. Vielleicht konnte man doch ein Zusammentreffen vermeiden!
Trotzdem traf das, was Thekla fürchtete, sehr bald ein. Sie erging sich mit Hedwig im Walde, als sie einen Herrn von Gabriels Figur und Haltung auf sich zukommen sah. »Wir wollen hier links gehen!« sagte Frau Thekla zu der erstaunten Hedwig und eilte mit schnellen Schritten voran, in's Gebüsch hinein, machte erst Halt, als sie ganz sicher war, daß niemand folge.
Nun that es ihr fast leid, daß sie ihm so aus dem Wege gegangen war. Würde er nicht tief gekränkt sein, wenn er sie etwa doch erkannt hatte?
Sie hätte das nicht thun sollen! Sah' es nicht aus, wie Mangel an Großmut, wie Herzlosigkeit, als wolle sie auf einen, der doch wahrlich bereits hart genug gestraft war, auch noch in häßlichem Eifer losschlagen. So würde er es auffassen, wie sie ihn kannte. Sie war wirklich bestürzt über das, was sie gethan hatte, fühlte, daß es ihrer nicht würdig sei, schämte sich. Es war auch nicht einmal weise gethan, eine ganz dumme Furcht hatte sie befallen.
230 Thekla beschloß bei sich, den Fehler wieder gut zu machen. Die Gelegenheit dazu bot sich bereits am Tage darauf. Auf dem Wege begriffen nach einer nahen Anhöhe, die sie aufzusuchen pflegte, um dort ungestört zu lesen, sah sie einen Mann auf einer Bank sitzen, den sie, näher kommend, für Gabriel erkannte. Er hielt den Kopf gesenkt, zeichnete mit dem Stock Figuren in den Sand.
Ohne Zögern schritt sie auf ihn zu und machte vor ihm Halt. Er richtete das Gesicht empor, starrte sie an, wie eine Geistererscheinung. In seinen gramvollen Zügen leuchtete es auf, blitzartig; er sagte nichts als ein halblautes: »Thekla!«
Sie war verwirrt; so stark hatte sie sich die Wirkung nicht gedacht auf ihn.
Er hatte sich erhoben, verbeugte sich und griff dabei nach ihrer Hand. Sie entzog ihm die ihre schnell. Sofort sah sie die Wirkung in seinen Zügen; eben noch von Glück durchleuchtet, umwölkten sie sich. Er sah weg.
»Sie sind zur Kur hier, Herr Bartusch?« fragte Thekla.
»Wie man's will. Jawohl! Ich kann wohl sagen: ich bin zur Kur hier.«
Es fiel ihr auf, wie schwach seine Stimme war. Man schritt gemeinsam in der Richtung weiter, die sie gehabt hatte.
»Und bekommt Ihnen Selzbad gut?«
»Wollen wir nicht von erfreulicheren Dingen sprechen, als von meinem Zustande?«
Der Pfad ging bergan, und es kam Thekla vor, als werde es ihm schwer, Schritt mit ihr zu halten. Sein Atem klang nicht gut; man brauchte übrigens nur seine Pergamentfarbe und die eingefallene Brust zu betrachten, um zu wissen, wie es mit ihm stehe. Sie mäßigte ihren Schritt.
231 Auf einmal machte er Halt. Thekla glaubte, er könne nicht mehr vorwärts, wollte ihn schon bitten, sie nicht weiter auf diesem steilen Wege zu begleiten. Aber er schöpfte nur Atem zum Sprechen.
»Warum sind Sie mir gestern aus dem Wege gegangen?« fragte er leise und blickte sie forschend aus dunklen Augen an.
»Ich bin hier meiner Gesundheit wegen, Herr Bartusch!« erwiderte sie.
»Sie sehen aus, wie das Leben selbst!«
»Es ist mir nicht gut gegangen im Frühjahr. Der hiesige Aufenthalt hat mich einigermaßen hergestellt. Ich wünsche die Erfolge meiner Kur nicht auf's Spiel zu setzen.«
»Sehr vernünftig gedacht! Aber, weiß Gott, ich begreife nicht, was Sie von mir befürchten könnten für Ihre Kur?« –
Ihre Blicke kreuzten sich. Jetzt blieb Thekla stehen. »Gabriel!« rief sie – der Name kam ihr ganz natürlich auf die Lippen. »Es ist nicht recht von Ihnen, so zu sprechen! Sie wissen selbst ganz gut, welche Antwort ich Ihnen von Rechts wegen geben müßte. Sie wissen, wie wir beide zu einander stehen.«
»Daß weiß ich eben nicht! Ja, das ist es gerade, was ich von Ihnen wissen möchte.«
»Dann muß ich sprechen: wir haben nichts mit einander gemein, Herr Bartusch; nicht das Geringste!«
»Nichts ist zuviel gesagt; denn zum mindesten haben wir mit einander die Erinnerung gemein. Und das ist viel; ja in meinem Zustande ist die Erinnerung alles!«
Sie schwieg betroffen.
»Warum haben Sie mich denn vorhin angesprochen?« fragte er. »Sie hätten mir doch ausweichen können, wie gestern; leichter sogar!«
232 »Das will ich Ihnen sagen: es hätte so ausgesehen, als fürchtete ich mich! Mein gestriges Verhalten war sinnlos, ich wollte es wieder gut machen; darum sprach ich Sie an.«
»Wie Ihnen das ähnlich sieht!« rief er in freudiger Erregung. »Sie wissen nicht, was Sie mir damit gethan haben! Ich habe sehr böse Stunden hinter mir seit gestern. Gerade vorhin war ich auf dem Tiefpunkte angelangt der Verzweifelung. Da standen mit einem Male Sie vor mir, Sie, an die ich die ganze Zeit über gedacht hatte. Ein Wunder!« –
Es war zu sehen, daß er am Ende seiner Kräfte angelangt war. Er beugte den Oberkörper vor, preßte die Hand auf die Brust.
»Sie haben Schmerzen!« rief Thekla. Er nickte.
Unwillkürlich legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Wir wollen nicht weiter gehen! Kann man denn nichts für Sie thun?«
Er blickte sie an, versuchte zu lächeln. Die Angst, die sich in ihren Zügen malte, that ihm wohl. Wie lieb er in diesem Augenblicke sein Leiden hatte, da er sah, daß er ihr dadurch nahe kam!
»Wer sorgt denn für Sie?« forschte Thekla. »Sind Sie ganz allein hier? Haben Sie wenigstens einen vernünftigen Arzt?«
»Ach Gott, Ärzte! Meine Mutter hat mir bereits ein halb Dutzend davon auf den Leib gehetzt. Was soll mir das? Meine halbe Lunge, die nun mal weg ist, kann mir keiner ersetzen!«
»Das ist ja furchtbar!«
Mit Entzücken beobachtete er, daß ihr Thränen in die Augen traten.
»Ich habe keine Ahnung gehabt, daß es so schlimm 233 steht mit Ihnen. Ella hat mir kein Wort davon gesagt!«
»Ich habe meiner Schwester nichts gesagt; sie würde sich geängstigt haben. Es ist in der Familie meiner Mutter; mein Großvater starb lungenkrank. Mir ist das Leben nie so wichtig erschienen, daß ich gewünscht hätte, es zu verlängern. Die Menschen, die so ängstlich daran hängen, sind mir immer vorgekommen, als verdünnten sie künstlich den Trank, statt ihn in seiner ganzen herben Stärke mutig hinunterzuschlucken. Ich habe gelebt, intensiv gelebt, Gott sei dank! Bis mich die werte Obrigkeit zahm machte. Im Gefängnis habe ich Leute kennen gelernt, die wurden dort erst gesund, blühten ordentlich auf – wie manche Pflanzen im Schatten gedeihen – aber, das waren Kerls mit Hammelnaturen. Für mich sind die fünf Jahre hinter den Stäben Gift gewesen. Wo der bessere Teil meiner Lunge geblieben ist, weiß ich ganz genau.«
Es war furchtbar, ihn das so ruhig feststellen zu hören. Aber Thekla wollte noch nicht alle Hoffnung für ihn aufgeben. Gabriel hatte immer Schwarzseherei getrieben. Er war doch noch nicht alt; sie konnte ihm sein Alter nachrechnen.
»Sind Sie denn hier am richtigen Platze?« fragte sie nach einer Pause. »Müßten Sie nicht vielleicht in ein südliches Land gehen?«
Mit einer gewissen Heftigkeit erwiderte er: »Das hiesige Klima bekommt mir gut. Ich bin sehr zufrieden, daß ich mich nach dem Selzbade gewandt habe.«
Sie hatten inzwischen Kehrt gemacht, näherten sich wieder der Bank, auf der er gesessen hatte.
»Ich wollte eigentlich auf den Berg,« sagte Thekla und blieb stehen.
»Ich habe Sie von einem Ausfluge abgehalten!« 234 erwiderte er mit einem Blicke auf Hängematte und Buch, die sie in der Hand hielt.
»Wenn Sie sich nur nicht zu sehr angestrengt haben! Ich mache mir Vorwürfe!«
»O, lassen Sie das! Die letzte halbe Stunde ist wertvoller als ein ganzes Jahr. – Wann sehe ich Sie wieder?«
Thekla zögerte mit der Antwort.
»Vorhin haben Sie erklärt, Sie hätten keine Furcht vor mir,« sagte er, nur gerade so laut, daß sie ihn zu verstehen vermochte.
Es war ein kurzer Kampf in ihr. »Morgen um diese Zeit, hier!« erwiderte sie und reichte ihm errötend die Hand zum Abschied.
Eine jähe Röte flog auch über seine Züge; die bleichen Lippen zuckten. Seine Augen dankten ihr.
* * *
Als sie am nächsten Tage auseinander gingen, fragte Gabriel: »Wann sehe ich Sie morgen?« Von da ab war es stillschweigend eingeführt, daß sie sich jeden Tag trafen.
Frau Thekla hatte eine schattige Allee für ihn ausfindig gemacht, wo man längere Zeit, ohne steigen zu müssen, geradeaus gehen konnte. Langsam schritten sie dort auf und ab; wenn sie an's Ende kamen, wo der Weg nach dem Kurplatz abbog, wurde umgekehrt. Die Allee war wenig begangen, da sie von den Heilquellen ablag; nur selten verirrte sich einmal ein Badegast mit seinem Becher hierher.
235 Gabriel suchte diese gemeinsamen Spaziergänge länger und länger auszudehnen. Als hege er geheime Angst, daß das Zusammensein nur von kurzer Dauer sein möchte, klammerte er sich an Theklas Gegenwart, wollte die Gelegenheit ausnutzen, bis zum Äußersten.
Thekla fand, daß er sich im Grunde sehr ähnlich geblieben sei. In seiner Ausdrucksweise, in Blicken und Gebärden, in tausend kleinen Zügen fand sie den alten Gabriel wieder. Nur weicher war er geworden und milder. Was sie immer schon geahnt hatte früher, wurde ihr jetzt zur Gewißheit: unter seinem absprechend schroffen Wesen schlummerte ein Kern von großer Zartheit. Ein Jammer war es, zu denken, daß das Leben die rauhe Schale nur noch stärker hatte wachsen lassen, und daß darüber der edle Inhalt nicht hatte zum Durchbruch kommen dürfen. Sie glaubte ihn nun ganz zu verstehen, ihren armen Freund; ein Mitleid ohne Grenzen erfaßte sie.
Alles, was sie jetzt noch für ihn thun konnte, war, ihn anzuhören. Er schien das Bedürfnis zu haben, sich mitzuteilen, war sehr offenherzig, beschönigte seine Vergangenheit nicht. Was der Priester dem Gläubigen ist, der durch die Beichte seiner Sünden genesen möchte, war Thekla ihm.
Ganz offen sprach er von dem traurigen Zerwürfnisse mit seinem Vater, ließ keinen Zweifel darüber, daß er jetzt, wo der Vater tot, aufrichtig bereue, damals so wenig kindlich gehandelt zu haben. Gern verweilte er in der Erinnerung bei seinem Aufenthalt in Südrußland; da habe er zeigen dürfen, was er könne, damals habe er Erfolge gehabt. Er lebte ordentlich auf, wenn er von der Thätigkeit sprach, die er dort entfaltet hatte.
Nur von einem Ereignisse seines Lebens sprach er niemals: von seinem Verhältnis zu jener Frau, die sein 236 Verderben geworden war. Mit deutlicher Absicht umging er alles, was auf sie Bezug hatte. Thekla hütete sich, nach jenem dunklen Ereignis zu fragen, obgleich sie im stillen sich oft gerade damit beschäftigte. Hier lag ein Rätsel verborgen, das sie gern gelöst gesehen hätte. Der Mann, der neben ihr schritt, der kränkliche, müde Mann, mit den feinen Damenhänden, der empfindlich war, wie sie kaum einen anderen kannte, sollte eine arme, wehrlose Frau umgebracht haben!
Und eines Tages lüftete Gabriel auch darüber den Schleier.
Er hatte, als er in Kiew mit der Anlage einer großen Fabrik beauftragt war, ein junges Mädchen kennen gelernt, das ihm durch Erscheinung und Wesen von vornherein tiefen Eindruck machte. Maruschkas verstorbener Vater war eingewanderter Deutscher gewesen, die Mutter stammte aus dem niederen, russischen Volke, war von großer Schönheit, aber ohne Bildung. Frühzeitig verwitwet, lebte sie in wilder Ehe mit einem armenischen Kaufmann. Es war das natürliche Bestreben des Paares, Maruschka, deren Anwesenheit ihnen lästig war, auf irgend eine Weise loszuwerden. Sobald sie mannbar ward, verkuppelte man sie an einen Juden, der sich bereit erklärt hatte, sie zu seiner Frau zu machen.
In dieser Lage lernte Gabriel das Mädchen kennen. Er war von tiefem Mitgefühl für das schöne Geschöpf ergriffen, das hier geopfert werden sollte. Sie schien großes Zutrauen zu ihm zu fassen. Es war Maruschka, die zuerst den Wunsch aussprach, zu fliehen, um dem verhaßten Bräutigam zu entkommen. Gabriel sah ein, daß es keinen anderen Weg gebe, sie zu befreien, denn das Mädchen war noch unmündig und ganz in der Hand der Ihren.
237 Er ließ alles im Stich, seine Arbeit, seine Stellung, seinen Erfolg, um des Mädchens willen; wandte sich mit ihr nach Deutschland.
In seinem Berichte fortfahrend, sagte Gabriel: »Ich wollte sie heiraten, das war meine feste Absicht, obgleich ich mir nicht im Unklaren darüber war, daß Maruschka vieles abging, was man an einer Lebensgefährtin sich hätte wünschen mögen. Ich habe sie sehr lieb gehabt. Sie war ein merkwürdiges Gemisch von Knabe und Weib. Von großer Kraft der Hingebung im Augenblick, eine Taube scheu und sanft, frisch wie ein hüpfender Gebirgsbach, wechselnd in Laune und Stimmungen, gleich Aprilwetter. Ein Stück Natur schien sie, ungebrochene Natur! Ich hatte den Plan, Maruschka zu erziehen. Das war die größte Dummheit, die mir beikommen konnte. Ein Wesen, wie sie, ist nicht zu erziehen, es lag etwas Unberechenbares in ihr. Sie war die Tochter ihrer Mutter; die slavische Unzuverlässigkeit steckte ihr tief im Blute. Mit Wind und Welle war sie verwandt, geschmeidig, jeder Kontrolle sich entziehend, ungetreu von Natur. Mir aber war es bitterer Ernst mit meinen Erziehungsplänen. Zurechtstutzen wollte ich sie mir nach meinen Bedürfnissen. Dagegen stemmte sie sich, nicht zu offener Opposition – bewahre – in einem passiven Widerstand, der wiederum mich reizte und mich außer mir brachte. So verdarben wir uns gegenseitig das Leben.«
»Ja, liebte Maruschka Sie denn nicht?« fragte Thekla.
»Ja, und nein! Sie war eine von den Frauen, die man nie ergründet. Wie weit ihre Liebe zu mir echt gewesen ist oder nur ein Vorwand, um sich aus niederer Lage befreien zu lassen, weiß ich heute noch nicht, obgleich ich Zeit genug gehabt habe, darüber nachzugrübeln. Sie gab sich mit der Leidenschaft sensitiver Naturen hin, und doch besaß man sie niemals ganz; stets behielt sie sich ein Letztes vor. Ja, ich muß 238 es aussprechen: Maruschka war hinterhaltig und unehrlich. Ihrer Liebe lag, wie ihrem ganzen Wesen, ein Bodensatz von Unlauterkeit zu Grunde. Für eine anständige Frau mag es schwer sein, soetwas zu begreifen; Maruschka war ein Naturell, das den Hauptreiz der Liebeslust darin fand, mehreren anzugehören. Sie hatte das Bedürfnis des Abenteuers. Das Geheiratet-werden war nicht ihr Ziel; ja sie widerstrebte der Ehe geradezu instinktiv. – Ich vermag darüber jetzt so ruhig zu sprechen, weil ich Maruschka inzwischen verstehen gelernt habe. Es ist immer so bei mir gewesen; ich kann nicht bloß teilweis lieben! Ganz und gar hatte ich mich an dieses Mädchen verloren. Was sie war, verdankte sie mir; damit sie frei werde, hatte ich meine eigene Existenz auf's Spiel gesetzt. Sie, Thekla, die Sie meine Eltern kennen, müssen verstehen, was ich in den Augen der alten Leute durch diese Entführung geworden war. Und alles das zuletzt weggeworfen! – Ich will mich kurz fassen; den blutigen Abschluß dieser traurigen Geschichte kennen Sie ja sowieso! – Ich fand eines Tages einen Brief an Maruschka, den sie aus Unachtsamkeit offen hatte liegen lassen. Ich pflegte sonst nicht ihre Korrespondenz zu kontrollieren; aber hier machte mich die zärtliche Überschrift, die mir in's Auge fiel, stutzen. Mein Russisch langte soweit, daß ich den Inhalt entziffern konnte. Ich ersah daraus, daß sie mit einem Studenten in Zürich korrespondierte. Nun untersuchte ich ihre Sachen und machte die Entdeckung, daß sie außer von diesem auch noch von zwei anderen Männern Briefschaften aufbewahrte. Und einzelne Wendungen ließen mir keinen Zweifel, welcher Art ihre Beziehungen zu diesen Freunden gewesen waren. Ich hielt den Beweis für das Unglaubliche in Händen, daß ich von Maruschka betrogen worden war, von Anfang an. – Ich weiß nicht, was in anderer Leute Adern fließen mag; in 239 meinen fließt Blut. Ich griff zur Waffe und schoß sie nieder. Heute sage ich mir, daß sie dessen nicht mal wert gewesen ist. Ich hätte sie sollen fortjagen, statt mein Leben an ihr unwiderbringlich zu ruinieren!«
Es folgte eine lange Pause. Thekla stand ganz unter dem Eindruck seiner Erzählung. Das war freilich ganz ganz anders, als sie es bisher gewußt hatte. Jetzt begriff sie, daß der Gabriel Bartusch, der neben ihr schritt, und der andere, der die blutige That begangen hatte, ein und dieselbe Person sei. Eine Schuldige hatte er getötet. Und war er vorschnell hastig und jähzornig verfahren, war er mit seiner That weit über das Ziel gegangen, so hatte er dafür schwer genug gebüßt. Nein, er war kein Missethäter, eher ein Märtyrer.
Wie befreit fühlte sich Thekla, daß sie jetzt so von ihm denken konnte. Der Gabriel von ehemals, ihr Jugendfreund, war wieder hergestellt für sie. Vor der Welt mochte er gebrandmarkt dastehen, in ihren Augen war er gerechtfertigt, weil sie ihn wieder verstand.
Sie sah seinen Blicken an, daß er etwas erwarte von ihr: ein Wort des Trostes, ein Zeichen der Sympathie. War das nicht das Mindeste, was er von ihr verlangen konnte? Jahre hindurch hatte sie das Schlimmste von ihm geglaubt. Schwer hatte sie sich an der Freundschaft vergangen, als sie so leicht das Vertrauen in ihn fallen ließ.
Frau Thekla sagte das in einigen schlichten Worten, welche ihr ganzes inniges Mitgefühl zum Ausdruck brachten. Er nahm ihre Hand, drückte sie für einen Augenblick an seine Brust und schluchzte.
* * *
240 Niemals sprach Frau Thekla Gabriel gegenüber von ihrem Manne. Eher kam ihr noch der Name ihres Jungen auf die Lippen. Sie zeigte dem Freunde gelegentlich Gerdchens Briefe, die ihr Stolz waren, erwartend, daß Gabriel sich mit ihr daran freuen solle. Er hörte ihr schweigsam zu, wenn sie strahlend von ihrem Liebling berichtete.
Gern wollte sie sich dem Freunde gegenüber zeigen in ihrem Glück, aber nimmermehr das Elend ihres Lebens ihm entschleiern.
Aber Gabriel hatte den scharfen Blick des Mißtrauischen. Er kannte Thekla von Jugend auf – nie war er einem ehrlicheren Menschenkinde begegnet – hier zum ersten Male traute er ihr nicht. Sie war eben nicht groß in der Kunst der Verstellung. Immer mehr verdichtete sich sein Argwohn zur Gewißheit, daß sie unglücklich verheiratet sei. Und selten hatte ihm eine Erkenntnis mehr Befriedigung gewährt, als diese.
Gabriel sprach gelegentlich über die Ehe ganz im allgemeinen. Er schien keine hohe Meinung von der Institution zu haben; in den meisten Fällen sei Ehe »Humbug«.
Frau Thekla widersprach dem. Er fragte dagegen, ob sie leugnen wolle, daß unzählige Verbindungen der Mitgift zuliebe geschlossen würden, um Versorgung, Namen, Stellung und dergleichen zu gewinnen. In wie vielen Ehen, die nach außen den Schein schönster Harmonie machten, herrsche Kälte, Widerwillen, Feindschaft; von den gröberen Formen der Untreue wolle er gar nicht sprechen.
Sie wollte das in solcher Allgemeinheit nicht zugeben; aber es war doch nur eine Art von Scheingefecht, welches sie führte. Mit deutlicher Befangenheit wiederholte sie das Behauptete, statt es zu belegen; wie jemand, der nicht 241 alles, was er denkt, sagen darf, und der nicht zugeben will, daß er dem scheinbaren Gegner recht giebt. Sie versteifte sich schließlich darauf, daß die Ehe »geheiligt und gottgewollt« sei; unter keinen Umständen dürfe daran gerüttelt werden, weil sonst die ganze Weltordnung zusammenbrechen würde. Ohne sich dessen bewußt zu sein, gebrauchte sie fast dieselben Worte, die Leo gegen sie angewendet hatte.
Als habe er geahnt, von welcher Seite diese Argumente kämen, trat Gabriel dem mit höhnischem Eifer entgegen. Die Ehe etwas Geheiligtes, Gottgewolltes? – Ein Notbehelf war's der menschlichen Gesellschaft, wie Religion und Staat Notbehelfe waren, den Bürger im Zügel zu halten. Das solle man nur zugeben, aber nicht durch Heiligsprechung solchen höchst prosaischen Zweckmäßigkeits-Einrichtungen ein gleißendes Mäntelchen umhängen. Geheiligt sei die Liebe, wie alles Natürliche, Ursprüngliche und Unverfälschte Heiligtum war. Ehe ohne Liebe sei eine schlechte Farce, sei Bequemlichkeit, widerliche Konvention, schlimmer als Konkubinat. Nur die Liebe gebe der Form den wertvollen Inhalt, sonst sei jeder Bund der Geschlechter, wenn zehnmal von Staat und Kirche gutgeheißen, weiter nichts als Heuchelei, Opportunismus, Unsittlichkeit.
Nicht immer war seine Laune so gallig und seine Rede so herb. Manchmal befand er sich geradezu in weicher, elegischer Stimmung, so daß man ihn kaum wiedererkannte. Das Leiden hatte ihn doch furchtbar mitgenommen, ihn mürbe und zahm gemacht. Er verwünschte seine Schwäche, konnte es aber nicht verhindern, daß ihm die Thränen kamen, wenn er von seinem Elend sprach. Zu nichts sei er mehr gut, behauptete Gabriel; er wünsche sich den Tod.
242 Frau Thekla suchte ihm die schwarzen Phantasien zu verscheuchen. Allerhand freundliche Zukunftsbilder malte sie ihm vor; er werde gesund werden, wenn er sich nur halte. Sie fand, daß sich sein Aussehen schon gebessert habe; daß sie der Klang seines Hustens beunruhige, wagte sie ihm freilich nicht zu sagen. Von seinem Berufe sprach sie, versuchte, ihn dazu zu bewegen, daß er ihr von seinen Projekten erzähle.
Alles das hätte keinen Sinn für ihn, entgegnete er; zur Arbeit fehle ihm das Wichtigste: Gesundheit! Was nütze es, wenn er daheim sitze und die schönsten Risse und Pläne zu Papier bringe, da er sie doch nicht ausführen könne? – Nach seinem Unglück habe er nochmal einen großen Bau übernommen, eine Sache, die ihm am Herzen gelegen; aber mitten in der Arbeit sei er erkrankt. Er vertrage den dauernden Aufenthalt im Freien nicht mehr, das Messen, Anordnen, Überwachen bei jeder Art Witterung. Und was sei ein Baumeister ohnedem? Während seiner Niederlage hätte dann ein anderer seinen Plan ausgeführt. Seitdem habe er nichts wieder in Angriff genommen.
Es war für Frau Thekla selbst oft erstaunlich, welchen Raum nachgerade das Mitgefühl für den unglücklichen Freund in ihrer Seele beanspruchte. Ihr ganzes Tagesleben drehte sich eigentlich nur noch um ihn und sein Befinden. Es kam ihr vor, als liege darin eine Art von Fügung. War es nicht, als dulde das Leben nichts Unfertiges, Abgebrochenes. Ihr Verhältnis zu Gabriel war so etwas Unvollendetes gewesen. Welch ausgleichende Gerechtigkeit lag nicht darin, daß ihr jetzt endlich Gelegenheit gegeben wurde, ihm etwas zu sein.
Das Wunderliche dabei war, daß Gabriel mehr und mehr Gewalt über sie bekam. Er: kränklich und verbraucht, eine Ruine nur noch dessen, was er gewesen, übte eine 243 Anziehung aus, die er, als er in Jugendkraft um sie geworben, nicht gehabt hatte. Ihr Mitleid wandelte sich allmählich in stärkeres Interesse an seiner Person. Sein Wesen erfüllte sie mit tiefer Sympathie. Gabriel begann jene unsichtbare Rolle in ihrem Denken und Empfinden zu spielen, die wir denen einräumen, welche wir lieb haben.
Es war ein Stück Jugend, das in ihr erwachte; mehr noch: es erwachte in ihr das Bewußtsein dessen, was hätte sein können, im Anblicke dieser gebrochenen Gestalt und dieses verfehlten Lebens. Es hätte nicht so kommen müssen; in ihre Hand war es einstmals gelegt worden, ihn zu retten.
Thekla wollte darüber nicht grübeln; damit war ihm nicht gedient. Nun, wo sich ihre Wege in so wunderbarer Weise noch einmal gekreuzt hatten, wollte sie ihm wenigstens alles gewähren, was sie ihm noch gewähren durfte.
Trotzdem dachte Frau Thekla hin und wieder an's Abreisen. Sie war nun schon an die zehn Wochen im Selzbad. Ihr Mann zwar drängte sie nicht, zu ihm zurückzukehren. Leos Postkarten enthielten nach wie vor weiter nichts, als Berichte über sein Befinden und den Wunsch, daß es ihr ebenso gut gehen möge, wie ihm. Aber sie selbst sagte es sich, daß sie Hausfrau sei und Mutter, und daß sie eines Tages doch wieder in den Kreis ihrer Pflichten werde zurückkehren müssen. Auch ihre Mutter legte ihr diesen Gedanken nahe in ihren Briefen. Frau Sänger erinnerte an das, was ursprünglich ausgemacht worden war, daß Thekla nach beendeter Badekur sich noch einige Zeit bei ihr und Arthur aufhalten solle, ehe sie mit Gerd zu ihrem Manne zurückkehre. Es sei nicht gut, meinte die Witwe, daß sie sich ohne Grund so lange den Ihren entziehe.
Die Mutter hatte ja ganz recht; aber konnte sie wissen, welche Pflichten die Tochter inzwischen hier gefunden hatte? 244 – Der Entschluß, Gabriel zu sagen, daß sie ihn verlassen wolle, kam Thekla zu schwer an.
Aber einmal mußte es eben doch sein! Je länger man's hinausschob, desto schwieriger wurde es. Gabriel war ihr mehr geworden, als sie ihn jemals hätte blicken lassen mögen.
Und gar, wenn sie daran dachte, wie ihre Zukunft sich gestalten würde, was ihrer daheim warte; das Demütigende, sich wieder hineinfinden zu müssen in das, was sie am liebsten geflohen hätte, sich schicken, sich beugen unter die Notwendigkeit. Die furchtbare Übergangszeit, nachdem man die herrliche Unabhängigkeit gekostet, ehe man sich wieder in das alte Joch gewöhnt haben würde. Wenn sie daran dachte, wollte ihr aller Mut versagen.
Das schlechte Wetter, welches jetzt eintrat, schien ihr die Abreise erleichtern zu wollen. Ihr Verkehr mit Gabriel wurde dadurch erschwert, ja geradezu zur Unmöglichkeit gemacht. In Regenmäntel gehüllt, mit Halstüchern und Schirmen versehen, mußten sie fortan ihre Zusammenkünfte abhalten.
Diese Art Wetter mußte ja Gift sein für Gabriel. Thekla bat ihn, im Hause zu bleiben; aber er wollte davon nichts wissen. Jeden Tag erschien er zum Rendezvous, und wenn sie einmal zu spät kam, dann fand sie ihn, mit vorwurfsvoller Miene ungeduldig auf- und abgehend, schon am Platze.
Frau Thekla sprach ihm eines Tages von einer Lungenheilstätte, wo eine ihr bekannte Dame Genesung gefunden habe. Wenn er es erlaube, wolle sie dorthin schreiben und um nähere Auskunft bitten für ihn. Im Winter müsse er dann nach dem Süden gehen.
Da sie, ganz von ihrem Plane eingenommen, lebhaft sprach, merkte sie nicht, wie sich sein Gesicht mehr und 245 mehr verdüsterte. Erst als sie auf eine Frage keine Antwort erhielt, sah sie, was sie angerichtet habe.
»Gabriel!« rief sie, »was ist Ihnen?«
»Sie wollen mich los sein!« sagte er gepreßt.
»Aber um Gotteswillen, wie kommen Sie darauf?«
»Sie führen schon lange etwas gegen mich im Schilde!«
»Lieber Freund!« rief Thekla. Dann schwieg sie verzweifelt über soviel ungerechtes Mißtrauen.
»Ich weiß es,« fuhr er fort. »Sie wollen nach Haus. Was bin ich Ihnen! Ich soll in einer Lungenheilanstalt untergebracht werden. Nach Italien, nach Afrika – nicht wahr? – Nur weit weg, recht weit weg, soll ich . . . . . . .«
Er wurde von einem heftigen Hustenanfalle unterbrochen. Thekla führte ihn zur nächsten Bank. Sie überlegte, ob sie dieses Gespräch weiterführen solle. Aber schließlich sagte sie sich, daß es zwischen ihnen klar werden müsse, ehe sich ein verhängnisvoller Irrtum bei ihm festsetze.
»Lieber Freund!« begann sie, neben ihm sitzend. »Wir müssen vernünftig sein. Daß es nicht für alle Zeiten so bleiben kann, wie jetzt, wissen Sie, so gut wie ich. Einmal müssen wir scheiden! Wozu sich dagegen verschließen? Sie müssen doch einsehen, daß ich Pflichten habe, die mich rufen.« –
Gabriel lachte auf; das Lachen ging in krampfartigen Husten über. Er hielt sich das Taschentuch vor den Mund. Als er erschöpft die Hand sinken ließ, bemerkte sie eine verdächtige Färbung auf seinen Lippen. Seit einigen Tagen schon hatte sie einen ganz bestimmten Argwohn gehabt; nun wußte sie, daß er Blut auswerfe.
»Gabriel, um Gottes willen!« – Er vertilgte die verräterischen Spuren und versuchte zu lächeln.
246 »Warum haben Sie mir das verheimlicht?« rief sie und rang die Hände.
Gabriel schwieg. Heimlicher Triumph leuchtete aus seinen Blicken, da er sie um seinetwillen so fassungslos sah. Thränen fielen ihr aus den Augen, die sie nicht verbergen wollte.
»Ich werde sterben!« sagte er, sah sie dabei scharf an, auf den Eindruck begierig. Sie saß stumm und bleich, wie vernichtet.
Er fuhr fort, in ruhigem Tone: »Vor einem Vierteljahre ungefähr konsultierte ich auf Wunsch meiner Mutter einen großen Arzt, Spezialisten für Lungen- und Halsleiden. Der Mann war ehrlich genug, mir zu sagen, daß es bei mir Matthäi am letzten sei.«
»Hat er Sie hierher geschickt?«
Gabriel schwieg.
»Hat er Sie nach Selzbad geschickt?«
»Einmal müssen Sie's ja doch erfahren! Nein, Thekla, nach Selzbad hat er mich nicht geschickt. Ich sollte an die Riviera gehen und später nach Algier. Aber, ehe ich diese Reise antrat, wollte ich Sie noch einmal gesehen haben, Thekla; ich wollte Abschied nehmen von Ihnen, verstehen Sie! – Da erfuhr ich, daß Sie hier seien. So, nun wissen Sie alles!«
Thekla schwieg lange. »Und Ihre Mutter?« fragte sie dann.
»Meine Mutter ahnt nicht, daß ich hier bin. Ich schreibe ihr unter falscher Ortsangabe; meine Briefe gehen über Mentone. Kein Mensch, außer Ihnen, weiß, wo ich mich aufhalte.« –
»Schrecklich ist das!« sagte Thekla, fast tonlos. »Ein großes, großes Unrecht!« Auf einmal begriff sie, daß Gabriels Anwesenheit eine schwere Verantwortung bedeute 247 für sie. Abermals war sie ihm zum Verhängnis geworden, abermals, ohne daß sie es gewußt und gewollt hätte. Noch tiefer waren ihre Schicksale nun verstrickt; wenn sie ihn auch aus ihrem Herzen verbannte, ihr Gewissen würde sie nicht mehr von ihm befreien. Er hatte sie zur Mitschuldigen gemacht.
»Machen Sie sich nur keine Vorwürfe, Thekla!« sagte er, als habe er ihren Gedankengang erraten. »Mein Schicksal erfüllt sich, wie es sich erfüllen muß. Mir hätte auch der Süden nichts geholfen! Höchstens etwas länger gequält würde ich mich haben. Einsam gestorben wäre ich. Und jetzt weiß ich doch, daß ich nicht einsam bin. O, ich bin ja so glücklich! Und nicht wahr, Sie lassen mich nun nicht mehr allein? –«