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Die beiden Marien.

» O sanctissima,
O piissima
Dulcis virgo Maria.
«

Altlateinisches Marienlied.

 

In dem kleinen Hause des Jacob Cornelis in Amsterdam, des wohl angesehenen Meisters in der Kunst der Malerei und Holzschnitzerei, auch unter dem Namen Jan Walter van Assen bekannt, sah man am ersten Maitage des Jahres 1514 lauter traurige Gesichter. Draußen lachte der Frühling, sangen die Vögel, die jungen Blätter der Linde im engen Hofe schwankten im sanften Winde hin und her, die muntern Sonnenstrahlen liefen durch alle Winkel: nur Augen und Herzen vermochten sie nicht zu erhellen, so viel Mühe sie sich auch darum hätten geben wollen.

Der Lieblingsschüler des wackeren Meisters, der junge Johannes van Schorel, hatte nach langem Zaudern nun doch endlich sein Bündel geschnürt zur Wanderung in die weite Welt, und dies Scheiden war's, das wie eine schwere Wolke über dem Hause des Jacob Cornelis hing. Es war dazumal der Brauch bei allen Malern, die es recht und ehrlich meinten mit ihrer herrlichen Kunst, hinauszupilgern, um Schönes zu schauen, die Heimat zu verlassen, um bei allerlei fremden Meistern eine Lehrzeit auszuhalten, und so von jedem sich möglichst eben das anzueignen, weshalb derselbe von seinen Zeitgenossen besonders belobt wurde. Der junge Schorel wollte nicht nur die Niederlande durchziehen, er gedachte sogar über Cöln und Speier dereinst vielleicht nach Nürnberg zu wandern, wo der hochberühmte Meister Albrecht Dürer wie eine helle Sonne am Himmel stand. Diese geheiligte Malerwerkstatt sollte das Endziel seiner Wanderung sein.

Der würdige Jacob Cornelis sah den kaum neunzehnjährigen Jüngling mit bewegtem Herzen scheiden, obgleich er selbst ihn immer ermunterte die große Pilgerfahrt zu wagen; war der sanfte Johannes doch nun schon Jahre lang sein fleißigster, achtsamster Schüler, der ihm das Lehren zur Freude machte. Eine wahre Herzensbewunderung hegte er vor dem mächtigen Talente seines Lieblings, das langsam, aber immer gewaltiger die Schwingen zu regen begann zum kühnsten Fluge, der Sonne der Vollendung entgegen. Wie oft weilte er mit dem innigsten Behagen vor der Staffelei, wenn sein Schüler sie eben verlassen, und weidete sein Künstlerauge an der wundervollen Feinheit und Frische der Landschaft, an der zarten und doch so leuchtenden Ausführung der Pflanzen und Kräuter, mit deren Darstellung Johannes van Schorel sich jetzt noch vorzugsweise beschäftigte. – »Nehmt mir meinen Hans warm auf, lieber Meister Jan,« schrieb Cornelis an den Jan Mabuse, »und glaubt mir, es steckt ein großer Maler in ihm!«

Johannes trug dies Schreiben als Schutz- und Geleitsbrief auf der Brust, und sollte es dann selber dem großen Meister überbringen, der dazumal in Diensten des Bischofs Philipp von Burgund in Utrecht lebte. Cornelis hatte viel geseufzt, als er diesen Brief niederschrieb, der Jüngling war ihm ans Herz gewachsen wie ein Sohn, wie er sich denn allerwegen Liebe zu erwerben verstand, durch sein bescheidnes Wesen, seinen fröhlichen Sinn und sein schönes, helles Angesicht, an dessen Wangen blonde Locken niederhingen, seltsam abstechend gegen den Schmuck der dunkeln, ernsten Augen.

In der stillen Werkstatt des Jacob Cornelis war für einen Johannes van Schorel nicht mehr viel zu lernen, so meinte der würdige Meister selbst; sein Schüler mußte auch beseelte Gestalten schaffen und warmes Fleisch malen lernen. Das eben konnte ihm niemand besser lehren als der wilde Jan Mabuse, der ja wegen der vortrefflichen Behandlung des Nackten überall gepriesen ward. Dem alten Cornelis ging ordentlich das Herz in Sehnsucht auf nach all den Herrlichkeiten, die sich nun den Augen seines jungen Schülers erschließen sollten, und er wäre gar zu gern selber mitgezogen. Aber an solch eine wundervolle Künstlerfahrt war ja nie mehr zu denken; was hätte denn aus seinem einzigen, spät nachgebornen Töchterlein werden sollen, der just zwölfjährigen Maria, der holdseligen Hinterlassenschaft seines verstorbenen Weibes? Nein, dieses Kind konnte er nicht verlassen und wenn Albrecht Dürer selbst von Nürnberg gekommen wäre, ihn abzuholen. Die Kleine würde ja auch solche Trennung vom Vater nicht ertragen haben. Die älteren Geschwister waren alle verheiratet und weggezogen, sie allein noch übrig. Deshalb waren die beiden, Vater und Töchterlein, auch so eng miteinander verwachsen und an einander gewöhnt wie der Epheu an die Eiche im Walde, wie der Fisch an die kühlende Welle, wie die Erde an die Sonne; und dem alten Cornelis wollte es bedünken, als sei sein Töchterlein ihm frische Epheuranke, kühlende plaudernde Welle, köstlicher warmer Sonnenschein zugleich.

Wenn er in seinem großen stillen Gemach saß, emsig beschäftigt jene wunderbar schönen Reliefs und Figuren aus weichem Holz zu schneiden, die seinen Ruhm weiter ins Land trugen, als seine Bilder es vermochten, so saß die kleine Maria zu seinen Füßen, lachend und lieblich scherzend; und wenn er dann die müden Augen aufhob und sein Kind anschaute, da mochte es ihm wohl zu Muthe sein wie einem, der Tage lang durch heiße Sonnenglut wandert und plötzlich im Schatten eines kühlen Waldes einen blühenden Rosenstrauch am Rande einer Quelle nicken sieht.

Eine Rosenknospe war sie auch, die blonde Maria mit ihren sammetweichen runden Kinderwangen, den holden, rothen Lippen und strahlenden blauen Augen, und niemand sah das deutlicher als eben jener Lieblingsschüler des Meisters, Johannes van Schorel, der mit ihm in einer Werkstatt arbeiten durfte. Wohl hundert Mal blinzelte er hinter der Staffelei nach ihr hin, nickte auch wohl dann und wann einmal verstohlen, oder lächelte zu ihrem Geplauder. In seiner Arbeit ließ er sich deshalb aber nicht einen Augenblick stören, redete auch niemals ein Wörtchen mit ihr, so schalkhaft sie ihn auch oft herausforderte.

Waren aber die Arbeitsstunden vorüber, dann wurde der große Johannes der Spielgefährte der kleinen Maria, dann trieben sie so viel tollen Scherz und Kurzweil miteinander, daß Jacob Cornelis manchmal ernstlich Ruhe gebieten mußte. Er half ihr die Gelbveigelein und den Rosmarin vor dem Fenster begießen, er fütterte den zahmen Staar und den kleinen Hund, er kletterte mit ihr auf die Linde im Hofe, die ihre Zweige fast bis auf den Boden senkte, und war erfinderisch in tausend Possen zum hohen Ergötzen des blonden Kindes. Niemand hätte wohl in diesem kindischen Gesellen den jungen Maler wieder erkannt, der vor der Staffelei stehend mit so wunderbar ernsten Augen darein schaute.

Wie sehr nun aber Maria an diesem treuen Spielgefährten hing, das zeigten jetzt, am Tage des Scheidens, ihre rothgeschwollenen verweinten Augen. Den ganzen Tag hatte sie schluchzend im Winkel gesessen und mit ihren Blicken jede Bewegung des jungen Johannes verfolgt; und wie er sich denn endlich, selber blaß und voll Herzeleid, zum Abschied zu ihr niederbeugte, da schlang sie in bitterem Weh beide Arme um seinen Hals und bat ihn mit rührenden Worten und heißen Thränen doch bald, recht bald wieder heimzukehren zu ihr.

»Ich schenkte Euch gern meinen Rosmarinstrauch zum Andenken,« flüsterte sie mit halberstickter Stimme, »aber der Vater sagt, Ihr könntet ihn nicht wohl brauchen auf der langen Reise. Da wollte ich Euch den Staar mitgeben, aber der fliegt Euch auch nur davon, und da müßtet Ihr am Ende gar nachlaufen und kämt immer weiter fort von mir, da will ich den Vogel lieber behalten. Aber da habe ich etwas andres gefunden, was Ihr mitnehmen müßt zum Andenken, seht hier ist's, ich hab's allezeit so gern getragen, die selige Base schenkte es mir!«

Und damit löste sie ein feines silbernes Kettchen von ihrem schneeweißen Halse, daran hing ein Herz aus rothem Stein, gar künstlich geschnitten. »Nun nehmt's und tragt es Tag und Nacht, und wenn Ihr mirs wieder heimbringt und mirs nur von ferne zeigt, so werde ich Euch gleich an den Hals fliegen, denn dann weiß ich, daß Ihr meiner allezeit gedacht und mein Geschenk wohl behütet habt.«

Da fielen schwere Thränentropfen aus den Augen des Scheidenden auf das Haupt des Kindes, und er sagte, indem er die Kette an seiner Brust verbarg: »Dies Herze soll mein Trost sein und meine Leuchte in der Trennungszeit von Euch, Maria. Und heim bring ichs Euch wieder und – noch ein andres dazu!«

»An einer dicken, goldnen Kelte – nicht wahr? O, die habe ich mir schon lange gewünscht.«

»Sie weiß nicht, daß sie selbst die Kette ist, an welcher dies zweite Herz hängt, das ich wieder heimbringen will, mein eignes!« flüsterte Johannes van Schorel dem alten Cornelis zu. »Lieber Meister, werdet Ihr denn Euer Töchterlein hüten für mich, bis ich wiederkomme und dies Röslein da von Euch begehre als mein eheliches Weib? Ich will ja nicht eher wiederkehren, als bis ich würdig geworden bin, um das Kind des Jacob Cornelis zu freien!«

»Was nützt Euch mein Wort, sie gab Euch ja ihr Herzchen,« lächelte Cornelis, »und das ist besser als jegliches Gelöbniß aus Vatersmund. Wir müssen sie gewähren lassen. Bleibt aber nicht allzulange, damit sie nicht müde wird sich zu sehnen nach Euch! Geht die Sehnsucht heim, schleicht die Liebe nach!«

Noch manches Wort ward hin und wieder geredet; dann bot der Meister dem Schüler die Hand, die kleine Maria hing sich an seinen Mantel – wenige Minuten später war alles geschehen; Johannes van Schorel hatte das Haus seines wackeren Lehrherrn verlassen und wanderte einsam auf der Straße nach Utrecht dahin. An diesem Tage vergaß Maria zum ersten Mal ihre Blumen und den Staar und den kleinen Hund; sie starben und verdarben beinah insgesammt vor eitel Hunger und Durst.

 

Johannes van Schorel aber zog seinem Ziele entgegen. In Utrecht nahm ihn Jan Mabuse sehr freundlich auf und unterwies ihn liebevoll. Fast zwei Jahre lang arbeitete er bei ihm; dann trieb es ihn fort, denn der reine Sinn des Jünglings erschrak vor dem wüsten Leben, das der große Meister führte. Zechgelage und Raufereien füllten die Hälfte seiner Tage aus; sein liebster Umgang waren rohe Gesellen, deren Kehlen und Arme nimmer ermüdeten. Der junge Johannes nahm denn auch endlich bekümmerten Herzens Abschied von dem wilden Jan Mabuse und zog über Cöln nach Speier, Straßburg und Basel, und endlich nach Nürnberg, das ihm wie ein herrlicher Stern entgegenleuchtete.

In allen diesen Städten suchte er, wie das damaliger fahrender Künstler Brauch war, die Gildehäuser der Maler auf, sprach bei allen bekannten Meistern ein und bat um die Vergunst, in ihren Malerwerkstätten arbeiten zu dürfen. Und da war keiner, der diesem schlanken, schönen Jüngling die Thüre verschlossen hätte; jeder, der seinen Fleiß und Eifer und die seltene Schönheit seiner Arbeit sah, mühte sich ihm weiter zu helfen in Rath und That. Auch der herrliche Albrecht Dürer fand großes Wohlgefallen an ihm und behandelte ihn wie einen lieben Sohn. Johannes fühlte auch eine unbegrenzte Ehrfurcht und Zuneigung für den hohen Meister, der sein schweres häusliches Leid, das ein böses, keifendes Weib über ihn verhängte, so stolz und schweigend wie ein Märtyrer trug. Gewiß wäre der Jüngling recht lange, lange in seiner Werkstatt geblieben, wo ihm nie geschaute Herrlichkeiten aufgingen und er in einem Tage mehr Erfahrungen sammelte und lernte als auf seiner ganzen Reise zuvor, wenn nicht Eines ihn unablässig gepeinigt und geängstigt hätte: die Hinneigung Albrecht Dürers nämlich zu den neuen Lehren des wunderbaren Mönches von Wittenberg, namens Martin Luther.

Die heißen Religionskämpfe draußen fanden ihren Widerhall in der sonst so stillen Malerwerkstatt, und bei all dem heftigen Hin- und Widerreden wurde das für seinen Glauben so hochbegeisterte Herz des jungen Johannes schwer und betrübt. Die Strahlen des neuen Lichts blendeten ihn, seine Seele nannte jenen plötzlich aufsteigenden Glanz ein trügerisches Irrlicht. Mit doppelter Inbrunst suchten seine Blicke die sanftverklärten Heiligengestalten seiner Märtyrer, den milden himmlischen Schein der hohen Gottesmutter Maria. Es war ihm, als wolle man ihm diese Himmelsgestalten rauben, als griffen frevelnde Hände nach der Krone der Gottesmutter, nach dem Heiligenscheine der frommen Fürbitter. Gedanken und Sorgen standen in ihm auf, wie sie ihn nie zuvor gequält, und so kam es, daß er zuletzt den edlen Meister Albrecht flehentlich bat ihn zu entlassen und sich bereitete, zurückzuwandern in die Heimat.

Aber Albrecht Dürer wollte von der Heimreise noch nichts hören. »Wenn Euch das eifrige Hin- und Widerreden über die Fragen der heiligen Religion und den Wittenberger Propheten in meiner Werkstatt ängstigt nun gut, so mögt Ihr heimziehen, wenngleich ich Euch noch gerne bei mir behielte. Ich wüßte aber auch noch eine andere Arbeit für Euch, die Euch sicher nicht gereuen sollte. Ein reicher Edelmann, dessen Güter in dem schönen Ungarlande dicht an der Grenze belegen, hat mich bitten lassen, ihm einen geschickten jungen Maler zu senden, der ihm helfe eine Sammlung guter Bilder, die ihm sein verstorbener Bruder aus Rom vererbt, zu ordnen und nachzusehen. Ich kann ihm keine bessere Hand zuweisen, als die eure, lieber Johannes, und dabei ist solches Säubern und Herstellen eine gar nützliche Arbeit, bei welcher sich viel lernen läßt. Wer weiß auch wie viel Schönes Euch erscheint: vielleicht besaß der Verstorbene gar einen köstlichen Bellini oder – o wie ich Euch da beneiden würde! – einen Raphael, einen Michel Angelo! Also seht nur zu und säumt nicht! Habt Ihr diese Arbeit vollendet, dann ists immer noch Zeit genug zur Heimfahrt.«

Da that Johannes van Schorel, wie ihm der Meister gerathen, schnürte sein Bündel und wanderte mit einem Geleitsbrief Albrecht Dürers getrost der ungarischen Grenze zu. Damals standen nun freilich noch keine Wegweiser an den Landstraßen, und in den großen Wäldern begegnete man wohl neugierigen Rehen, auch Hirschen und schnaubenden Ebern, aber keinem Waldhüter, der den irrenden Wandrer zurecht wies. So kam es denn, daß der Jüngling hin und her streifte und das Schloß, das er suchte, nicht zu finden vermochte. Städte und Hütten zogen an ihm vorüber, durch große und kleinere Waldungen, thalauf-, thalabwärts trugen ihn seine Füße, unermüdlich.

Es war in einem ungeheuren Walde, wo ihn einst wiederum der Abend überraschte. Müde und matt schlich er vorwärts. Eine Sehnsucht nach Menschen überkam ihn, die ihn fast in Thränen ausbrechen ließ. Das Bild seiner süßen, kleinen Maria tauchte vor ihm auf, lächelnd und nickend. – O wer doch daheim wäre im hohen, kühlen Gemach mit den spitzbogigen Fenstern und deren runden Scheiben, durch welche man die Lindenblätter im Hofe tanzen sah! Wer sie doch jetzt mit leiblichen Augen hätte schauen dürfen, die ernste Gestalt des greisen Meisters, wie er über seinen Arbeitstisch gebeugt saß und eben die großen Augen zu dem Kinde wendete, das mit dem Vogel auf den Fingern neben ihm stand. – Dem Kinde? – Ob sie nicht längst zur holden Jungfrau erblüht war? Wie schlank, holdselig und züchtig mochte sie wohl den Augen des Jünglings erscheinen, der jetzt wahrscheinlich an seiner Stelle in Cornelis Werkstatt arbeitete? Waren nicht Jahre ins Land gegangen seit er die Stadt Amsterdam verlassen? – Inbrünstig küßte er das kleine Herz an dem silbernen Kettchen.

Da zogen leise Klänge eines Saitenspiels wie laut gewordner Duft daher, und als er aufhorchend vorwärts schritt, schimmerte aus weiter Ferne der Schein eines Lichts durch die grüne Waldesnacht. Wie halb im Traume folgte er dem Strahl und den Tönen, und siehe – ein lebendiges Bild stand plötzlich nach einer Biegung des schmalen Waldpfades vor seinen Augen. Ein hohes Schloß, umgeben von stolzen Bäumen spiegelte seine feinen, altersgrauen Thürme in einem kleinen, klaren, wunderbar stillen Waldsee. Mit Mühe fand der junge Maler den versteckten Weg um den See und gerieth endlich nach manchem Irregehen in einen geraden Baumgang, der auf das Schloß auslief. Unten in der offenen Halle, die schon in der Dämmerung lag, glänzte das Licht einer Fackel. Das Saitenspiel war längst verstummt, tiefes Schweigen herrschte, kein Hundegebell wurde laut bei den Tritten des Fremden, kein Lärm müßiger Diener; zauberische Ruhe ringsumher. Süße Düfte wallten wie stummer Willkommensgruß ihm entgegen, Rosen und Orangen blühten auf der Terrasse und um die Säulen der Halle hingen Weinranken. Fremde Blumen blühten an den Wegen; es war ihm seltsam zu Sinn, als er eben so weiter ging. Aber das schönste Wunder kam noch. In der offnen Halle, beleuchtet von dem röthlichen Scheine der Fackel, wandelte ein herrliches Frauenbild langsam und stolz auf und nieder wie eine Königin. Kostbare Gewänder flossen ihr zu den Füßen nieder in schweren Falten, das Obergewand war an der Seite leicht gehoben und mit goldner Spange gehalten. Das kleine Sammettäschchen mit goldenem Bügel und schwerer Kette berührte fast den Boden. Vom feinsten Linnen schloß das zierlich gefältelte Unterkleid am Halse. Das Haupt, etwas gebeugt wie von der Last der reichen braunen Flechten, zierte ein frischer Blumenkranz.

Johannes van Schorel stand still, in Staunen und Schauen verloren. Eine süße Lähmung kam über ihn. Wünschte er noch so heiß, wie kurz zuvor, daheim zu sein in dem stillen Gemach des Meisters Jacob Cornelis? – Nach einer Weile trafen ihn zwei wunderschöne, dunkle Augen: die volle Schönheit eines jugendlichen Frauenangesichts ging vor ihm auf; die herrliche Gestalt blieb stehen und eine sanfte Stimme fragte nach seinem Begehr. – Zugleich trat ein alter Diener hinzu und wiederholte die Frage.

»Wo bin ich, auf wessen Besitz und Boden?« fragte der Jüngling dagegen. Der Name des Schloßherrn aber, den der Alte ihm nannte, war just der jenes Edelmanns, zu dem ihn Dürer gesandt, wie auch die Aufschrift des Dürer'schen Geleitsbriefes bestätigte. Da war denn bald alles wohl geordnet und der stattliche Schloßherr begrüßte den Boten des hochgefeierten Meisters gar freundlich. Lächelnd und erröthend sah aber seine Tochter Maria zu dem Jüngling hinüber; war er doch der erste Maler, den sie je im Leben erblickte, und sie hatte immer so gern erzählen hören von dem wunderlichen Völkchen der Maler. Freilich so jung und blühend waren ihr jene Meister nicht erschienen im Geiste, von denen ihr der Vater und der verstorbene Oheim so oft geredet hatten, aber sie war ganz zufrieden mit den blonden Locken und blauen Augen. So recht wollte sie aber doch noch nicht an seine Meisterschaft glauben, bis er ihr einmal in einer einzigen Stunde einen Rosenstrauß gemalt, dessen Duft sie ordentlich zu athmen glaubte, und dann auch das Schloß mit seinen spitzen Fenstern und feinen Thürmen, wie es ernst und still in den klaren See schaute. Sie schaute ihm mir zurückgehaltenem Athem dann und wann über die Schulter, wenn er mit dem Pinsel so scheinbar ohne Wahl und Regel über das Malertuch fuhr, und endlich bat sie ihn so wunderbar süß und eindringlich, ihr diese herrliche Kunst auch zu lehren, daß er lächelnd nachgab.

Aber das war eine schwerere Arbeit, als die Kisten aus Italien auszupacken und Bilder zu säubern. Schwerer nicht etwa, weil die schöne Maria in ihrem glühenden Eifer gar seltsame Wege nahm mit ihrem Pinsel, in den Farben gewaltig wüstete, ihr kostbares Atlasgewand mit allerlei Strichen und Flecken verzierte, sondern weil man unmöglich so ruhig zuschauen konnte, wie die prächtigste Gestalt der Welt sich da so dicht vor seinen Augen hin und her bewegte, wie das holdseligste Angesicht lächelte und blühte wie eine Blume, nach der man nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu erreichen. Eines Raphaels Pinsel wäre würdig gewesen dies Bild festzuhalten. Wie sie da stand, diese königliche Mädchengestalt mit dem stolzen Nacken, das köstliche Haupt im Schmuck des frischen Kranzes! Die Maleraugen schlossen es auch gleich in den Heiligenschrein des Künstlerherzens, nur um es alle Tage zu beschauen und anzubeten. Madonnenhaft waren die Linien des reinen Profils, irdisch nur die warmen köstlichen Farben; die Formen des Kopfes, des Nackens, der Schultern, der Arme und Hände hätten wohl selbst einer Himmelskönigin zum Schmucke gereicht.

Johannes van Schorel blieb also im Schlosse am stillen Waldsee; Tage und Wochen vergingen, er vergaß sie zu zählen. Es war ihm zu Muthe wie einem, der träumend im kühlen Walde liegt, über dessen Haupt die Vögel singend dahinziehen und der Waldduft die süßen Wellen zusammenschlägt. Mit der Arbeit wollte es nicht viel werden. Er kramte zwar in der frühen Morgenstunde in den italienischen Kisten, zog ein oder das andre gefangen gehaltene Bild ans helle Tageslicht, säuberte und putzte, fand manches Schöne und Tüchtige, im ganzen nahm er sich jedoch gewaltig viel Zeit. Es trieb ihn auch niemand. Der Schloßherr fand großes Wohlgefallen an seinem sinnigen Wesen und Reden, und hielt allabendlich beim würzigen Nachttrunke in der Halle lange Zwiesprach mit dem Maler, reichte ihm auch allezeit recht warm die Hand zur »Guten Nacht«. Seine Tochter saß bei solchen Gesprächen immer ernst lauschend dabei, dann und wann wie im Traume mit den Fingern die Laute auf ihren Knieen berührend.

So verging ein Tag wie der andre. Johannes van Schorel schien die Welt da draußen zu vergessen. Aber etwas war doch da, das ihn erinnerte an die ferne Heimat, das ihn aufschreckte aus der süßen Ruhe: die Gestalt der kleinen Maria Cornelis. Neugierig drängte sich ihr blondes Köpfchen oft zwischen ihn und die Staffelei, erschien im Hintergrunde des Gemachs, wo ihn die junge Schloßherrin in der süßen Sprache Welschlands unterwies, die sie von ihrer heimgegangenen Mutter erlernt hatte. Zuweilen hob die Niederländerin auch den kleinen Finger auf wie drohend und lief dann fort, wie das wohl sonst im neckischen Spiel ihre Art gewesen, und drängte sich so nah an ihre stolze Namensschwester, daß Johannes van Schorel oft meinte, ihr rothes Kleid habe das Atlasgewand der Schloßherrin berührt.

Das Bildniß des Edelmanns hatte er begonnen und vollendet und es war ein gar köstliches Werk geworden, welches Vater und Tochter nicht genug preisen zu können vermeinten. »Meister Cornelis würde mit mir zufrieden sein,« sagte Johannes zu sich selbst, als er das lebendige warme Conterfei betrachtete.

»Malt nun auch mein Kind!« sagte der Schloßherr. Am andern Tage wurde die Staffelei aufgestellt; der Edelmann führte seine Tochter herein; sie saß nieder auf einem sammetnen hohen Kissen, in ihrem langen weißen Atlaskleide, den frischen Kranz im Haare, die Laute auf den Knieen. »So malt mich!« sagte sie wunderhold lächelnd und wandte plötzlich dem Maler, der jetzt erst hinter seiner Staffelei vortrat, die ganze Pracht ihrer Schönheit zu.

Da erbleichte Johannes van Schorel. Ein Zittern überfiel ihn – noch einen Blick wagte er, dann warf er die Pinsel zur Erde und schlug mit einem Wehruf die Hände vor das Angesicht. Erschrocken näherte sich ihm der Schloßherr; Maria erhob sich bebend.

»Was fehlt Euch?« fragte sie.

»Alles, alles!« rief er schmerzlich aus und sah sie wieder an. »Ich weiß ja jetzt, daß ich ein Stümper bin, ich weiß, daß mir der Tempel des Licht- und Farbengeheimnisses noch fest verschlossen ist. Ich kann Euer Angesicht nicht malen! – Vielleicht kann es auch ein Albrecht Dürer nicht! Der Pinsel, der sich an solche Tinten wagen wollte, müßte mit flüssigem Golde und Rosenglanz malen. Und ich wollte so vermessen sein? O, über den verblendeten Schüler!«

Bitter und wild lachend stürmte er hinaus. Lange irrte er im Walde umher, es war ihm zu Muthe, als habe er süß geträumt, er sei ein Meister, und sei nun erwacht als Farbenreiber, der neugierig die Staffelei eines Künstlers beschaut. Eine beklemmende Angst legte sich auf seine Brust und eine unsägliche Traurigkeit. »Geh' heim, armer Johannes,« sagte er sich, »bettle um Aufnahme vor Deines alten Meisters Thür und beginne Deine Lehrzeit von neuem! Oder besser – lerne ein Handwerk und vergiß Deine tollkühnen Träume!« Erst in der Dämmerung schlich er auf Umwegen ins Schloß zurück und erreichte sein Gemach.

Nach einer schlaflosen Nacht stand sein Entschluß fest; am nächsten Morgen wollte er die letzten Bilder aus der letzten Kiste nehmen, und am Abend – scheiden und heimwärts wandern und nicht eher Rast halten, als in der stillen Werkstatt des Jacob Cornelis zu Amsterdam. Mit schwerem Herzen und wirren Gedanken war er bis zur letzten Tafel gekommen. Sie war besonders vorsichtig verpackt, er löste auch langsam und vorsichtig die Hülle: es schien ein unlängst gemaltes Bild. Aber Himmel! welch' eine Farbenpracht strahlte ihm entgegen, welch' ein Licht! War dieser glühende, blühende Frauenkopf mit den flammenden Augen und frischen Lippen wirklich nur ein gemaltes Bild? Wie betäubt starrte der Jüngling auf diese nie geahnte Herrlichkeit, auf dies Meer von Gold und Glut. Welch' eine Verklärung des Fleisches! Wo blieb neben dieser Schöpfung die Wärme eines Mabuse – wie grau waren gegen diesen Farbenton die Bilder eines Albrecht Dürer! Wie ein zündender Blitzstrahl fiel es in sein Herz, wie eine goldene Krone, die noch zu erringen, blitzte es ihm entgegen. Dieser, nur dieser Meister konnte ihm lehren die wunderschöne Maria zu malen. Aber wer war es, wo lebte er? Mit zitternder Hand wendete Johannes van Schorel die Tafel um; auf der Rückseite stand der Name: Vercelli Tiziano.

Am Abend standen zwei Gestalten an dem stillen, tiefen See und reichten sich die Hände zum Scheiden, zwei schöne junge Gestalten, und die Sterne blinkten darüber. Johannes van Schorel nahm Abschied. Er hatte der herrlichen Maria alles gestanden, sie wußte nun, daß ihn ein Gelöbniß an das Töchterlein seines Meisters band, sie wußte, daß er dieses Gelöbniß zu erfüllen gedachte und wenn ihm auch das Herz darüber in Stücken bräche, sie allein wußte, daß er nimmer wiederkehren könne, wenn er jetzt ging, und daß sie sterben würde um ihn. Der Schloßherr ahnte nichts von diesem harten trostlosen Scheiden. »Nun so ziehet hin zu Eurem Meister Tizian und lernt malen wie er,« halte er gesagt, »ob Ihr zwar wahrlich schon geschickt genug seid, um immerdar hier bei mir zu bleiben; aber Ihr wollt es nun einmal so. Fern bleibe Euch die Reue! Ich hätte Euch nimmer vertrieben! Daran denkt und kehrt lieber bei Zeiten wieder um!«

Ach! er durfte nicht auf diese lockenden Worte hören!

»Also kommt wieder, wenn Ihr genug des Goldes habt in Eurem Pinsel und malt mir mein Kind!«

»Sie soll mein Meisterstück werden, wie sie des Herrn Meisterwerk ist!« antwortete Johannes.

Und am Abend, am Ufer des Sees, fragte eine bebende süße Stimme« »Ihr werdet mich also dereinst malen, nicht wahr? und wen man malt, den – kann man all sein Lebtag nicht wieder vergessen, hörte ich einmal sagen!«

»All' sein Lebtag nicht!« wiederholte er feierlich. Dann kniete er nieder und küßte den Saum ihres Gewändes, küßte ihre erkalteten Hände, erhob sich schweigend und ging. Er gewahrte wohl nicht, daß sich ein silbernes Kettchen losgelöst hatte von seiner Brust, woran ein Herzchen hing aus rothem Stein, kunstvoll geschnitten, und daß beides zu den Füßen der stillen hohen Frauengestalt im Grase liegen blieb. Hörte er aber auch den leisen, Mark und Gebein durchbebenden Schmerzenslaut nicht, der ihm jetzt nachzog? – Ein stattlich gezäumtes Roß, ein Geschenk des edlen Schloßherrn, harrte sein mit einem Diener am Eingänge des Waldes. Bald fand sich Johannes van Schorel auf der Heerstraße nach Italien.

*

Jahre waren vergangen. Reich an Ehren und Ruhm kehrte endlich Johannes van Schorel aus Italien zurück, wo er gelebt und gelernt, von wo aus er sogar eine Reise nach Palästina unternommen, um an dem Grabe des Herrn zu beten. In Venedig, in Rom und Florenz hatte er geschwelgt im Anschauen der herrlichsten Kunstschöpfungen, die hehren Gestalten der größten Meister Italiens waren an ihm vorübergegangen, wenn es ihm auch nicht vergönnt war, das Antlitz des göttlichen Raphael zu schauen, das schon der Schleier des Todes bedeckte, ehe noch dieser Kunstpilger Rom erreichte.

Johannes kehrte aber auf einem andern Wege nach der Heimat zurück, als auf dem er einst gekommen. Was hätte er auch suchen sollen in jenem Zauberschlosse, das ihn so süß und lange einst gefangen gehalten, seit ihn die Kund: von dem Heimgange der Schönsten ereilt, als er von Palästina wiederkehrend in Venedig Tizian's Werkstätte wieder betrat?

Er wanderte nach Amsterdam heim. – Wo war Maria Cornelis? – Ach! durfte er ihr wohl nahen? Wo war das Herz geblieben, das sie ihm anvertraut, und wo das andere, das er ihr verheißen? Er ließ sein Roß in der Herberge und schritt zaghaft durch die Straßen. Lange wagte er nicht nach seinem alten Meister Cornelis zu fragen; endlich faßte er Muth. Die trübe Antwort lautete: »er ist schon längst gestorben!« – Nach manchem andern Freunde und Bekannten forschte er erst, ehe er nach Maria Cornelis zu forschen wagte. Und als die Frage seinen Lippen entflohen, da zitterte er vor der Antwort. Gewiß war sie auch todt, – vor Gram um ihn gestorben, der ja so lange in der Fremde geblieben war. Aber der Befragte gab die heitre Auskunft: »O, der geht es wohl, sie ist ja eines reichen Goldschmieds Weib! Dort drüben an der Straße könnt ihr sie just stolzieren sehen!«

Und wirklich – sie war es, er erkannte sie auch, trotz der Spangen und Ringe, der schweren bauschigen Gewänder, trotz der eitel goldnen Schneppenhaube, die dem freundlichen wunderschönen Gesichtchen so gar lieblich ließ. Ihr dicker Eheherr ging auch recht stolz ihr zur Seite und hinter den beiden drein trabte ein schöner Knabe. Da wandte sich Johannes van Schorel ab, und blieb fortan einsam bis an sein Ende.

*

Schorel war unter den Nachfolgern der Geschwister van Eyk einer der bedeutendsten, und seine Zeitgenossen hielten den sanften, edlen Mann hoch in Ehren. Seine Werke zeigten dieselbe lichtvolle Klarheit, dieselbe Wahrheit des Colorits, des Ausdrucks, der Anordnung, der Zeichnung, wie sie uns aus den Werken Johann van Eyk's und Hemmling's so überwältigend entgegen tritt. Aber auch Tizian'sche Rosenglut floß aus seinem Pinsel; er hatte nicht umsonst in der Werkstatt dieses Meisters der glühendsten Farbenpracht gearbeitet. Seine Bilder standen hoch im Preise: geistliche und weltliche Fürsten fühlten sich stolz im Besitz eines Schorel'schen Werkes. Der König von Schweden, dem der Meister ein Bild der heiligen Jungfrau überreichen ließ, war so voll Freude über dieses Geschenk, daß er ihm dafür in einem eigenhändigen Schreiben dankte, ihm einen kostbaren Ring, einen herrlichen Marderpelz und seinen eigenen reichverzierten Eisschlitten nebst Pferdegeschirr dagegen sandte.

Seine zahlreichen Schüler beteten ihn an und sein Liebling, Antonio Moro, malte noch kurze Zeit vor des Meisters Tode dessen wohlgetroffnes Bildniß. Die Blume der reinsten Freundschaft blühte an seinem Wege: ein hochbegabter Mann, Johannes Secundus, Dichter, Maler und Bildner zugleich, schloß sich ihm in hingebendster Zärtlichkeit an. Aber es schien als ob der Himmel ihm die schönsten Gaben nur auf kurze Stunden reichen, die liebsten Gestalten nur von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ans Herz legen wollte; auch Johannes Secundus wurde ihm entrissen: nach kaum sechsjährigem Beisammensein entzog ihn der Todesengel den Armen des trauernden Freundes.

Auf vielen Bildern Johannes van Schorel's begegnete man dem süßen Gesichtchen der Goldschmiedsfrau; die kleine treulose Maria Cornelis erschien auf seinem Malertuch in den verschiedensten Gestalten. Die Züge jener zweiten Maria aber, die aus Gram um ihn starb, gab jedoch nur ein einziges Bild wieder: die Krone der Schorel'schen Werke, das auch glücklich für die Nachwelt gerettet worden ist. Er malte es in den letzten Jahren seines Lebens, er arbeitete langsam und gleichsam nur in seinen Feierstunden daran. Es sollte als Altarblatt einer Seitencapelle der Marienkirche in Utrecht aufgestellt werden; ein reicher niederländischer Edelmann hatte es bestellt. Das Bild zeigte das Sterbebett der Mutter des Erlösers. Nach der Legende der katholischen Kirche wandelte die göttliche Jungfrau siebenzig Jahre über die Erde, aber in unvergänglicher Frauenschöne, und so stellte sie auch der Pinsel des Meisters dar. Mitten in einem heitern, festlich geschmückten Gemache, dessen offene spitze Fenster eine freie abendliche Landschaft erblicken lassen, steht mit dem Fußende zum Beschauer gewendet das schön umhangene Bett, worauf Maria schlummernd ruht. Ein seliges Lächeln umschwebt den holdseligsten Mund, die Wonne der Verklärung ruht auf der reinen Stirn, dem Blatte der Lilie gleicht das herrliche Antlitz: in den gefalteten wunderschönen Händen aber hält sie eine feine Kette, woran ein rothes Herze hängt. In heilig ernster Haltung sind die Jünger um dieses Sterbelager versammelt, das nur die Majestät, die himmlische Ruhe, nicht den Schrecken des Todes zeigt. In dem trauervollen milden Kopfe des Johannes erkennen wir den Meister selbst; das Angesicht des Petrus giebt vielleicht den würdigen Vater jener unvergeßlichen Marie wieder. Die beiden Seitenbilder, die zu dem Altargemälde gehören, zeigten, wie das zu jener Zeit gebräuchlich war, die Bildnisse des Stifters des Kapellenbildes und seiner Gattin an der Seite ihrer Schutzheiligen und die daneben angebrachten Wappen ihrer edlen Geschlechter.

Man erzählt, daß der Meister dieses herrliche Bild, bevor er es nach Utrecht sendete, einige Tage in einer Amsterdamer Kirche aufstellen ließ. Früh und spät strömte das Volk herbei und betete an diesem himmlischen Sterbelager. Am Nachmittage des 6. Decembers 1562 legte man das Bild in der Werkstatt des Meisters in die Kiste zur Versendung. Johannes van Schorel, der siebenundsechzigjährige Greis stand dabei. Eben als man den schweren Deckel über alle diese leuchtende Herrlichkeit legen wollte, bat er: »Haltet ein – laßt mich noch einmal meine Maria sehn!« –

Man geleitete ihn hin und er neigte sich lange, lange über das Bild. Die Wintersonne drang in demselben Augenblick in die Werkstätte und ein goldner Strahl fiel aus das verklärte Haupt der Maria. Alle sahen es; alle fühlten einen seltsamen Schauer: es war ja, als hätte Maria die Augen lächelnd geöffnet! – Der Meister regte sich nicht. Lange wagte keiner der Umstehenden ihn zu stören; als aber endlich einer seiner Schüler schüchtern herantrat und seine Hand auf die Schulter des über das Bild Gebeugten legte, da erhob sich Johannes van Schorel nicht unter dieser Berührung, Maria's Blick und Lächeln hatte ihn gerufen: Er war bei ihr im Himmel!


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