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Während Per nachts durch Jütland rollte, dachte er oft an seine mißglückte Weihnachtsreise vor fast sieben Jahren, als er das letzte Mal auf diesem Weg dem Heimatstädtchen entgegengefahren war. Bis in die kleinsten Einzelheiten erinnerte er sich noch an jene Heimkehr an einem dunklen Winterabend; ein kalter, gelblicher, diesiger Regenschleier hüllte die Stadt ein und machte die schläfrig brennenden Straßenlaternen noch trüber. Er sah wieder Schwester Signe auf dem nassen Bahnsteig stehen in ihrem halblangen altmodischen Mantel und mit schwarzen Wollhandschuhen. Den Rock hatte sie aufgeschürzt, und ihre großen Füße, die in Galoschen steckten, boten sich den Blicken dar. Er entsann sich, daß der Vater unzufrieden gewesen war, weil er in die Ferien gefahren war, ohne zuvor um Erlaubnis zu fragen. Vor allem aber war ihm noch gegenwärtig, daß er sehr enttäuscht gewesen war, als er hörte, daß im Eßzimmer der Fußboden gescheuert wurde, weil er daraus entnehmen konnte, daß die anderen schon gegessen hatten.
Es wunderte ihn eigentlich, daß er sich an diese alten Ereignisse noch so lebendig erinnerte, obwohl sie nichts mehr für ihn bedeuteten. Er wollte nicht zugeben, daß das Elternhaus und seine traurigen Erinnerungen noch irgendeine Macht über ihn hatten. Er war sich bewußt, daß er sich nur selten mit dieser Vergangenheit beschäftigt hatte, die im Laufe der Jahre gewissermaßen unter den Horizont seines Lebens getaucht war.
Am frühen Vormittag erreichte er die kleine Stadt bei hellem Oktobersonnenschein.
Wegen seiner hochmodernen Kleidung erregte er auf dem Bahnhof gewisses Aufsehen. Er trug einen mausgrauen seidengefütterten Reisemantel mit langen Schößen und breiten Samtaufschlägen an Hals und Ärmeln. Auf seinem Kopf mit dem dunklen kurzgeschnittenen Haar saß eine schottische Reisemütze. Der Handkoffer, das Hutfutteral und die übrige Reiseausstattung waren von bester Sorte und glänzten vor Neuheit.
Zwei Bauern in Lodenkleidern wichen ihm erschrocken aus. Mit Genugtuung hörte er, wie der eine dem andern zuflüsterte: »Segg mol, is dat nich de jung Graf Frys west?«
Obwohl er seine Ankunft telegrafiert hatte, war niemand zu seinem Empfang da. Um so besser, dachte er, dann sind mir wenigstens die Hände nicht gebunden. Und er beschloß, in einem Hotel abzusteigen, was für ihn in jeder Weise das bequemste war.
Doch als er gerade in einen der beiden Hotelomnibusse steigen wollte, die vor dem Bahnhofsgebäude hielten, erblickte er Eberhard, der langsam aus den auf der anderen Seite des Bahnhofs liegenden Anlagen kam. Per begriff sofort, daß der Bruder, besorgt um seine Würde, die Ankunft des Zuges drüben in den Anlagen abgewartet hatte, damit der Eindruck entstände, als sei er zufällig auf einem Spaziergang hier vorbeigekommen. Unwillkürlich zuckte Per die Achseln darüber. Diese Art Überlegenheit, die ihn in früheren Zeiten vielleicht gereizt hätte, erweckte jetzt nur sein Mitleid.
Als der Bruder sah, wie Per mit einem Hoteldiener verhandelte, erschrak er offensichtlich ein wenig und beschleunigte seine Schritte. »Du willst doch wohl nicht ins Hotel ziehen?« erkundigte er sich, fast ehe sie sich begrüßt hatten.
»Doch«, antwortete Per. »Ich halte es unter den gegebenen Verhältnissen für das richtigste, keine Umstände zu Hause zu machen.«
»Aber für dich ist ein Zimmer vorbereitet worden, und wir haben genug Platz. Mutter würde es dir bestimmt sehr übelnehmen, wenn du in ein Hotel zögst.«
»Ja wenn du meinst, so . . . Wollen Sie mir dann einen Gepäckträger schicken!«
Die letzten Worte richtete er an den Hoteldiener. Dann erkundigte er sich bei Eberhard nach dem Befinden des Vaters.
»Vater hat seit gestern abend geschlafen. Er dämmert meist vor sich hin. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden ist er nur sehr wenig bei Bewußtsein gewesen.«
Aus dem Bahnhofsgebäude eilte jetzt ein Gepäckträger herbei. Ihm folgte der Hoteldiener, der sich vor Per erwartungsvoll verbeugte, die Mütze in der Hand.
Per warf ihm eine Krone zu und gab dem andern die nötigen Anweisungen für das Gepäck.
Eberhard war unterdessen ein wenig beiseite getreten; mit sichtlicher Unruhe musterte er verstohlen Pers Kleidung. »Ich schlage vor, wir gehen hinten an den Gärten entlang«, sagte er und wollte in einen Steig einbiegen, der längs des Stadtrandes zum Pfarrhaus führte und meistens nicht benutzt wurde.
Per erhob Einspruch. »Der Weg ist ja viel länger, und ich bin müde.«
»Wie du willst«, erwiderte Eberhard und bekam einen strammen Zug um den Mund, durch den er stets zu erkennen gab, daß er jedes Verhandeln für unter seiner Würde hielt.
Schweigend schritten die beiden Brüder nebeneinander durch die Hauptstraße.
Das Wiedersehen mit seiner Vaterstadt beeindruckte Per fürs erste nicht weiter. Mit ihren schmalen winkligen Gassen, ihren ein-, höchstens zweistöckigen Häuschen und ihrer Unmenge von Rinnsteinbrettern erschien sie ihm lächerlich spielzeughaft im Vergleich zu der Weltstadt, aus der er kam. Mit der Stadt war es ihm ergangen wie mit dem Elternhaus: im Laufe der Jahre war beides aus seinem Leben geglitten, hinterm Horizont versunken. Er mußte lächeln, als er daran dachte, daß es einst sein ehrgeiziger Traum gewesen war, gefeierter Held dieses Krähwinkels zu werden, das Zeuge seiner Erniedrigungen gewesen war.
Nun erkannte er beinahe jeden, dem er begegnete. Jedes Häuschen mit dem Spion vor dem Wohnstubenfenster, jeder Name über den Ladentüren, jedes alte Zunftzeichen über den Torwegen rief ein Stück Vergangenheit zurück. Vor allem galt dies für die Lateinschule, die ihren breiten Giebel und die hohe Umfassungsmauer des Schulhofs zur Straße wandte. Als sie dort vorbeikamen, war gerade Pause; der Lärm der Jungen, der genau wie zu seiner Schulzeit über die Mauer drang, ließ einen Wust von halbvergessenen Kindheitserinnerungen lebhaft vor seinen Augen entstehen. Und rings um die Stadt lagen die Hügel, die er als Junge so geliebt hatte, und der Fjord. Meilenweit erstreckten sich die Wiesen, Tummelplatz seiner Sommertage, wo die schwachen Ansätze seines Kanalprojekts erdacht wurden und wo er sein erstes ahnungsvolles Verständnis für die Bedeutung der Windkraft gewonnen hatte, als er seinen Riesendrachen »Heljo« steigen und ihn einen mit Steinen beladenen Spielzeugwagen über die Wiese ziehen ließ.
Eberhard fragte nach dem Verlauf der Reise, doch Per war so in Gedanken versunken, daß er es gar nicht hörte. Seine ständige, ja nie überwindbare Abhängigkeit von diesem schmutzigen Bauernstädtchen empfand er wie eine Demütigung. Vor allem empörte es ihn, daß das Verhältnis ohne Gegenseitigkeit war. Der krummbeinige Kaufmann Hjerting, der in weißer Leinenschürze in seinem Torweg stand, Holzpantoffeln an den Füßen und die silberbeschlagene Meerschaumpfeife im Mund; der schwammige rothaarige Friseur Siebenhausen, der wie vor Jahren aus dem Fenster lehnte, um den Dienstmädchen nachzuschauen; der öffentliche Ausrufer, dessen Trommelwirbel und Altweiberstimme aus einer Seitenstraße schallten – sie alle hatten Anteil an ihm, ohne daß er für sie auch nur das geringste bedeutete.
Doch nun bogen sie in die Querstraße ein, in der das Pfarrhaus lag. Als er des dunklen Mauerkolosses mit dem merkwürdigen Gefängnistor ansichtig wurde und besonders als er das mit Borkenspänen bestreute Straßenpflaster erblickte, begann sein Herz lauter zu klopfen. Der Gedanke, daß er im nächsten Moment seine Mutter wiedersehen und am Sterbebett seines Vaters stehen würde, ergriff ihn plötzlich auf eine Weise, auf die er nicht vorbereitet war.
Signe empfing ihn im Flur. Sie war sehr bewegt beim Wiedersehen, reichte ihm jedoch stumm und halb abgewendet die Hand, als trete mit ihm etwas in das Haus ein, vor dem sie die Augen niederschlagen müsse. »Mutter ist in ihre Stube gegangen, um ein bißchen zu ruhen«, erklärte sie, als sie ins Eßzimmer gekommen waren, wo Per zwei seiner jüngeren Geschwister vorfand, die Zwillinge, die während seiner Abwesenheit fast erwachsen geworden waren, so daß er sie kaum wiedererkannte. Sie erwiderten verlegen seinen Händedruck. Signe fuhr fort: »Mutter bat mich, ich soll sie rufen, wenn du da bist. Aber ich halte es nicht für richtig, sie zu stören. Die ganze Nacht hat sie gewacht.«
Obgleich der Vater am entgegengesetzten Ende der großen Wohnung lag, sprach Signe mit gedämpfter Stimme, wie man es sich angewöhnt, wenn ein Kranker im Haus ist. Per erwiderte, die Mutter dürfe natürlich unter keinen Umständen gestört werden.
Genau wie bei seiner Heimkehr vor sieben Jahren stand ein Tablett mit einigen Butterbroten für ihn bereit. Signe schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein, und um nicht Anstoß zu erregen, zwang er sich, etwas zu essen, obwohl er vor Unruhe kaum einen Bissen hinunterwürgen konnte. Vom andern Ende des Zimmers her beobachteten ihn die Zwillinge mit großen neugierigen Augen.
Signe sagte: »Du willst sicher gern Vater sehen. Er ist seit gestern abend ohne Bewußtsein. Die Krankenpflegerin wäscht ihn jetzt gerade. Ich werde fragen, wann du zu ihm kannst.«
Leise ging sie hinaus, wobei sie die Tür mit beiden Händen schloß, damit kein Geräusch entstehe. Eberhard hatte das Zimmer schon verlassen, und um nicht mit dem fremden Bruder allein bleiben zu müssen, verschwanden nun auch die Zwillinge durch die zur Küche führende Tür.
Per stand auf, und ohne sich dessen bewußt zu sein, schritt er einige Male im Zimmer auf und ab. Dann stellte er sich an das eine Fenster, das nach dem kleinen Rasenstück mit den wenigen verkrüppelten Bäumen lag, das den Pfarrhausgarten bildete. Das Herz trommelte gegen seine Brust, und die Gedanken irrten ratlos umher und suchten nach einer Selbstverteidigung.
Wie er so dastand und gleichgültig auf den sonnenverlassenen, von hohen Brandmauern umgebenen Rasenplatz hinausblickte, fand er allmählich wieder etwas mehr Haltung, und seine Gedanken ordneten sich. Nun hatte er die Rechtfertigung gefunden, nach der er suchte. Gerade in dieser Empfindungslosigkeit, mit der er den ersten Spielplatz seiner Kindheit wiedersah, lag seine Freisprechung. Nicht ein einziges liebevolles Andenken, nicht eine freundliche Erinnerung war für ihn mit diesen Mauern verknüpft, hinter denen er sich fünfzehn Jahre lang wie ein Gefangener gefühlt hatte. Und nicht genug damit! In diesem Augenblick wurde ihm klar – und flüchtig durchfuhr ihn ein ganz fremdartiges Gefühl, eine wilde, klagende Traurigkeit –, wie sehr der Schatten dieser Mauern sein Dasein verfinstert und ihm auch in all den folgenden Jahren jede Freude vergällt hatte.
Nervös zuckte er zusammen. Hinter ihm wurde leise die Tür geöffnet; Signe kehrte zurück. »Du kannst gern hineingehen. Komm nur!«
Durch einen kleinen, fast leeren Vorraum gelangte Per in die Wohnstube. Die Tür, die von hier aus ins Schlafzimmer führte, war nur angelehnt. Signe, die sich auf Zehenspitzen bewegte, schob sie lautlos auf und geleitete den Bruder an das Fußende eines Bettes, das nur mit der Stirnseite an der einen Seitenwand des Raumes stand. Hier drinnen war es fast dunkel, so daß er sich im ersten Augenblick nur schwer zurechtfinden konnte.
Allmählich unterschied er jedoch die Umrisse eines eingeschrumpften Kopfes, der mit geschlossenen Augen, tief in ein großes weiches Kissen versunken, in totenähnlichem Schlaf lag. Ein frostiger Schauer jagte Per durch den Körper. Doch irgendeine Gemütsbewegung, die über die unheimliche Regung hinausging, die der Anblick der Auflösung naturgemäß bei dem hervorruft, für den der Tod ein Grauen ist, erfaßte ihn nicht. Es wirkte sehr beruhigend auf ihn, zu wissen, daß der Zustand des Vaters jegliche Annäherung unmöglich machte. Am meisten hatte er befürchtet, der Familieneifer werde noch im letzten Augenblick bestrebt sein, eine Versöhnung zustande zu bringen. Er wußte, daß er seinem Vater nichts zu sagen hatte; und was der Vater ihm hätte mit auf den Weg geben wollen, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach nur dazu angetan gewesen, das Verhältnis weiter zu verschlechtern und vielleicht Anlaß zu einem peinlichen Auftritt zu werden.
Als sich seine Augen nach und nach an das Dunkel im Zimmer gewöhnt hatten, traten die Gesichtszüge und die abgezehrte Gestalt des Schlafenden stärker hervor. Per sah, daß der Vater seinen starken Haarwuchs behalten hatte, doch hatte das Haar während der Krankheit jede Farbe verloren. Das Gesicht dagegen war dunkel, beinahe bronzeartig geworden. Es blieb regungslos, obwohl einige Fliegen es beständig umkreisten und hin und wieder über Stirn und Wangen krochen. Es war, als ruhe bereits der Friede der Ewigkeit darüber.
Die Krankenpflegerin, die am Waschtisch gestanden und einen Schwamm ausgespült hatte, verließ nun mit der Waschschüssel das Zimmer, und die beiden Geschwister blieben allein bei dem Kranken. Niemand sprach. Signe hatte sich in einen niedrigen Lehnstuhl neben das Bett gesetzt. Sie saß vornübergebeugt, die Hände auf den Knien gefaltet, und schaute den Vater an mit einem verklärten Ausdruck von Schmerz und Liebe. Ihre großen hellen Augen standen voller Tränen, und um ihren Mund zuckte es. Ab und zu bewegte sie sanft die Hand über dem Gesicht des Vaters, um die Fliegen abzuwehren.
Plötzlich hörte man etwas an der Wand rascheln. Eine Tapetentür, die zu einer hinter dem Schlafzimmer liegenden Fremdenkammer führte, ging auf, und in der Türöffnung erschien die kleine gekrümmte Gestalt der Mutter.
Einen Augenblick lang verharrte sie dort. Sie stützte sich mit der einen Hand Halt suchend am Türpfosten, mit der anderen auf einen schwarzen Stock. Es dauerte eine Weile, ehe Per begriff, daß sie es war. Stets hatte er sie als bettlägerige Frau in Erinnerung gehabt, und nie hätte er gedacht, daß sie so klein war. In den dazwischenliegenden Jahren war sie stark gealtert. Ihr Haar war grau geworden, die Gesichtszüge waren schärfer. Die gewaltige seelische Anspannung, mit der sie sich während des langen Krankenlagers des Vaters auf fast übernatürliche Weise aufrecht hielt, hatte ihrem Gesicht etwas Fremdartiges, Strenges gegeben, vor allem sichtbar in den tiefliegenden, beinahe hellseherisch in die Ferne starrenden Augen.
Per war verwirrt und überrascht. Und der Blick, der ihn jetzt aus diesen Augen traf, wie auch die Art, mit der die Mutter fast abwehrend die Hand ausstreckte, als er sich ihr näherte, machten ihn noch unschlüssiger. Es war, als erwartete sie ein reumütiges Geständnis von ihm. Eine Weile standen sie sich gegenüber wie Bildsäulen. Doch endlich trug das Muttergefühl den Sieg davon. Tränen rannen über ihre Wangen; sie nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küßte ihn auf die Stirn.
Signe hatte sich erhoben und half ihr nun, sich in den Lehnstuhl neben dem Bett zu setzen.
»So bist du wirklich gekommen, Peter Andreas«, sagte die Mutter dann. Sie saß nach vorn gebeugt, halb von ihm abgekehrt und hielt die Hand vor Augen, als ertrage sie seinen Anblick doch nicht ganz. »Warum bist du nicht früher erschienen? . . . Nun ist es vielleicht zu spät.«
In diesem Ausbruch lag etwas, was Per aufhorchen ließ. Zu spät – dachte er. Sie hatten also tatsächlich bis zuletzt auf eine Versöhnung gehofft. Hatten seine Rückkehr als eine Art Bußgang aufgefaßt.
Wieder begann die Mutter zu sprechen. Im selben Augenblick kam aber die Krankenpflegerin mit einem älteren Herrn aus dem Wohnzimmer.
Es war der Hausarzt, der seinen täglichen Vormittagsbesuch machte. Auf ein Zeichen der Mutter zogen sich Signe und Per zurück, und die Krankenpflegerin schloß hinter ihnen die Tür.
An jenem Tag sah Per die Mutter nicht mehr. Überhaupt war seine Rückkehr nicht das Ereignis, zu dem sie unter anderen Umständen sicherlich geworden wäre. Der Zustand des Vaters beanspruchte die Sinne und Gedanken aller, und trotz der Stille herrschte im Haus rege Geschäftigkeit. Bald mußten die warmen Umschläge erneuert werden, bald war Medizin zu holen, gar nicht zu sprechen davon, daß ständig aus der Stadt viele Leute kamen, die sich nach dem Befinden des Kranken erkundigten. Außerdem erwartete man im Laufe des Tages noch zwei Geschwister, nämlich den Bruder, der Kaplan auf Fünen war, und eine Schwester, die mit einem Arzt in einem kleinen Landstädtchen am Limfjord verheiratet war. Auch für sie mußten Zimmer vorbereitet werden, so daß alle vollauf zu tun hatten.
Per hatte sein altes Mansardenstübchen erhalten. Hier verbrachte er fast den ganzen Tag. Er bemühte sich vergeblich, zu schlafen und sich nach der Reise auszuruhen, dann versuchte er, an Jakobe zu schreiben. Aus Gründen des Anstands hatte er sich vorgenommen, seine ursprüngliche Absicht aufzugeben und hierzubleiben, bis der Vater gestorben war. Das würde allem Anschein nach nicht mehr lange dauern.
Er war unruhig und niedergeschlagen. Zwar bereute er nicht, daß er hergekommen war, er wünschte aber, daß alles endlich vorüber sei. Bisher hatte er erst einen Menschen sterben sehen; das war an jenem Tag in Nyboder, als man den alten Oberbootsmann fast leblos von einem Spaziergang nach Hause gebracht hatte. Die schrecklichen Erinnerungen, die sich an diesen Todesfall knüpften, die Angst des Oberbootsmanns und das Entsetzen der anderen, verfolgten ihn hier die ganze Zeit über.
Gegen Abend trafen die beiden erwarteten Geschwister, Thomas und Ingrid, ein, letztere in Begleitung ihres Ehemanns. Thomas war ein rotbäckiger Theologe von gesetztem Wesen, hinter dem sich viel Gefühl und ein starker, aber etwas verkrüppelter Ehrgeiz verbarg. Ingrid war eine kleine selbstsichere Provinzdame, eine Vollblut-Sidenius, in deren Augen Løgstør eine Stadt von Bedeutung war, weil sie, ihr Mann und ihre Kinder darin wohnten.
Der Vater hatte im Laufe des Tages ein paarmal die Augen geöffnet und schien dann bei Besinnung zu sein; er hatte sich aber nur schwer verständlich machen können und war nach wenigen Minuten wieder in die Bewußtlosigkeit zurückgesunken.
Der Arzt stattete ihm gerade seinen Abendbesuch ab. Als er das Krankenzimmer verlassen hatte, sagte er zu Signe, die ihn auf den Flur hinausbegleitete: »Ich möchte Ihnen nicht verhehlen, daß Ihr Vater diese Nacht kaum überleben wird. Ich erwarte, daß Sie mich rufen lassen, falls meine Anwesenheit gewünscht wird.«
Seine Voraussage traf ein. Es war kurz nach zwei Uhr, als im Hause alle geweckt wurden; die Todesstunde war gekommen. Per war, müde von der Reise und betäubt von dem beinahe ununterbrochenen Wachsein der letzten zwei Tage, in einen bleischweren Schlaf gefallen und konnte sich zuerst überhaupt nicht besinnen, wo er sich befand. Im Traum war er in Berlin gewesen, in Gesellschaft Fritjofs und einiger seiner Künstlerkollegen. Gerade waren sie mit einer Droschke zu ihrer Stammkneipe in der Leipziger Straße gefahren, als sich die Tür zu seiner Mansardenstube öffnete und Signe mit einem Licht in der Hand eintrat und ihn bat herunterzukommen.
In dem Augenblick, da ihm klar wurde, wo er sich befand und was die Worte der Schwester bedeuteten, erbebte er. Der Übergang vom fröhlichen Treiben der Weltstadt zur stillen Todesbotschaft der Schwester war selbst für seine geistige Konstitution zu heftig. Nachdem er angezogen war, mußte er noch eine Zeitlang in der Mansarde auf und ab gehen, um sich etwas zu beruhigen.
Unten fand er alle seine Geschwister versammelt; die meisten von ihnen waren nicht zu Bett gewesen, sondern hatten ringsum auf Stühlen und Sofas ein wenig geruht, um dem Vater so nahe wie möglich zu sein und sofort zu ihm zu gelangen, falls etwas geschehen sollte. Die Wohnstube war hell erleuchtet, und die beiden Türflügel zum Schlafzimmer standen weit offen. Drinnen brannte nur eine kleine Nachtlampe. Sie hatte ihren Platz auf einem Tisch am Kopfende des Bettes und warf einen schwachen Lichtschein auf die eine Seite der weißgekleideten Gestalt des Vaters, die andere lag im Dunkel.
Um ihm das Atmen zu erleichtern, hatte man ihn ein wenig aufgerichtet und mit Kissen gestützt. Er war bei vollem Bewußtsein, konnte aber nicht sprechen; auch die schwarzblauen Augenlider vermochte er nicht mehr zu heben. Soeben hatte er begonnen von seinen Kindern Abschied zu nehmen. Eines nach dem andern traten sie an sein Bett, und wenn sie seine Hand ergriffen hatten, die schwer und kraftlos auf der Bettdecke lag, nannte ihm die Mutter ihre Namen. Sie saß in ihrem niedrigen Korbstuhl an der im Dunkel liegenden Seite des Kopfendes.
Per war höchst unbehaglich zumute bei diesem feierlichen Abschiednehmen. Er hatte gehofft, davon verschont zu bleiben. So lange wie möglich hielt er sich zurück; schließlich mußte auch er an das Bett treten. Als er die bereits grabeskalte Hand des Vaters fühlte und die Mutter mit – wie es ihm schien – erhobener Stimme seinen Namen aussprach, stieg in ihm ein eisiges Unbehagen auf, ein erdrückendes Gefühl, als sei er vor einen überirdischen Richter gerufen. Nur das Wissen, daß seine Geschwister, die nun alle um das Bett versammelt waren, ihn beobachteten, verlieh ihm die Kraft, seinen Gesichtsausdruck zu beherrschen.
Es war unterdessen zwischen drei und vier Uhr geworden. Der Nachtwächter kam gerade durch die stille Straße. Wegen der Späne, die draußen gestreut waren, hörte man seine Schritte nicht. Man vernahm nur seinen eintönigen Singsang, der beinahe wie eine übernatürliche Ankündigung des Todesengels klang.
»Verglommen sind die Sterne,
Die Nacht entweichet still,
Gott halte von uns ferne,
Was uns betrüben will.
O Vater in der Höhe,
In Gnaden auf uns sehe,
Schirm uns mit starker Hand!«
Nachdem der Vater auch von den Dienstboten des Hauses Abschied genommen hatte, gab er durch eine Bewegung der Stirnmuskeln zu erkennen, daß er etwas sagen wolle. Mit einem Flüstern, das jedoch nur die Mutter verstehen konnte, bat er, sie sollten einen Psalm singen. Die Kinder gingen in die Wohnstube und stellten sich am Klavier auf. Während Signe spielte, sangen sie mit gedämpfter Stimme einige Verse des Liedes: »Zum Himmel, Herr, reicht dein Erbarmen.«
Der einzige, der außer der Mutter im Schlafzimmer zurückgeblieben war, war Per. Nach dem Abschied vom Vater hatte er sich in eine dunkle Ecke gesetzt, wo er unbeobachtet war. Während der leise Gesang seiner Geschwister zu ihm herübertönte, getragen von der ruhigen Kraft unerschütterlicher Glaubensgewißheit, erfüllt von einem Jubel, als sähen sie den Himmel offen und die lichtumstrahlte Gestalt des Herrn mit ausgebreiteten Armen den verklärten Geist des Vaters empfangen, kämpfte er mit sich, um nicht mit fortgerissen zu werden. Alles war ganz anders gekommen, als er es sich vorgestellt hatte. Mit bebendem Mund und feuchten Augen starrte er den eingefallenen Kopf des Vaters an, der friedlich auf dem Kissen lag, von dem reichen weißen Haar umgeben wie von einer Heiligenglorie. Und in Erinnerung an die schreckliche Sterbeszene des Oberbootsmanns sagte er zu sich: So also stirbt ein gläubiger Christ!
Als das Lied zu Ende war, kehrten die Geschwister nach und nach ins Schlafzimmer zurück. Der Mund des Vaters hatte sich unterdessen ein wenig geöffnet, die Augen waren noch tiefer in den Kopf gesunken. Nicht lange danach begann der Todeskampf.
Die Mutter hielt seine rechte Hand und trocknete von Zeit zu Zeit den Schweiß mit einem Tuch von seiner Stirn. Auf der anderen Seite des Bettes standen Eberhard und Signe, um zur Hand zu sein, falls Hilfe vonnöten sei.
Eine Stunde verrann. In Erwartung des letzten Augenblicks saßen die anderen Kinder ringsum in der Stube, wo sie gerade einen Platz hatten finden können; die jüngsten aber standen am Fußende des Bettes, von wo aus sie den Vater mit großen mitleidsvollen Augen betrachteten.
Zum zweiten Male hörte man den eintönigen Singsang des Nachtwächters in der stillen Gasse.
»Du ewiger Gott und Vater
Im hohen Himmelszelt,
Du treuester Berater
Für uns hier auf der Welt.
Du hast in dieser Nacht
Gar gnädig uns bewacht.
Nimm uns in deine Hut!«
Es war sehr still im Zimmer. Man vernahm nur den immer schwächer werdenden mühsamen Atem des Vaters und hin und wieder das halb unterdrückte Weinen eines der Kinder.
Es war fast vier Uhr geworden. Die Mutter saß nun ganz zusammengesunken da und preßte die Stirn gegen die leblose Hand des Sterbenden, die sie mit ihren Tränen benetzte. Behutsam berührte Eberhard das linke Handgelenk des Vaters; er zählte die allmählich vergehenden Pulsschläge, während Signe voller Spannung seinen Gesichtsausdruck beobachtete. Die Uhr im Wohnzimmer begann gerade zu schlagen. Ein wenig später ging er still um das Fußende des Bettes herum zur Mutter.
»Mutter«, sagte er, nachdem er behutsam ihre Schulter berührt hatte, »Vater ist eingeschlafen.«
Im selben Augenblick standen alle im Zimmer auf und bildeten einen Kreis um das Bett. Nur die Mutter blieb sitzen. Im ersten Augenblick hatte sie mit flehender Hilflosigkeit zu Eberhard aufgesehen. Nun beugte sie sich wieder über die Hand des Toten und verbarg ihr Gesicht. Es war, als habe sie nicht den Mut, den Anblick der gebrochenen Augen zu ertragen. Doch dann hob sie den Kopf und schaute ihn lange stumm an. Endlich sprach sie: »Ja, Kinder, nun ist Vater von uns gegangen. Aber – Gott sei Preis und Dank! – es ist keine Trennung auf ewig. Er ist nur vorangegangen in unsere himmlische Heimat, wo wir durch Gottes Gnade einmal mit ihm vereint sein werden.«
Mit ergreifenden Worten dankte sie ihm dafür, was er für sie alle getan hatte, pries seine Treue ihr und der Familie gegenüber, dankte für all seine Liebe und Aufopferung. In rührender Weise merkte man, wie die Gefühle ihrer Jugendzeit wiedererwachten in der Zärtlichkeit, mit der sie beim Sprechen ihm über das weiße Haar strich und die Stirn küßte.
Noch eine Zeitlang umstanden die Kinder das Bett in Gebet und stiller Betrachtung. Aber beim ersten sichtbaren Todeszeichen breiteten Eberhard und Thomas sorgsam ein Laken über den Leichnam, und Signe führte die Mutter hinaus.
Per zog sich sehr bald zurück. In seiner Kammer brannte die Lampe noch auf dem Tisch. Durch das unverhängte Fenster fiel der erste Schimmer des Tages. Lange verharrte er am Fenster und starrte hinaus auf die Stadt, die eben erwachte. Ein paar blasse Sterne schimmerten noch am Himmel, dennoch schallten schon aus den Gassen das Rattern der Bauernwagen und das Klappen schwerer Holzschuhe zu ihm herauf.
In ihm bildete sich die feste Überzeugung, daß die Erlebnisse dieser Nacht ihre Spuren in ihm hinterlassen würden. Doch Klarheit über seine Empfindungen hatte er nicht. Vorerst war er zu sehr ergriffen von der Feierlichkeit des Erlebten, um ruhig denken zu können.
Endlich setzte er sich an den Tisch und holte seine Reiseschreibmappe hervor. Er hatte das Bedürfnis, sich jemand mitzuteilen. Gestern hatte er Jakobe nur eine ganz kurze Nachricht von seiner Ankunft zukommen lassen. Nun schrieb er ihr: »Ich will nicht zögern, Dir mitzuteilen, daß mein alter Vater vor wenigen Augenblicken eingeschlafen ist. Ich möchte Dir auch nicht verhehlen, daß ich froh darüber bin, mich zu dieser Reise entschlossen zu haben. Wieviel auch zwischen Vater und mir gewesen sein mag – stets hat er nach seiner besten Überzeugung gehandelt. Sein Tod war sehr ergreifend. Fast bis zuletzt war er bei vollem Bewußtsein, und mit bewundernswerter Seelenkraft sah er dem Ende entgegen . . .« Hier zögerte seine Hand. Und als er durchlas, was er geschrieben hatte, wurde er verlegen. Eine Zeitlang saß er da und kaute an seinem Federhalter. Dann zerriß er plötzlich den Brief und begann einen anderen. »Liebste Freundin! Ich habe die traurige Pflicht, Dir mitzuteilen, daß mein Vater soeben gestorben ist. Ich kam also gerade noch zurecht, um von ihm Abschied zu nehmen, wie ich es gewünscht hatte. Er war bei vollem Bewußtsein und bis zuletzt ruhig und gefaßt. Was nur natürlich ist, denn sein Leben ist ja eine ununterbrochene Vorbereitung auf den Tod gewesen. – Nur diese Zeilen in aller Hast. Du hörst bald mehr von mir.« Als er den Brief unterzeichnet hatte, saß er wieder eine Weile mit unruhiger Miene da und dachte nach. Dann fügte er eine Nachschrift hinzu: »Vielleicht bleibe ich zum Begräbnis hier.«
Fünf Tage später wurde Pastor Sidenius beerdigt. Schon in früher Morgenstunde war überall in der Stadt auf halbmast geflaggt. Die lange Wegstrecke von der Kirche zum Friedhof wurde gegen Mittag mit Sand und Tannenzweigen bestreut. Am Vortag hatten junge Mädchen die Kirche mit Grünpflanzen ausgeschmückt. Auf dem Altar wie auch auf der alten, reich geschnitzten Kanzel hingen Trauerflore. Die Lichter in den beiden zwölfarmigen Messingkronleuchtern unter der Decke brannten, und von der Orgel her tönte eine gedämpfte Trauermusik, als die Gemeinde bald nach Mittag die Kirche füllte.
Daß es nicht Neugierde war, die die Leute hergeführt hatte, spürte man an der Stille, die hier herrschte, und an den vielen ernsten Gesichtern. Es war Pastor Sidenius ergangen, wie es starken Bezwingern häufig ergeht: als der Widerstand erst einmal überwunden war, schlug er schnell um in Vergötterung. Und wie so oft achtete man gerade die Eigenschaften bei ihm später am meisten, die den größten Anstoß erregt hatten. Sein gebieterisches Wesen, seine Mißachtung der ererbten städtischen Bräuche, seine strenge Einfachheit in Lebensweise und Kleidung – all das betrachtete man nun als Zeugnis wahren apostolischen Eifers und echter Frömmigkeit. Allerdings hatte sich der Pastor auch im Laufe der Jahre ein wenig verändert. Als sich die Einwohner des Städtchens der Vormundschaft der Kirche allmählich unterworfen hatten, war auch das Milde und Herzgewinnende in seiner Natur an den Tag getreten.
Dazu kamen jetzt noch sein langes Krankenlager und die erhabene Seelenruhe, mit der er sein Leiden ertragen und seinem Ende entgegengesehen hatte. Mehr als ein halbes Jahr war er bettlägerig gewesen. Er hatte gewußt, daß er ein vom Tode gezeichneter Mann war. Und dennoch hatte er nie geklagt und erlaubte es auch den anderen nicht, ihn zu bedauern. »So darf hier nicht gesprochen werden«, hatte er einmal streng zu jemandem gesagt, der ihn trösten wollte mit der Hoffnung auf Genesung. »Sind wir nicht Gottes Kinder, und sollten wir nicht dankbar sein, wenn unser Vater uns heimruft?«
Im Chor der Kirche stand der schwarze Sarg, der nach dem Wunsch des Toten keinen anderen Schmuck trug als ein einfaches Fichtenkreuz. Stets hatte er geeifert gegen das – wie er sich ausdrückte – verweichlichte Bestreben der Leute, den Tod zu verschönen und »den Fraß der Würmer« auch noch zu schmücken. Um den Sarg saßen etwa fünfzig Geistliche im Ornat wie eine Art Ehrenwache, und in den vorderen Stuhlreihen der Kirche erkannte man die Honoratioren der Stadt: Beamte in Uniform, den Stadtrat – ja sogar mehrere Garnisonsoffiziere sah man mit silberblitzendem Wehrgehänge, den schimmernden Dragonerhelm im Schoß.
Mit wachsendem Erstaunen blickte Per um sich. Zwar hatte er schon vorher auf mancherlei Weise einen Eindruck von dem Sieg erhalten, den das Pfaffentum in der bisher so weltlich eingestellten Stadt errungen hatte; doch in diesem Moment wurden seine Vorstellungen vom Vater und dessen persönlicher Bedeutung vollends auf den Kopf gestellt. Ein Pastor nach dem anderen trat an den Sarg und hielt eine Rede, und die Kirche hallte wider von lauter Lob- und Dankesworten an den Herrn über diesen entschlafenen Diener und seine reiche Erdentätigkeit. Danach hoben acht junge Geistliche den Sarg vom Katafalk herab, und die ganze Gemeinde folgte zu Fuß dem Leichenwagen, den langen Weg durch die Straßen der Stadt bis hinaus zum Friedhof.
Per vermochte es nicht zu begreifen. Dies sollte sein Vater sein, dessen er sich in seinen Kinderjahren geschämt hatte, weil er der Stadt zum Gespött war? Sollte dies wirklich sein Vater sein, der hier wie ein Fürst bestattet wurde und dem die ganze trauernde Einwohnerschaft das Geleit bis zum Grabe gab? Per konnte es nicht fassen. Auf unerwartete und beschämende Weise erfüllte sich hier sein beinahe stolzester Kindheitstraum – ein Traum aus jener Zeit, da er sich eingebildet hatte, ein vertauschtes Kind, ein entführter Königssohn zu sein, der einst zurückfinden werde zu seines Vaters Herrlichkeit.
Auf dem Rückweg von der Beerdigung ging er neben seinem Bruder Thomas, der am Grabe das Gebet gesprochen hatte und im Ornat war. Bei Thomas hatte Per von allen Geschwistern seinerzeit trotz des Altersunterschieds stets das meiste Verständnis gefunden, vielleicht deshalb, weil sich Thomas auch während des Heranwachsens von der gebieterischen Macht des Vaters unterdrückt gefühlt hatte. In seiner Studentenzeit hatten ihn bestimmte freiere Regungen innerhalb des christlichen Gemeindelebens mehr erfüllt, als es der Vater billigte. Nicht ohne Überwindung hatte er sich die Uniform der dänischen Staatskirche angezogen, dieses lange sargähnliche Tuchfutteral, das auch schlecht paßte zu seinen roten Wangen und hellblauen Kinderaugen.
Per hatte bemerkt, daß Thomas in diesen Tagen mehrfach versucht hatte, das Eis zwischen ihnen zu brechen. Doch er hatte kein Verlangen nach Versöhnung gezeigt. Er war auf der Hut vor der etwas pharisäerhaften Gutmütigkeit, die dem Bruder eigen war und mit der er sich früher oftmals Pers Vertrauen erworben hatte. Auch jetzt ließ er ihn nicht zu Worte kommen. Innere Unruhe hatte ihn erfaßt, und instinktiv fürchtete er sich davor, sich mit diesem wohlmeinenden Bruder einzulassen.
So gab denn Thomas auch dieses Mal den Annäherungsversuch auf, und beide Brüder schritten die letzte Wegstrecke bis zum Pfarrhaus schweigend nebeneinanderher.
Als sie nach Hause gekommen waren, statteten sie alle der Mutter einen Besuch ab, die im Bett lag und der Beerdigung nicht hatte beiwohnen können. Nach der äußersten Anspannung, in der sie gelebt hatte, war unmittelbar nach dem Tod des Vaters eine erschreckende Entkräftung eingetreten, und der Arzt hatte ihr größtmögliche Ruhe verordnet. Daher hatte Per sie in den letzten Tagen fast gar nicht gesehen. Ein einziges Mal war er zu ihr gerufen worden und hatte ein paar Minuten an ihrem Bett gesessen. Sie war aber nur imstande gewesen, einige allgemeine Fragen über sein Befinden an ihn zu richten.
Auch diesmal kam es zu nichts weiter als zu einem Wort und einem Händedruck, und Per ging hinauf in seine Mansarde, um zu packen. Er brannte darauf wegzukommen und hatte beschlossen, noch mit dem Abendzug abzureisen.
Nicht daß er Grund gehabt hätte, sich über den Aufenthalt im Pfarrhaus zu beklagen. Nicht nur Thomas, sondern auch seine anderen Geschwister hatten sich wie nach einer stillschweigenden Übereinkunft bemüht, sich ihm gegenüber so rücksichtsvoll zu benehmen wie nur irgend möglich oder wie sie es mit ihrem Gewissen verantworten zu können glaubten. Im übrigen hatte er den größten Teil seiner Zeit in seiner Dachkammer oder auf langen Spaziergängen in der Umgebung verbracht. Ja, volle vierundzwanzig Stunden war er sogar aus der Stadt fort gewesen, denn er hatte die Gelegenheit benutzt, zu einer vor kurzem am Limfjord angelegten Zementfabrik zu fahren und sie sich anzusehen.
Weder die Mutter noch jemand von den Geschwistern hatte seine Verlobung auch nur angedeutet, und weil er sich nicht denken konnte, daß es Eberhard der Familie nicht mitgeteilt haben sollte, fühlte er sich durch dieses Schweigen herausgefordert. Aber gleichzeitig war es ihm nicht unlieb, daß Jakobes Name hier nicht erwähnt wurde. Übrigens dachte er jetzt nicht mehr daran, mit ihr zu brechen. Die Wirkung hatten die Erlebnisse dieser Tage immerhin gehabt – sie hatten ihn zur Besinnung gebracht, hatten ihn ernüchtert. Der Champagnerrausch, in dem er den großen Entschluß gefaßt hatte, sich einen der Geldthrone Europas zu erobern, war ihm gründlich verflogen in jener ernsten Nacht im düsteren Sterbezimmer des Vaters. Jetzt mochte er nicht einmal mehr daran denken. Und weil er sich über seine Treulosigkeit schämte, die er in Gedanken an Jakobe begangen hatte, vermied er es, von ihr zu sprechen.
In der Abenddämmerung, als seine Geschwister wieder auf den Friedhof hinausgingen zum Grab des Vaters und als er die Mutter allein wußte, ging er zu ihr, um sich zu verabschieden.
»Setz dich ein bißchen zu mir, mein Junge«, sagte sie und redete nun wieder mit der verzagten, klagenden Stimme, die er aus seiner Kindheit so gut kannte. »Wir haben ja fast gar nicht miteinander gesprochen. Und nun willst du schon abreisen, erzählen mir deine Geschwister.«
»Ja, ich muß zurück zu meiner Arbeit.«
Die Mutter lag schweigend da und wartete darauf, daß er fortfahren würde. Als jedoch keine weitere Erklärung kam, sagte sie: »Zu deiner Arbeit? . . . Ach, wir wissen so wenig davon, was du treibst, Peter Andreas, und wo du eigentlich bist. Du warst jetzt in Deutschland . . . In Berlin, glaube ich.«
»Ja.«
Wiederum wartete die Mutter eine Zeitlang, ehe sie weitersprach: »Ja, dein Vater und ich, wir haben uns denken können, daß du vermögende Gönner haben mußt, weil du jetzt auf großem Fuß leben kannst. Denn eine Stellung hast du doch nicht, soweit wir wissen.«
Per horchte auf. Er begriff jetzt, daß die Mutter nichts wußte von seiner Verlobung. Seine Geschwister hatten sie ihr also verheimlicht; sie hatten ihr wahrscheinlich den Kummer ersparen wollen. Oder . . . vielleicht hatte Eberhard nichts erzählt, weder den Eltern noch den Geschwistern. Das sah ihm im Grunde ähnlich. Und in diesem Fall war es sicher kaum aus Rücksicht auf die Gefühle anderer geschehen.
Während Per noch mit dieser Frage beschäftigt war, hatte sich die Mutter nach dem Tischchen am Kopfende des Bettes umgedreht und etwas aus dem Schubfach geholt. »Du sollst nicht abfahren, Peter Andreas, ohne zu wissen, was dir dein Vater gern sagen wollte, ehe er die Augen schloß. Er hegte die unerschütterliche Zuversicht, daß du noch einmal zu dir selbst finden und auf den Weg der Demut zurückkehren würdest. Es verging kein Tag, an dem er nicht davon redete und dich einschloß in seine Gebete. Vor einiger Zeit, als er hörte, daß du ins Ausland gereist seist, und er glaubte, nun müsse er die Hoffnung aufgeben, dich je wiederzusehen, bat er darum, wir sollten dir nach seinem Tode diese Erinnerung an ihn zusenden.« Sie übergab ihm den kleinen Gegenstand, den sie aus dem Schubkasten genommen hatte. Es war die alte silberne Uhr des Vaters, die er stets in Ehren gehalten und die er bis zuletzt getragen hatte. Gern nannte er sie sein einziges irdisches Kleinod. »Diese Uhr«, fuhr die Mutter fort, »hat ihre Geschichte. Vater hätte sie dir erzählt, wenn er noch einmal mit dir hätte reden können. Nun, will ich es statt seiner tun, und wenn du sie gehört hast, wirst du verstehen, warum er das Geschenk gerade für dich bestimmte.« Sie hielt inne und lag von nun an mit geschlossenen Augen da wie der Vater während seiner Krankheit. »Einmal, als Vater noch ein halbwüchsiger Junge war, hatte er die Weihnachtsferien in der ländlichen Pfarre seiner Eltern verbracht und wollte nun wieder an die Lateinschule zurückfahren. Da forderte ihm Großvater seinen Kofferschlüssel ab, um, wie er vorgab, bevor der Koffer auf den Wagen kam, einmal nachzusehen, ob auch alles ordentlich eingepackt und nichts vergessen sei. Vater war gekränkt darüber und reiste voll Wut ab, ohne seinem Vater Lebewohl gesagt zu haben. Als er am Abend dann in seiner Pension ankam und den Koffer öffnete, fand er seine Sachen genauso vor, wie er sie verstaut hatte. Sie waren gar nicht angerührt worden. In der einen Ecke aber entdeckte er ein kleines Päckchen . . . die Uhr, die du jetzt in der Hand hältst, befand sich darin. Es war ein Geschenk vom Großvater; und nun begriff dein Vater auch, daß er einen Vorwand gesucht hatte, um sie in den Koffer zu legen, ohne daß er es sehen sollte, damit es an dem fremden Ort eine frohe Überraschung für ihn gebe. Da brach er in Tränen aus; und als er genug über sich und seine Übereilung geweint hatte, zog er sich den Mantel an und ging noch in derselben Nacht die vier Meilen bis nach Hause zurück und ruhte nicht, bis er seinem Vater um den Hals gefallen war und ihn um Vergebung gebeten hatte. Siehst du, mein Junge, deswegen hat dein Vater diese Uhr sein ganzes Leben lang wie ein Heiligtum bewahrt. Ich erinnere mich, daß er sie mir gegenüber einmal Gottes Patengeschenk genannt hat, denn in derselben Nacht, in der er sich so demütigte und den schweren Büßgang tat zu seinem irdischen Vater, fand er auch den Weg zum Licht und Frieden und Segen bei Gott, dem Vater im Himmel.«
Während sie sprach, saß Per mit der Uhr in der Hand da. Die Uhr wurde ihm schwerer und schwerer. Als die Mutter schwieg, blieb er stumm. In der Stube war es dunkel. Die Mutter hatte die Augen geöffnet, doch sie konnte Pers Gesichtszüge nicht mehr unterscheiden.
Es wurde überhaupt nicht mehr gesprochen. Per stand bald darauf auf, und als er die Mutter zum Abschied küßte, flüsterte sie über ihm: »Gott der Herr schenke dir seinen gnädigen Frieden.«
Bereits ein paar Minuten später fuhr Per zum Bahnhof. Seine Geschwister waren unterdessen vom Friedhof zurückgekehrt; doch er fuhr allein und hatte sogar sehr entschieden jegliches Anerbieten auf Begleitung abgelehnt.
Als Signe eine Stunde später in seine Dachkammer kam, fand sie die Uhr des Vaters. Sie lag mitten auf dem Tisch. Mit offensichtlicher Sorgfalt war sie so hingelegt worden, daß sie nicht übersehen werden oder den Eindruck hervorrufen konnte, sie sei vergessen worden.