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Es war noch früh am Tage im kühlen Octobermond, und doch standen schon viele Verkäufer auf dem großen Marktplatz der reichen mächtigen Handelsstadt Brügge. Nun rede ich aber nicht von dem heutigen Brügge, das so still und ernst in dem blühenden Garten Belgiens steht wie eine zerbrochene Statue, ich meine jene berühmte Stadt des 15. Jahrhunderts, jenen hellfunkelnden Edelstein der Provinz Westflandern, nach dessen Besitz es damals gar manchem hohen Herrn nicht wenig gelüstete. Von den reichen Wochenmärkten der damaligen Zeit weiß auch das heutige Brügge nichts. Ungeheure Wagen voll köstlichen Gemüses standen dicht neben einander in langen Reihen, herrliches Obst war massenhaft aufgehäuft, weiterhin hatte man breite Tische aufgestellt mit Blumen von allen Farben, und endlich waren lange Tafeln zu sehen mit Körben und Käfigen voll Geflügel aller Sorten und Bergen von frischen Eiern. Einzelne Mägde in weißen anliegenden Hauben und blendenden, knapp übergesteckten Brusttüchern schritten mit ihren saubern Körben daher, prüften und handelten mit den derben Bauern.
Hier und da trippelte auch schon eine sorgliche Hausfrau herbei, das Beste zu wählen und die Vorräthe zu mustern. Ernste Männergestalten in großen Halskrausen und Ehrenketten und schwarzen Talaren wandelten dem Rathhause zu, Mädchenblumen in langen faltigen Gewändern, den Rosenkranz in den Händen, schwebten gesenkten Blicks vorüber, denn die Glocken der hohen Liebfrauenkirche und der Jerusalemer-Kapelle läuteten zur Frühmette, und dazwischen rief, hell wie eine Kinderstimme, das Glöcklein des St. Johannishospitals die frommen Nonnen zur Andacht.
Vor dem letzten Platze an einer der langen Tafeln lehnte eilt Knabe von etwa vierzehn Jahren: ein Korb voll wohlgemästeter Gänse gehörte ihm. Der junge Gesell stand aber neben den schnatternden unruhigen Thieren wie einer, der träumt, das feine blasse Gesicht war sehr ernst, und die großen dunkeln Augen schauten weit, weit weg. – Wohin? das wußte er wohl selbst nicht. – Seitwärts von ihm saß auf einer umgestürzten Tonne sein Vater, die kurze Pfeife im Munde, ein großer Bauer aus dem Dorfe Damm. Man nannte ihn nur »der lange Hans von Damm.« Bei ihm kaufte man immer gute Waare, er ließ aber um keinen Deut mit sich feilschen, man mußte willig zahlen was er forderte; und das war auch nie zu viel, meinten alle Leute, nur die reiche Frau Vandermer meinte es nicht und zankte sich an jedem Markttage mit dem langen Hans herum. Eben kam sie herangewackelt, die dicke Goldschmiedswittwe, in dem großblumigen Damastkleide und der pelzbesetzten weiten Kontusche, in der seidnen Kapuze, aus der ein weißer Haubenstreif und ein rothes mürrisches Gesicht hervorsahen. Ihre fetten Hände steckten in einem großen Muff, und die hinter ihr hertrabende Magd trug den Korb und nickte schon von weitem schlau lächelnd dem Dammer Bauern zu. – »Mafruw« trat heran, besah und befühlte eine Gans, wog sie in der Hand, drehte sie um und um, hielt sie ins Licht und in den Schatten, zupfte an jeder einzelnen Feder und fragte endlich mit scharfer Stimme nach dem Gebot. Kaum hatte sie's aber vernommen, als sie in gewohnter Weise losfuhr, schier außer sich gerieth und das schöne Thier mager und krank nannte. Der lange Hans wurde gar grob, »Mafruw« erwiderte herzhaft jede derbe Rede und kreischte gewaltig. Da blieb denn bald der, bald jener stehen; wo einer steht, da kommen andere hinzu, es sammelten sich allmählich viele Leute um das zankende | Paar, – die geizige Frau Vandermer war ja in der ganzen Stadt bekannt. Plötzlich schrie aber die junge Magd der Goldschmiedswittwe ganz hell auf: »Ach, da ist ja das leibhaftige Konterfei von Mafruw!« – Man hörte verwundert, drängte sich dichter zusammen, machte lange Hälse, ein Gemurmel erhob sich – dann aber brach ein Lachsturm aus, so gewaltig, so unaufhaltsam, daß noch mehr Menschen herbeigelaufen kamen und selbst die Verkäufer ihre Plätze verließen und schrien und jubelten. »Mafruw« allein stand mit geballten Fäusten und schäumend vor Wuth in der allgemeinen Freude und überschüttete mit Scheltworten den Urheber des Auflaufs, den hübschen Knaben. Der hatte nämlich unbemerkt während des Gezänks mit einem Stückchen Kohle auf die Ecke der Tischplatte die ganze Gruppe in rohen Umrissen aufgezeichnet und den Kopf und die Haltung der Alten so treu, so sprechend, oder vielmehr so keifend wiedergegeben, daß niemand dies Konterfei ohne Heiterkeit anzublicken vermochte. »Mafruw« wollte zwar zu wiederholten Malen darauf los fahren, um die Striche zu verwischen, aber hundert Arme streckten sich aus, die kecke Zeichnung zu schützen.
Eben als der Tumult am heftigsten war, schritt ein hoher, mild blickender Mann langsam über den Marktplatz. Er trug einen braunen Sammetüberwurf, reich mit Pelz verbrämt, und ein schwarzes Barett auf den lang herniederwallenden hellen, schon silberschimmernden Haaren. Junge Männer in ähnlicher Tracht gaben ihm mit dem Ausdruck höchster Ehrfurcht das Geleit. Ein Flüstern durchlief die Menge, als er nahte. »Was geschieht hier?« fragte er sanft. Man machte ihm sogleich Platz und er trat an den Tisch. Da stürzte aber der Knabe vor, warf sich dem Fremden zu Füßen und rief:
»Ach, edler Meister van Eyk, seht mein schlechtes Werk nicht an!«
Aber der hochberühmte Maler hatte sich über die Zeichnung gebeugt und betrachtete sie lange und aufmerksam. Dann wandte er sich zu dem erregten Knaben, der aufgesprungen war und mit glühenden Wangen neben ihm stand, und fragte ernst:
»Wie heißest Du?«
»Hans Hemmling – willst Du mein Schüler werden?«
Da rang sich ein wilder Schrei des Entzückens aus der jungen Brust und mit überströmenden Augen rief der Knabe fast krampfhaft:
»Ja – ja – ich will!«
Die Stimme brach ihm aber, er faßte des Meisters Hände und drückte sie fest an sein laut klopfendes Herz.
Der alte Bauer nahm seinen breitgeränderten Hut langsam ab und sagte:
»Nun habe ich ihn doch untergebracht, den Taugenichts, Dank Euch, Meister van Eyk! Hans hat von Euch geträumt Tag und Nacht und mir dabei Wände und Tische geschwärzt. Sonst habe ich nicht viel von ihm gehabt! Bei Euch wird er gut thun! – Aber, Hans, bedanke Dich zuerst bei Mafruw Vandermer.«
Die aber war längst fortgerannt, so schnell sie konnte und van Eyk ging langsam weiter, die Leute verliefen sich, der lange Hans verkaufte seine Gänse, der braunlockige Gesell allein stand regungslos mit gefalteten Händen da und wiederholte sich immer und immer wieder die Zauberworte:
»Hans Hemmling, willst Du mein Schüler werden?«
*
Die Zeit floß sanft weiter. – Hans Hemmling wohnte im Hause des Meisters Johannes van Eyk und war der fleißigste und geschickteste aller seiner Schüler. Der große Maler stand damals auf der Höhe seines Ruhmes. Er war erst seit wenigen Jahren von Gent zurückgekehrt nach Brügge; in ersterer Stadt hatte er im Verein mit seinem Hubertus und seiner Schwester Margarete, dieser hohen Künstlerin, eine Kapelle in der Johanneskirche gemalt. Der Tod zerriß grausam den schönsten Geschwisterbund, Margareta erkrankte kurz nach dem Beginn des Altarbildes und starb und Hubertus folgte ihr nach wenigen Monden. Den tiefen Kummer des Ueberlebenden linderte nur die heilige Kunst, die ja zu allen Zeiten ein unversiegbarer Trostquell für alle Schmerzen der Erde gewesen. Er lebte fortan nur schaffend und lehrend in Brügge, aber nur einer kleinen Anzahl von Schülern wurde die Segnung seiner Unterweisung zu Theil. Unter ihnen wurde Hans gar bald van Eyk's Liebling. Sein wunderbares Talent zur Miniaturmalerei entzückte den Meister. Der Jüngling machte riesenhafte Fortschritte und bald kannte man seinen Namen, und vornehme Kunstfreunde ließen sich die Blätter ihrer auf Pergament geschriebenen Gebetbücher von ihm verzieren. Endlich wurde es gar Mode, eine Blume oder Arabeske, eine Landschaft oder Heiligengestalt von Hans Hemmling gemalt zu besitzen, und weltliche wie geistliche Fürsten ließen sich ganze Gebetbücher von ihm ausmalen und bezahlten ihm, was er verlangte. Bescheiden nahm der junge Maler solche Auszeichnung hin, mit erhöhter Dankbarkeit sich seinem weisen und gütigen Lehrer zuwendend.
Da begab es sich eines Tages, als der Jüngling in der Liebenfrauenkirche kniete, daß dicht neben ihm ein junges Mägdlein sich betend niederwarf. Das Malerauge verfolgte mit Wohlgefallen die reinen Linien des kindlichen Profils, die weiche demüthige Neigung des Hauptes, die schönen Formen des Nackens und der Arme – und mit der inbrünstigen Andacht war's für diesmal vorbei. Hans Hemmling stand auf als das Mägdlein sich erhob, wandelte hinter ihr her aus der Kirche, folgte ihr durch viele Straßen wie im Traume und blieb mit ihr vor einem kleinen Hause stehen. Als sie den schweren Klopfer der Thür niederfallen ließ, da erst hob sie den Kopf und schaute voll und grade in Hans Hemmling's Gesicht. Es waren zwei blaue engelliebe Augen, die dem jungen Maler tief, tief ins Herz schauten. Und da blieben sie stehen wie zwei helle Sterne und strahlten ihn an Tag und Nacht, im Wachen und Traume. – In alle Engelsköpfchen, die fortan Hans Hemmling malte, stahlen sich diese Augen; die Ruhe seines Herzens war nun dahin für ewig. Wohl zu hundert Malen ging er an ihrem Hause vorüber, ohne mehr zu gewahren als die Spitze der schwarzsammetnen Haube, die das Mägdelein trug und ein Stückchen ihrer schweren blonden Flechten. Aber erste Liebe ist genügsam wie ein Kind, die unscheinbarsten Dinge beglücken sie: die Spur des zarten Fußes im Sande, der Saum des Gewandes, eine Bewegung der Hand, ein Seufzer, ein Blick, ein Erröthen, ein Lächeln, – das war so von Uralters her und wird immer so sein.
An den Sonntagen fortan sahen sich der Jüngling und das schöne Mädchen gewißlich. So grüßten sie sich denn eines Tages, und dann gab Hans Hemmling dem lieblichen Frauenbilde eine Strecke Weges das Geleit, und endlich redeten sie wenige Worte miteinander. – Beide waren anfangs so scheu und kindlich-zaghaft; nach und nach aber wurden sie muthiger und redeten länger, und so vernahm er denn von ihr, daß sie das einzige Töchterlein einer gichtkranken Wittwe sei, und die heftige und strenge Mutter ihr keinen andern Ausgang gestatte, als den zur sonntäglichen Messe. Sie müsse einsam leben Tag für Tag, sagte sie, und sähe gar selten ein menschlich Angesicht. – Und leise weinte sie, als sie so sprach. – O, wie da des jungen Malers Herz litt bei diesen Thränen! Er sah die schönste der Rosen unbewundert verblühen, welken, sterben, – und er faßte zur Stelle den Plan, um die Geliebte zu werben bei der strengen Mutter und sie so ihrem traurigen dunklen Leben zu entreißen. Würde die Mutter ihm ihr holdselig Töchterlein anverloben, so wollte er sich seinem Lehrer und Freunde entdecken, und der müßte helfen und rathen, meinte er. Von allen diesen Plänen sagte er aber der Geliebten kein einziges Wort.
Und als etwa ein halber Monat vergangen war und der Frühling eben die Augen aufschlug – da stand Hans Hemmling eines Sonntags Nachmittag vor dem wohlbekannten Hause und klopfte. Eine alte Magd öffnete und fragte nach seinem Begehr. Da fiel's ihm urplötzlich schwer auf die Seele, daß er nicht einmal den Namen des Mädchens wisse, das er zum Weibe begehren wollte, und er erröthete heiß und gab unverständliche Antwort. Die Schwerhörige aber achtete nicht darauf, sondern führte ihn durch das saubere kleine Vorhaus, die schmale teppichbelegte Treppe hinauf, klinkte eine Thür auf, und der junge Maler stand in einem gar zierlichen Gemach. Die holzgetäfelten Wände glänzten, ebenso auch das künstliche Schnitzwerk an den hohen Sesseln und die Messingknaufe und das Geländer am Kamin. Am blanken Fenster standen Scherben mit Tulipanen und Hyacinthen, und die Mädchenblume stand davor, erblaßte und fuhr mit der Hand nach dem laut pochenden Herzen, als sie den Geliebten erkannte. Am Kamin aber saß eine alte dicke Frau in großblumiger, bauschiger Damastrobe und weißer steifer Haube. Hans Hemmling trat verwirrt näher, legte gesenkten Blicks der Alten ein Päcklein auf den Schooß und sagte leise und bebend:
»Hier habe ich Euer holdseliges Töchterlein konterfeit, ich schenke es Euch – aber gebt nur dafür das lebende Kind zum Weibe!«
Die Frau erhob sich erstaunt, beugte sich vor, schrie laut auf und ließ das wunderfein gemalte getreue Bildniß des Mädchens auf den Boden fallen. – Entsetzt schlug jetzt der Maler die Hände vor sein Antlitz: er hatte Mafruw Vandermer erkannt. Zitternd vor Wuth trat sie ihm näher und eine Flut von Zornreden strömte von ihren Lippen. Weinend stürzte die Tochter zu ihr hin.
»O, Schande über Dich und Deine Buhlen, Ursula,« schrie die Alte gellend, »hast immer geredet von einem sittsamen Jüngling, hast mir erzählt von seinen sanften Augen und seinem edlen Wesen – und bringst mir den – den da ins Haus! Weißt Du denn, wer der ist? – 's ist jener verwegene Bauerjunge, der vor vier Jahren Deine ehrbare Mutter auf öffentlichem Markte vor allen Leuten beschimpft! – Und nun will er auch Dich beschimpfen; der freche Farbenkleckser, der Pinselmann, und freit um Dich! – Aber das soll ihm doch nicht glücken. Ursula Vandermer ist zu gut für eines Dammer Bauern Magd, und Ursula folgt keinem Manne, der einst ihre Mutter so schnöde verhöhnt! Ich sage Euch, hört wohl zu, sie wird nicht, sie darf nicht! – Denn wenn sie diese Worte vergessen sollte, so wird mein Fluch sie aus dem Grabe noch treffen. – Und da seht – seht – wie viel Eure gepriesene Kunst mir werth ist!«
Sie nahm die feine Holzplatte, auf deren dunklem Grunde leuchtend wie ein Engelbild die Gestalt des Mägdleins sich abhob, in braunem faltigen Gewande, den Rosenkranz in den Händen, den Blick gesenkt und das Goldhaar gelöst, und warf sie in das Feuer, wo sie prasselnd aufloderte und verging.
Da zuckte der Jüngling auf, warf stolz das Haupt empor, stürzte auf die Geliebte zu, umfaßte sie verzweifelt wie zum ewigen Scheiden, küßte ihre bleichen Wangen – und stürmte fort zum Hause hinaus.
*
Hans Hemmling kehrte nicht zurück in das Haus seines geliebten Lehrers. Man sah ihn seit jenem Tage nicht mehr in Brügge, er war und blieb verschwunden, umsonst forschte Johannes van Eyk in tiefer Trauer nach seinem Liebling. Niemand vermochte Kunde von dem Jüngling zu geben, und der große Meister beweinte ihn als einen Todten.
Die Zeit eilte weiter. Trübe wilde Jahre kamen, Jahre voll Kampf und Zwietracht, Noth und Krieg. Karl der Kühne zog mit ungeheurer Heeresmacht gegen die Schweizer, die Schlacht bei Murten wurde geschlagen, eine Schreckensscene verdrängte die andere, bis endlich nach der unglücklichen Schlacht von Nancy 1477 am 6. Januar der blutige Vorhang fiel. Die Schaaren des Fürsten wurden geschlagen und zerstreut, kranke krüppelhafte Gestalten irrten nun mitten im härtesten Winter von Land zu Land.
Da wankte auch an einem stürmischen Abend ein gebeugter lumpenumhüllter Krieger durch das Thor von Brügge. Aber nur wenige Schritte trugen ihn noch seine Füße, von Hunger und Kälte erschöpft stürzte er ohnmächtig zusammen. Gutmüthige Bürger hoben ihn auf und schleppten ihn in das naheliegende St. Johannishospital zu den barmherzigen Schwestern. Sanfte Hände nahmen ihn in Empfang, sanfte Augen schauten ihn an. Als man ihn aber in den großen Krankensaal brachte, sank eine der unermüdlichsten jener stillen Gestalten, die dienstthuende Schwester Ursula, plötzlich bewußtlos zusammen. Nach einem geheimen Gespräch mit der Oberin hatte man ihr jedoch bald nachher die Pflege des Schwerkranken allein übertragen.
Ja krank, sehr krank war der Fremde; viele Tage lang lag er ohne Besinnung, dann kam eine Periode heftigster Seelen- und Körperschmerzen, wo er wild aufschrie und sein Leben verwünschte; aber da sprach eine wunderliebe Stimme besänftigend ihm zu, und ein bleiches mildes Angesicht neigte sich mit zärtlichem Lächeln über ihn. Dann kam eine wunderbare Ruhe über ihn, seine Stimme wurde weich, und er begann zu reden von blauen Engelsaugen, nannte längst verschollene Namen und hielt Zwiegespräche mit dem todten Meister van Eyk und der schönen Ursula Vandermer. Als aber endlich nach vielen Wochen des Leidens und der Gefahr des Kranken Sinn klar geworden, da feierten zwei Menschenherzen eine jener seligen Minuten, an denen die lieben Engel im Himmel ihre Freude haben: Hans Hemmling und die getreue Ursula erkannten sich wieder! Wohl waren sie beide alt geworden, aber ihre Herzen waren jung geblieben, und aus beider Augen schaute noch die Jugendliebe wie ein Stück Frühling. Und diese Liebe that jetzt noch größere Wunder als damals: der Kranke erstarkte von Tag zu Tage und konnte bald wieder sich aufrichten von seinem Schmerzenslager. Da verlangte er Pergament, Farben und Pinsel und malte in wunderfeiner Weise auf matten Goldgrund ein Blatt für das Gebetbuch seiner frommen Pflegerin. Vögel und Blumen, Arabesken und liebliche Engelsköpfe waren sinnig mit einander verflochten und verwebt, und die Farbenpracht der zarten Malerei war zauberhaft. Das Blatt ging von Hand zu Hand, wanderte von einem zu dem anderen, zu hoch und niedrig, und mit frohem Staunen, mit dankbarer Freude erkannten die Bewohner Brügge's an der Art der kunstvollen Malerei ihren unvergeßlichen, vielbetrauerten Hans Hemmling wieder. Da gab es großen Jubel, man drängte sich danach, ihn zu sehen, die angesehensten Bürger boten ihm eine Freistatt an in ihrem Hause, vielfache Bestellungen zu größeren und kleineren Malereien kamen für den berühmten Meister. Der aber lehnte alles ab und blieb im St. Johannishospital, allwo er seines Herzens erste heiße Liebe, um deretwillen er sich in das wüste Kriegerleben gestürzt, wiedergefunden. Aus Dankbarkeit für das friedvolle Asyl der Geliebten, in das sie sich noch vor dem Tode der Mutter geflüchtet, schmückte er die heiligste Reliquie des Klosters, jenen Schrein, der die Gebeine der heiligen Ursula umschloß, mit vierzehn der prachtvollsten Miniaturgemälde. Jene Heilige war nämlich der Sage nach eine junge wunderschöne Prinzessin, die mit zehntausend edeln Jungfrauen nach Köln zog, um daselbst den Märtyrertod zu Ehren ihrer heiligen Religion unter dem wilden Christenverfolger Maximian zu erleiden.
Der Reliquienkasten der St. Ursula, der die Form einer kleinen Kirche, sogenannten Basilika hat, ist noch heutigen Tages der Stolz Brügge's und durch die Hemmling'schen Malereien eines der hochberühmtesten Kunstwerke der Welt. Johanna Schoppenhauer in ihrem Werke: »Johann van Eyk und seine Nachfolger«, schildert diese Gemälde als Weltwunder von Schönheit und Farbenpracht, und mit Recht. Alle Bilder beziehen sich auf die Geschichte der Heiligen, und eines der Giebelfelder trägt ihr Bildniß. Engelhaft schön und hoch erscheint sie da in ihrem ausgebreiteten Mantel, die fromme Königstochter, reizendes Weib und Heilige zugleich. Ihre Augen aber gleichen jenen blauen, sanft schimmernden Sternen, deren Licht nun einmal alle Schöpfungen des Meisters verklärte. Das zweite Giebelfeld zeigt die hehre Himmelskönigin Maria mit dem göttlichen Kinde. Ihr zu Füßen kniet eine schlanke, demüthige Nonnengestalt: es ist Ursula, die Jugendgeliebte, ein bleiches, vergeistigtes Angesicht, auf dessen Wangen schon die weißen Rosenknospen himmlischen Friedens stehen. – Und die Engel pflückten sie bald, diese Rosen. Ursula's stilles Leben erlosch, nachdem ihr langes demüthiges Hoffen Erfüllung gefunden und sie den Geliebten noch einmal gesehen. Die Ausschmückung des Ursulaschreins war noch ihre letzte Freude. Mit hohem Entzücken verfolgte sie jeden Pinselstrich, und als sie so schwach wurde, daß sie sich nicht mehr aufzurichten vermochte von ihrem Lager, malte Hemmling in ihrem Krankenzimmer. Das letzte der vier Medaillons, in welchen liebreizende Engel mit Saitenspiel die Heilige feiern, war vollendet, da hauchte die frömmste aller Schwestern, die sanfte stille Ursula ihre reine liebende Seele aus.
Den tiefgebeugten Meister Hemmling litt es aber ferner nicht mehr in Brügge; er vollendete nur noch die beiden begonnenen Altarbilder für die Klosterkirche und zog dann, lebensmüde, nach Löwen. Hier lebte er mehrere Jahre wie ein Einsiedler und malte jene kostbaren größeren und kleineren Bilder, die man leider nur einzeln zerstreut in wenigen öffentlichen Gallerien und meistens in Privatsammlungen findet. Als im Jahre 1497 der junge Philipp von Spanien bei seiner Huldigung als Herzog von Brabant auch nach Löwen kam, hörte er von der großen Kunst des menschenscheuen Meisters und suchte ihn auf. Entzückt von seinen Werken, bat Philipp den Maler, ihn nach Spanien zu begleiten, und Hemmling ließ sich auch nach langem Sträuben wirklich von ihm entführen. Dort aber in dem Lande der Granatbäume und Pinien, unter dem glühenden Himmel Hispaniens, trieb ihn unendliches Heimweh und sein müdes Herz in das Karthäuserkloster von Miraflores. Er fand dort Frieden! Sein Grab liegt mitten unter den Ruhestätten der stummen Brüder des ernsten Ordens, und die hohen Oelbäume des Klostergartens rauschen dem Fremdlinge sanfte Wiegenlieder aus der fernen Heimath!