Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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VII.

Sehr bald, nachdem Frau Thekla in die Stadt zurückgekehrt war, trat bei der kleinen Agathe von neuem jener rätselhaft beunruhigende Stillstand ein. Man konnte nicht sagen, daß das Kindchen wirklich krank sei, es wollte nur nicht gedeihen. Doktor Rink, der jetzt wieder die Behandlung übernommen hatte, sagte mit rücksichtsloser Offenheit seine Ansicht: der Aufenthalt in Wyraburg habe nicht nur nichts genutzt, sondern sogar geschadet; er habe das vorausgesehen.

Mit sehr bitteren Gefühlen schrieb Frau Thekla an ihren Mann, daß sein Wille erfüllt sei, sie befinde sich nun wieder zu Haus.

Den eigentlichen Grund ihrer Flucht von Wyraburg schrieb sie ihm nicht. Mit dürren Worten soetwas aussprechen, war ja undenkbar! Das konnte sie nicht, wenigstes jetzt noch nicht. Vielleicht würde später einmal der Augenblick kommen, wo sie auch darüber sprechen mochte, dann aber ihm in's Gesicht.

Leos Rückkehr war nun bald zu erwarten. Sein Brief, in dem er ihr das mitteilte, lautete wenig befriedigt. Er sprach von bevorstehenden Veränderungen im Ministerium, die ihm sehr unangenehm seien. Sie wußte nicht recht, was er damit meine. Zudem war sie so ganz durch 103 Agathchens Pflege beschäftigt, daß ihr die Staatsangelegenheiten noch viel gleichgiltiger erschienen als sonst.

Leos und Theklas Wiedersehen war kein herzliches. Er legte von vorn herein schlechte Laune an den Tag. Frau Thekla mußte es erleben, daß er ihr in der ersten halben Stunde bereits Vorwürfe machte über Einrichtungen im Hause, die er nicht in der Ordnung fand. Daß es der kleinen Agathe noch immer nicht besser gehe, konnte er nicht begreifen. Da müsse doch etwas verfehlt worden sein in der Pflege! – Man habe wohl klüger sein wollen, als Doktor Rink und ihm »hereingepfuscht«! –

»Und du siehst aus, als ob dir alle Butter vom Brote gefallen wäre, mein Kind!« sagte Wernberg. »Hast du nun eingesehen, daß der Gedanke mit Wyraburg recht thöricht gewesen ist? Man soll nicht alles thun, was einem gerade durch den Sinn fährt. Hieraus wirst du dir hoffentlich eine Lehre nehmen für die Zukunft. Nicht wahr?«

Sein lauernd unsicherer Blick widersprach dem äußeren Selbstbewußtsein seines Auftretens.

Thekla erwiderte nichts. Feindschaft und Verachtung stiegen in ihr auf, fast überwältigend. Sie hätte ja nur ein Wort sagen brauchen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Aber zu billig wäre das gewesen. Ja, sie fürchtete sich geradezu davor, ihn so tief zu demütigen. Nein, das Entsetzliche wollte sie nicht erleben, ihren Mann dastehen zu sehen, wie einen ertappten Schulknaben.

Geradezu eine Befreiung erschien es Thekla, daß Leo in der nächsten Zeit durch allerhand öffentliche Ereignisse stark in Anspruch genommen wurde. Sein Minister war amtsmüde geworden und wollte abdanken. Eine Vorlage, auf welche dieser Staatsmann viel Wert gelegt hatte, war von der Kammer abgelehnt worden, und die wenig 104 schmeichelhaften Dinge, die ihm daraufhin in der Presse gesagt wurden, hatten ihn vollends verdrossen. Außerdem wehte jetzt von Berlin her solch ein ungewohnt volksfreundlicher Wind, daß der alte Herr sich ganz unbehaglich zu fühlen begann. Mit dem Sozialismus der unteren Sphäre getraute er sich schon fertig zu werden, aber wenn solche Tendenzen sogar von allerhöchster Stelle begünstigt wurden, dann kam man mit der Kunst des Regierens in die Brüche; lieber zog man sich da zurück, überließ es anderen Leuten, das gefährdete Staatsschifflein auf klippenreicher See weiterzusteuern.

Herr von Wernberg, der noch bei diesem Minister seine Beförderung zum »Oberregierungsrat« glücklich unter Dach gebracht hatte – mit Überspringung verschiedener Vorderleute – war sehr wenig zufrieden, daß ein ihm so wohlwollender Chef abdanken wollte. Einen argen Strich machte ihm das durch die Rechnung. Wer der Nachfolger sein würde, war noch nicht abzusehen. Er selbst schien noch zu jung dazu. Gerade das war das Ärgerliche an der Sache. Wäre der alte Minister – wie Oberregierungsrat von Wernberg erwartet hatte – noch einige Jahre im Amte geblieben, dann hätte er mit großer Erfolgswahrscheinlichkeit als sein Nachfolger gelten können. Ja, er war seiner Sache schon so sicher gewesen, daß er einen anderen Posten, der ihm angeboten worden war, ausgeschlagen hatte, weil ihm das Ministerportefeuille, selbst in der Entfernung, wertvoller erschien. Und jetzt saß nun ein anderer an dieser Stelle, und die Aussicht, Minister zu werden, hatte sich in's Ungewisse verflüchtigt. Es war das erste Mal, daß ihm, dem alles sonst zu glücken schien, ein solcher Rechenfehler passiert war.

Er strengte alle Überredungskünste an, um den Minister zum Bleiben zu bewegen. Aber der war in seinen 105 Erklärungen schon zu weit gegangen, zu viel davon war an die Öffentlichkeit gedrungen; man hätte ihn beim Wort nehmen können.

Das war ja gerade die Dummheit, über die sich Leo Wernberg so ärgerte! Niemals wäre es in seiner Anwesenheit so weit gekommen! Er hätte den Minister davon abgehalten, hätte ihm das »nötige Rückgrat« zu geben verstanden. Während er den Rücken gewandt hatte, war die »Dummheit« passiert.

Das einzige, was Oberregierungsrat von Wernberg noch zu erreichen hoffen durfte, war, daß an Stelle des bisherigen Ministers ein möglichst unbedeutender Mann komme, auf den man Einfluß hätte und der vor allem nicht allzu fest im Sattel säße. Wernberg hätte auch einen solchen Kandidaten gewußt. Aber er war nicht der einzige, der mit dem freigewordenen Ministersessel Spekulation trieb. Die Gegenpartei war auch nicht müßig. Sie brachte einen Kandidaten, der als Vertreter arbeiterfreundlicher Anschauungen im gegenwärtigen Augenblicke gewissermaßen der berufene Mann erschien. Der Herzog war mehr Soldat als Staatsmann. Ihm, der seine Augen beständig nach Berlin gerichtet hielt, verstand man es, die Ansicht einzuflößen, daß die Wandlung der inneren Politik, welche dort eingetreten war, von Dauer sein werde. Was man sich in Berlin leisten konnte, wollte er bei sich auch haben. Und so erschien ihm der Ministerwechsel eine passende Gelegenheit, in seinem Lande das moderne System durch einen neuen Mann einzuführen.

Den Schaden trug Leo Wernberg. Nicht bloß sah er durch diesen Minister sich die Laufbahn vorläufig verrammelt, er sollte auch noch in ganz anderer Weise unter dem neuen Chef zu leiden bekommen. Der wollte, wie's schien, durchaus das Sprichwort wahr machen: »Neue Besen 106 kehren gut!« Ein Mann war's von unheimlicher Frische und Arbeitskraft, der von seinen Untergebenen ein Gleiches verlangte. Er warf die gute Tradition der Vorgänger über den Haufen, die darin bestanden hatte, den höheren Beamtenstab nach Möglichkeit zu schonen, und die Subalternen alles Langwierige und Unangenehme erledigen zu lassen. Der alte Herr war ein Mann von Formen gewesen, höflich und geschmackvoll, der über dem Beamten den Kavalier nicht vergessen hatte; einem Manne wie Wernberg gegenüber würde er niemals den Vorgesetzten herausgesteckt haben. Der Neue war nicht so geschmackvoll.

Seit diesem Antritt hörte mit einem Schlage die bisherige Gepflogenheit auf, daß sich Wernberg als Ministergünstling die Stoffe, die ihm zusagten und bei denen Ehre einzulegen war, zur Bearbeitung wählen durfte. Bei dem Neuen mußten alle Abteilungen und Chargen gleichmäßig heran, ohne Ansehen der Person. Der Mensch war eben ein Plebejer trotz Minister und Excellenz. Seine ganze Art mußte einem Leo Wernberg stark auf die Nerven gehen. Und das Schlimme war, vorläufig gab es nicht die geringste Hoffnung, ihn los zu werden. Der Mann war zu allen seinen anderen unangenehmen Eigenschaften auch noch kerngesund und sah nicht aus, als werde er sich von Kammer oder Presse wegärgern, oder von der Arbeitslast zermürben lassen.

Die Laune, welche Leo Wernberg jetzt meist vom Ministerium mitbrachte, war keine rosige. Und nun zu Haus auch noch das kranke Kind! Ausgehen konnte man in diesem Winter wieder nicht, diesmal der Kleinen wegen. Zudem war Thekla nicht ausgehfähig; sie sah matt aus und abgespannt von der Pflege.

Überhaupt sie gefiel ihm nicht. Ihr ganzes Wesen und Verhalten gefiel ihm nicht.

107 Dieser Ausflug nach Wyraburg war daran Schuld. Eine zu große Dummheit; sie kam gleich nach dem Ministerwechsel! Er ahnte ja, was dort vor sich gegangen sei, obgleich Thekla nicht davon sprach. Natürlich hütete er sich, daran zu rühren. Er war überhaupt vorsichtiger geworden in der Behandlung seiner Frau in der letzten Zeit. Man mußte das Gras, das über diese heikle Geschichte mit der Zeit schon wachsen würde, nicht im Wachstum stören.

Eine böse Zeit für Herrn von Wernberg: versetzter Ehrgeiz und häuslicher Kummer! Er war an beides nicht gewöhnt.

Trost fand er in dieser trüben Lebensperiode eigentlich nur bei Lilly von Ziegrist. Sie wenigstens ließ ihn nicht im Stich, bewährte sich als treue Freundin.

Die Abende, welche Lilly nicht in Gesellschaft zubrachte, widmete sie den Wernbergs; das heißt eigentlich: ihrem Freunde Leo Wernberg. Frau Thekla blieb nur während der Mahlzeit bei ihnen, dann zog sie sich in die Kinderstube zurück.

Lilly und Leo pflegten im Zimmer des Hausherrn zu sitzen. Sie trug ihm den Klatsch zu aus der Geselligkeit, oder man sprach von Geschäften und Politik. Eine Spezialität von Lilly war der Stand der Papiere. Sie spekulierte durch ihren Bankier nicht ohne Glück an der Börse und sprach leidenschaftlich gern davon mit Leuten, die den Geldmarkt kannten. Aber auch für Politik hatte sie Interesse, wenigstens für den persönlichen Teil des öffentlichen Lebens; gern hätte sie ihre Händchen da ein wenig eingemengt.

In der Ministerfrage stand Lilly gänzlich auf Seiten Wernbergs. Es war für ihn eine Genugthuung, in den verständnisvollen Busen der Freundin seinen Kummer 108 ausschütten zu können. Nach Weiberart haßte sie diesen Minister noch viel glühender als er, weil er es gewagt hatte, ihrem Leo – so nannte sie ihn im Herzen – die Carrière zu verderben. Sie sammelte allerhand Geschichten über den neuen Staatsmann, der eine Achillesferse hatte: seine Frau. Die faux pas, welche diese aus kleinbürgerlichen Kreisen stammende Dame in einem fort beging, bildeten ein Gaudium für die Hofgesellschaft. Solche Geschichten zum Skandal aufzubauschen und von Haus zu Haus zu tragen, war etwas für Lilly von Ziegrist. Leo Wernberg bekam jedes Bonmot über das neugebackene Ministerpaar von der Freundin hinterbracht. Es war Balsam auf seine Wunden.

Den beiden ging der Stoff zu Unterhaltung niemals aus. Oft schwatzten und lachten sie so laut, daß Frau Thekla es durch zwei Zimmer hörte, während sie an Agathchens Lager saß.

Wie ähnlich Leo und Lilly einander doch waren! Diese Beobachtung drängte sich Thekla immer wieder auf. Sie hatten dieselben Interessen, die nämliche Weltanschauung, ja in ihrer Ausdrucksweise – bis zu den Blicken und Bewegungen ging das – lag etwas Verwandtes. Zwischen ihnen bestand eine Leichtigkeit des Verständnisses, die oft nur einer Geste, eines Augenwinkes, eines Lächelns oder Schweigens bedurfte, um dem anderen seine intimsten Gedanken mitzuteilen, sich seines Einverständnisses zu versichern.

Frau Thekla vermochte das ohne jeden Groll festzustellen. Weit, weit von Eifersucht war sie jetzt entfernt.

Warum hatten diese beiden sich nur nicht geheiratet? Sicher wären sie glücklich mit einander geworden! Menschen, die sich so verstanden, die solch natürliches Zutrauen zu einander hatten, zwischen denen es Verlegenheit und 109 Scheu nicht zu geben schien, waren doch Lebensgefährten von Natur wegen! –

Welch gute Frau hätte Lilly für ihn abgegeben! Für sein Thun würde sie sich interessiert, seinen Ehrgeiz würde sie geteilt, seine Carrière in jeder Weise gefördert haben. Alles das, was ihr, was Thekla abging, hätte sie ihm eingebracht, und das, was Lilly fehlte, würde er nicht allzu schwer vermißt haben.

Thekla konnte, wenn sie so am Bettchen ihres kranken Kindes saß, in wunderlicher Kälte mit tiefbohrenden Gedanken und Vermutungen ihr eigenes Leben sondieren.

Zu denken, was wohl jetzt wäre, wenn die beiden sich damals gefunden hätten. Ob sie dann wohl noch da drüben säße in Tante Wandas Häuschen? Und dieses große, schöne Haus, in dem sie jetzt lebte, stände gar nicht! Und wo wäre das Bettchen, an dem sie jetzt wachte? Kein Agathchen, keinen kleinen Gerd gäbe es dann! Sie selbst wäre noch Thekla Lüdekind. Ob besser, ob glücklicher? – – Unheimliche Frage! Es konnte einem schwindlig werden, wenn man sich auf so steilen Wegen verlor. –

* * *

Bis zum Ende des Jahres ungefähr war sich der Zustand der kleinen Agathe ziemlich gleich geblieben; er glich dem schwachen Brennen eines Lichtleins, das keine Nahrung hat und nur fortglimmt, weil es kein Windhauch bisher ausgelöscht hat. Von den Ärzten – man hatte jetzt noch einen Spezialarzt für Kinder hinzugezogen – war Agathchens Urteil längst gefällt, vor ihrem Tribunal hatte das kleine Wesen eigentlich gar kein Recht mehr zu leben. Die 110 Mutter aber kämpfte noch immer um dieses Leben mit Eigensinn. Sie wollte ihr Kind dem lieben Gott gewissermaßen abtrotzen. Nicht einmal in ihren Mädchentagen hatte sie so gebetet, so anhaltend, heiß und aufdringlich, wie in diesen Nächten.

Aber eines Tages verlöschte das Lichtchen ohne Krisis, ohne Todeskampf, wie von ungefähr. Das Atmen hörte auf, der Pulsschlag setzte aus, der kleine Körper wurde kalt und steif.

Frau Thekla faßte sich schnell dem Unabwendbaren gegenüber. Nicht Ergebenheit war das, mehr einem Erstarren glich es. Sie war an den Grenzen der Fähigkeit angelangt, Schmerz zu empfinden. Das Schicksal ihres Kindes hatte sie so ausschließlich beschäftigt in der letzten Zeit, daß sie sich jetzt, wo alles zu Ende war, vorkam wie ein zweck- und sinnloses Wesen. Ihr Verhalten machte auf die, die sie sahen, geradezu den Eindruck der Gleichgiltigkeit.

Viel unruhiger und erregter war ihr Mann. Er hatte ja eigentlich in gar keinem Verhältnisse gestanden zu diesem Kinde, aber nun, wo er die kleine Leiche sah, wirkte der Anblick doch sehr stark auf seine Nerven. Daß er ein Töchterchen gehabt, kam ihm jetzt erst zum Bewußtsein. Der Gedanke rührte ihn, er vergoß Thränen.

Frau Thekla wünschte ein ganz kleines Begräbnis. Am liebsten hätte sie die Leiche allein hinausgetragen, selbst in die Erde gesenkt, irgendwo draußen im Walde, weit weg. Denn was hatte denn dieses Kind mit der Welt gemein gehabt? Kaum, daß man sagen konnte, es habe gelebt! Nie hatte man es lachen sehen, ernst und verdrießlich waren seine Züge gewesen, nie hatte es mit einem energischen Schrei seinen Willen kundgegeben. Unheimlich verständig hatten seine Augen drein geblickt, aber Gott 111 allein wußte, wieviel es damit sich aufgenommen haben mochte.

Einzig und allein sie, Thekla, hatte zu diesem Kinde in einem Verhältnisse gestanden, sie, die ihm das Leben geschenkt. Sie wußte, daß es ein wirklicher kleiner Mensch gewesen war. Mit Agathchen trug man ihre liebste, süßeste Hoffnung zu Grabe. Nie wieder im Leben würde sie froh werden können, seit sie diese Augen hatte verlöschen sehen.

Die nächsten Anverwandten kamen von auswärts zur Beerdigung: Theklas Mutter, Ella und Arthur, die Seeheims; von Leos Seite nahm Frau von Wernberg daran Teil.

In Menge wurden Kränze und Palmzweige in's Haus gebracht. Leo freute sich daran; es war doch ein Beweis, wie beliebt man sei. Der Herzog schickte ein Blumenarrangement für sein Pathchen, das den ganzen kleinen Sarg verdeckte. Wie Hohn erschienen Thekla die herrlichen Blumen, die von Blühen und Leben sprachen, während die kleine Knospe da drinnen geknickt lag.

Verschiedene Damen der Gesellschaft kamen persönlich, um Kränze abzugeben und dem Elternpaare ihr Beileid auszusprechen. Thekla hätte am liebsten niemanden gesehen, aber Leo war der Ansicht, daß es ein Zeichen sei von »Herzlosigkeit«, solche Teilnahme zurückzuweisen.

Unter denen, die es sich nicht nehmen ließen, persönlich zu kondolieren, befand sich auch Marie Kalkmeyer; sie vereinigte damit gleichzeitig einen Besuch bei der Excellenz. Hart und trocken wie das Fallen von Steinen klangen ihre Tröstungsworte. Daß es gerade Marie sein mußte, die als erste die Worte an die Mutter richtete: »Verzage nicht! Du wirst dein Kind wiedersehen.« Wie kam Thekla die schüchterne Hoffnung, die sie selbst in aller Stille gehegt hatte, nunmehr entweiht vor, durch die hochmütigen Lippen der Schulgenossin! –

112 Einige Zeit darauf fing Frau Thekla, die stumm da saß, Brocken einer Unterhaltung auf, zwischen Marie Kalkmeyer und der Excellenz. Sie ergingen sich in Vermutungen darüber, ob Kinder in dem frühen Alter, wie das verstorbene, bereits Sünder seien, und wie weit bei ihnen die Erbsünde in Betracht käme.

Es wurde viel geweint an dem kleinen Grabe, auch echte und heiße Thränen. In der Lüdekindschen Familie gab es drei andere Kindergräber, die noch nicht verrast waren.

Der Domprediger, derselbe, der die kleine Agathe getauft hatte, sprach schön und versuchte es, zu trösten. Alle waren ergriffen, sogar Lilly, nur eine blieb kalt: die Mutter.

Sie glaubte den Worten des Predigers nicht. Wenn er sagte: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen. Der Name des Herrn sei gelobet!« so mußte sie an sich halten, ihm nicht zu widersprechen. So etwas konnte ein Mann sagen, ein Fremder!

Nein, sie konnte und wollte Gott nicht loben! Sie hatte das Beten verlernt, seit ihr Auge den sinnlosen Anblick gehabt: ihr Töchterchen als Leiche. 113

 


 


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