Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Wenn man auf der Straße von Oddesund nach Thisted an den vielen düsteren Tümpeln und Teichen bei Ydby vorübergekommen ist und sich von hier aus westwärts nach dem schönen kleinen Ort Vestervig mit dem Grab Liden Kirstens begibt und von da weiter nach Norden geht, gelangt man in eine armselige, windige Gegend, wo selbst die Schafe im Hochsommer Mühe haben, Futter zu finden. Es ist ein Dünen- und Sumpfgebiet, das im Sommer wie im Winter gleich aussieht: nur das blaugrüne Riedgras, der rötliche Schachtelhalm und das Heidekraut widerstehen dem salzigen Seewind. Unwegsame Sumpfflächen zwingen die Landstraße, einen weiten Bogen zu machen, und wenn ausnahmsweise einmal kein Wind ist, treibt rauchender Nebel darüber hin wie über eine Brandstätte.

Hier und da liegt ein kleines Gehöft, vereinzelt findet man eine mit Torfziegeln gedeckte Kate, aber oft liegen mehrere Kilometer zwischen den Häusern, und Dörfer gibt es hier nicht. Nur an einer einzigen Stelle erkennt man den Versuch zu einer Ansiedlung. In einer Niederung, wo sich zu beiden Seiten eines Sumpfabflusses ein wenig Wiesenland gebildet hat, liegen vier Häuser. Eines davon ist eine Schule; im anderen wohnt der Wiesenmeister, im dritten ein Schuhmacher. Das vierte steht leer.

Aus diesem hat man kürzlich die Leiche eines Mannes in mittleren Jahren getragen, der seit einer Reihe von Jahren die Gemüter der ganzen Umgegend beschäftigt hatte. Er war fremd in diesem Landstrich und hatte es stets abgelehnt, aus seinem früheren Leben zu erzählen. Wortkarg war er eigentlich nicht, aber ein wenig kurz angebunden; und er hatte viele Freunde ringsum und keinen anderen Feind als den Pastor. Er war unverheiratet und hatte allein in dem ziemlich großen Haus gelebt, nur mit einer alten Haushälterin, einem alten Pferd und einigem Federvieh. Obwohl er kein studierter Mann war, hatte er viele Bücher. Die meiste Zeit verbrachte er jedoch allein mit sich und seinen Gedanken auf der Landstraße, wenn er von Amts wegen mit seinem struppigen norwegischen Fjordpferd, das fast blind war vor Alter, hin und her fuhr. Dieser Mann war Wegebauassistent, und noch nie waren die Wege dieses Bezirks so gut instand wie zu seiner Zeit.

Trotz seiner Einsamkeit und seiner schwachen Gesundheit, die ihn seit vielen Jahren zu strenger Regelmäßigkeit in seiner ganzen Lebensweise und vor allem zum Verzicht auf alle handfesten Genüsse zwang, mit denen andere in der Gegend sich für die rauhe Natur zu entschädigen suchten, wirkte er stets ruhig und zufrieden. Darüber wunderten sich die Leute, und es beunruhigte sie zugleich, besonders weil er nie Trost in der Religion suchte, nie zur Kirche, geschweige denn zum Tisch des Herrn ging und deswegen vom Pastor als einer von jenen Unglücklichen bezeichnet wurde, die der ewigen Verdammnis anheimfielen.

Einer von denen, auf die seine Persönlichkeit den stärksten Eindruck gemacht hatte, war sein Nachbar, der Lehrer. Es war ein jüngerer Mann mit aufgewecktem Geist. Er liebte es, abends zu ihm hinüberzuschlüpfen, um mit ihm über ernste Dinge ein Gespräch zu führen. Der Lehrer war in allen Dingen bemüht, als ehrlicher und redlicher Mann zu leben, weshalb er auch Anspruch auf die ewige Seligkeit zu haben glaubte. Doch trotz dieser guten Aussichten und obwohl er mit Frau und Kindern das schönste Familienleben führte, hatte er doch des öfteren trübe, müde Stunden. Ja mitunter konnte er nicht leugnen, daß sein gottloser Nachbar in all seiner Einsamkeit glücklicher zu sein schien als er. Nachdem er erst einmal Mut gefaßt und dies dem Assistenten eingestanden hatte, antwortete der in seiner ruhigen, knappen Art, er hätte sonst nie seinen natürlichen Wachstumsboden gefunden, wo er allein höchstes Menschenglück kennenlernen konnte, nämlich sich seines eigenen Wesens voll und ganz bewußt zu werden. Als ihn der Lehrer dann aber fragte, wie man es anstellen müsse, um diesen Nährboden zu finden, da antwortete er, hierin könne kein Mensch dem anderen raten, sondern dabei müsse sich sehon jeder furchtlos dem Selbsterhaltungstrieb hingeben, der in allem Erschaffenen vorhanden sei.

Ein anderes Mal drängte ihn der Lehrer, sich doch darüber zu äußern, wie man dieses »höchste« Glück empfinde. Doch auch hierüber wollte er sich nicht näher auslassen. »Fragen Sie Ihren Pastor!« hatte er ironisch gemurmelt. Später hatte er aber doch gesagt, worauf es für jeden Menschen ankomme: er müsse sich soweit wie möglich in eine selbständige, unmittelbare Verbindung mit den Dingen bringen, statt sie durch die Organe anderer zu empfinden, wie das beispielsweise diejenigen täten, die in überholten Vorstellungen lebten. Ein wahrhaft lebendiges Verhältnis zum Leben sei die notwendige Voraussetzung, um neue, beglückende Erkenntnisse aus jedem Erlebnis, dem kleinsten wie dem größten, ja sogar dem schmerzlichsten, gewinnen zu können. Wer nicht aus Erfahrung das Glück kenne, das man empfindet, wenn sich einem ein bislang verborgener Winkel der Gedankenwelt oder der Wirklichkeit auftue, der wisse überhaupt nicht, was es bedeute, daß man lebt.

An diese Worte hatte Lehrer Mikkelsen während der letzten Lebensjahre des Assistenten, in denen dieser trotz seines schrecklichen Krebsleidens nie den Mut verlor, oft denken müssen. Während der Schmerzanfälle war er zwar sehr elend, und häufig schrie er so, daß man sich in den drei Nachbarhäusern Baumwolle in die Ohren stopfen mußte; aber wenn man hinterher zu ihm hereinkam, lag er mit einem Gesichtsausdruck da wie einer, der einen reichen und tiefen Genuß gehabt hatte.

Daß ihm das Leben tatsächlich mitunter ganz unerträglich erschienen war, bestätigte sich auch nach seinem Tod, als man den geladenen Revolver in seiner Nachttischschublade fand.

Die letzten Tage lag er ganz still, ohne jemand sehen zu wollen. Bis zuletzt beschäftigte der physische Auflösungsprozeß seine Gedanken. Als er die Todeskälte in seinen Beinen fühlte, bat er um einen Spiegel.

»Bald ist es vorüber«, sagte er zur Haushälterin und gab ihr den Spiegel zurück. Schon hatte er das Sehvermögen fast ganz verloren.

Kurz danach begann der Todeskampf. Es war gegen Abend bei steifem Südwestwind. Wie ein kranker Hund heulte der Sturm durch die Ritzen an der Türschwelle. Regen schlug gegen die Fensterscheiben. Am Kopfende des Bettes brannte ein Talglicht, und an der kahlen Wand tickte die große silberne Uhr des Vaters.

Die alte Haushälterin hatte zum Schulmeister geschickt, weil sie Angst hatte, mit dem Sterbenden allein zu sein. Doch der Schulmeister brauchte nichts mehr zu tun. Ganz still lag der Assistent in den letzten Stunden da und schlief mit röchelndem Laut. Kurz nach Mitternacht sank sein Kopf zur Seite. Sie hörten einen kurzen Seufzer. Er war tot.

Bei schönstem Oktoberwetter, bei blauem Himmel und fast völliger Windstille, begrub man ihn eine Woche später im Dünensand des Friedhofs. Etwa zwanzig Menschen waren seinem Sarg gefolgt. Man sang einen Gesangbuchvers, aber eine Grabrede wurde nicht gehalten. Die Kirchenglocke hing stumm in ihrem geteerten Gerüst. So hatte es der Tote selbst bestimmt. Zu einer Fanfare, die er über seinem Grab blasen lassen wollte, hatte der Pastor keine Erlaubnis gegeben.

Zwei seiner Geschwister waren zum Begräbnis erschienen: der Ministerialdirektor Eberhard Sidenius und der Propst Thomas Sidenius, beide nicht in Amtstracht. Nach der Beerdigung wurde das Testament geöffnet. Zur Überraschung und zum Leidwesen der beiden Brüder hatte der Tote bestimmt, daß sein Nachlaß dem »konfessionslosen Schulheim der Jakobe Salomon« in Kopenhagen zufallen solle, einer Einrichtung, die keiner von ihnen als verdienstvoll betrachtete. Und dann stellte sich überdies noch heraus, daß außer den Möbeln und verschiedenen Summen in barem Geld auch einige Sparkassenbücher vorhanden waren, insgesamt etwa zehntausend Kronen. Die streng regelmäßige, ja asketische Lebensweise, die dem Verstorbenen vorgeschrieben war und im übrigen sehr gut zu dessen Neigungen paßte, hatte es ihm ermöglicht, etwa die Hälfte seines Jahresverdienstes zurückzulegen, dazu noch alle Extraeinnahmen sowie die Abstandssummen für einige kleinere Erfindungen, die er gemacht hatte.

Die Brüder waren verblüfft.

»Das ist ja wahrhaftig eine bedeutende Summe«, rief der Ministerialdirektor mehrmals, zuerst mit sehr viel Hochachtung, später dann ziemlich nachdenklich.

»Doch, es ist wirklich ein nicht geringes Kapital«, erwiderte der Propst im gleichen wechselnden Tonfall.

Die Brüder schauten sich an.

»Hoffentlich ist er auf redliche Weise dazu gekommen.«

»Wir haben gewiß kein Recht, daran zu zweifeln.«

 

Als der Ministerialdirektor nach Kopenhagen zurückgekehrt war, trieb ihn die Neugier, Fräulein Salomon persönlich die Nachricht von der Erbschaft zu überbringen, die ihrem Schulheim zugefallen war.

Eines Tages ging er nach Nørrebro hinaus, wo das Fräulein ihren vielumstrittenen »Kinderhort« mitten im Armenviertel errichtet hatte. Eine Pförtnerin führte ihn über einen großen Spielplatz mit Bäumen und Bänken, und weil es sich ergab, daß die Vorsteherin gerade mit Unterrichten beschäftigt war, äußerte er den Wunsch, sich während der Wartezeit ein wenig in »diesem Etablissement« umsehen zu dürfen.

Eine Lehrerin kam ihm entgegen und erklärte sich bereit, ihm alles zu zeigen.

An dem einen Ende des großen Gebäudes lag ein hoher, heller, festlicher Speisesaal, in dem die Hälfte der Kinder gerade Essen bekam. Die anderen befanden sich noch in der Schule. An den Speisesaal grenzten ein paar Nähstuben, in denen die Kinder – Jungen wie Mädchen – lernten, die Kleidung auszubessern, Strümpfe zu stopfen und Schuhe zu flicken. Darüber lag eine Reihe von Baderäumen. Jeden dritten Tag – erläuterte seine Begleiterin – würden die Kinder gebadet. Licht, Luft, Wasser und regelmäßige Mahlzeiten seien überhaupt die Mittel, mit denen die Schule das moralische Empfinden der Kinder wecke und durch die sie den Religionsunterricht ersetze.

»Na, das ist ja schön«, warf der Ministerialdirektor ein und räusperte sich.

Die Kinder wohnten nicht in der Schule; es sei gerade die Absicht, daß sie mit ihrem sauberen Körper, ihren gut instand gehaltenen Kleidern und guten Manieren ringsum in den Familien als kleine Missionare für den Glauben an Reinlichkeit, Ordnung und Anstand wirkten. Die Schule stehe jedoch vom frühen Morgen an offen, sobald die Arbeit in den Fabriken beginne, und die Kinder erhielten hier volle Verpflegung für ein ganz geringes Entgelt, das im übrigen den Lebensverhältnissen angepaßt sei.

Ja, dachte der Ministerialdirektor, das ist alles gut und schön, aber . . .

Da kam die Nachricht, daß die Vorsteherin ihn in ihrem Büro erwarte.

Jakobe Salomon war jetzt eine Dame nahe den Vierzigern. Aber obgleich sie ihre stolze, aufrechte Haltung bewahrt hatte, wirkte sie bedeutend älter. Man konnte es ihr ansehen, daß diese Einrichtung hier, die sie mit so großer Energie und unter so viel Widerstand und Verdächtigungen von verschiedenen Seiten geschaffen hatte, sie mehr kostete als nur ihr Vermögen. Der Kampf, den sie sich in ihrer Jugend gewünscht hatte, war ihr in vollem Maße zuteil geworden. Das Gesicht, das ihre Bewunderer einst ein Adlerantlitz, ihre Feinde und Neider eine Papageienfratze genannt hatten, war nun unbestreitbar raubvogelähnlich. Mit ihrem fast weißen Haar, ihrer gelblichen Haut, den großen dunklen Augen, dem langen Hals und ihrem schlichten braunen Kleid, das lediglich mit einem breiten weißen Kragen verziert wurde, glich sie einem Kondor, der von einer Felszinne meilenweit die Ebene überblickt. Als der Ministerialdirektor eintrat, ging sie ihm schnell von ihrem Schreibtisch aus entgegen.

»Ich kann mir denken, daß Sie in der liebenswürdigen Absicht kommen, mir den Tod Ihres Bruders mitzuteilen. Ich habe allerdings die Nachricht schon durch andere erhalten, die die Todesanzeige in der Zeitung gelesen haben.«

»Wenn ich keine andere Veranlassung gehabt hätte, würde ich Sie kaum mit meinem Besuch belästigt haben. Um so weniger, als das Schicksal meines Bruders ja schwerlich Anspruch auf Teilnahme von Ihrer Seite erheben kann.«

»Hierin irren Sie völlig. Ich schulde Ihrem Bruder mehr, als er je geahnt hat. Aus der Entfernung habe ich ihn daher so gut im Auge behalten, wie mir das möglich war. Im Laufe der Jahre entfernten wir uns ja in mehr als einer Hinsicht. Über seine letzten Lebensjahre weiß ich nichts. Sie müssen mir jetzt davon berichten. – Bitte, nehmen Sie doch Platz, Herr Ministerialdirektor! – Und erzählen Sie mir von seiner Krankheit und seinem Tod. Es ist ein eigenartiges Gefühl, gar nichts davon zu wissen.«

Doch der Ministerialdirektor wollte sich nicht setzen. Der ungenierte Ton, den diese ein wenig zweifelhafte Dame ihm gegenüber anzuschlagen wagte, ärgerte ihn, und er verkniff seinen Mund, so daß sein starker, unschöner Unterkiefer noch stärker hervortrat. »Ich würde Sie, wie gesagt, kaum belästigt haben, wenn ich nicht eine besondere Veranlassung dazu gehabt hätte. Aber ich will mich kurz fassen. Ihre Vermutung, daß sich mein verstorbener Bruder nicht nur im buchstäblichen Sinn, sondern auch in seinen Anschauungen und in seiner Denkweise immer mehr von Ihnen entfernt hat, scheint mir – Sie werden verstehen, daß ich für meine Person dies mit Bedauern sagen muß – nicht ganz richtig. Jedenfalls hat er in seinem Testament, gegen dessen Gesetzlichkeit allerdings ernste Einwände zu erheben wären, Sie oder vielmehr Ihr . . . Ihr Institut, oder wie man es nun nennen will, als Universalerben eingesetzt. Da mein Bruder aus gesetzlicher Ehe Kinder hinterläßt, ist das Testament eigentlich völlig ungültig. Aber ich habe erfahren, daß weder von seiten der Erben noch von ihren Vormündern Einwände dagegen erhoben werden, daß sein Letzter Wille in Kraft tritt. Es handelt sich um ein Kapital von zehntausend Kronen, über dessen Herkunft ich allerdings keinerlei Aufklärung zu geben imstande bin. Mir schien, es war meine Pflicht, Sie hiervon in Kenntnis zu setzen . . . um auch aus Ihrem Munde zu erfahren, ob Sie das Geld überhaupt anzunehmen wünschen.«

Jakobe Salomon stand neben einem Stuhl und stützte sich mit dem Ellenbogen auf die Lehne. Sie war tief ergriffen. Jugenderinnerungen strömten auf sie ein. Diese Frau, die nur wenige Menschen hatten weinen sehen, konnte in diesem Augenblick die Tränen nicht zurückhalten. »Warum sollte ich es nicht annehmen?« sagte sie still. »Ihr Bruder und ich – wir waren sehr verschieden. Und ich habe oft darüber nachgedacht, daß ich wahrscheinlich eine Natur wie die seine nur schlecht verstand. Doch um so dankbarer bin ich für den Gruß, den er mir geschickt hat.«

»Dürfte ich Sie, Fräulein Salomon, in diesem Zusammenhang vielleicht an eine Unterredung erinnern, die wir vor sechzehn, siebzehn Jahren hatten? Seinerzeit gebrauchte ich über das Verhältnis zwischen Ihnen und meinem Bruder etwa dieselben Worte, deren Sie sich soeben bedienten. Ich glaube, nun müssen Sie mir zugestehen, daß es für alle Teile besser gewesen wäre, wenn Sie damals mehr Vertrauen zu meiner Urteilskraft gehabt hätten.«

Jakobe Salomon hob den Kopf und sah ihn stolz an. »Da sind Sie abermals völlig im Irrtum, Herr Ministerialdirektor! Nichts wünsche ich ungeschehen! Im Gegenteil, ich betrachte es als ein großes Glück für mich, daß ich Per gekannt habe. Durch das Glück und den Schmerz, den er mir bereitete, bekam mein Leben erst seinen eigentlichen Inhalt. Das Werk, das Sie hier ringsum sehen, ist im Grunde ebenso das seine wie das meine. Und deshalb werde ich ihm stets zutiefst dankbar sein.«

»Ja – hm – hierüber gelangen wir beide – Sie und ich doch wohl kaum zu einem Einverständnis. Ich will Sie darum auch nicht länger aufhalten. Leben Sie wohl!«

Eines Abends, es war eine Woche nach der Beerdigung, hielten sich Lehrer Mikkelsen und Wiesenmeister Nielsen, der zugleich Gemeindevorsteher war, in dem sonst so wohlverschlossenen Haus des Toten auf, um auf Wunsch seiner inzwischen abgereisten Brüder ein Inventarverzeichnis aufzustellen. Was an Wertpapieren, Briefen und dergleichen Dingen vorhanden gewesen war, hatten die Brüder mitgenommen. Aber jetzt fand man in einem Tisch, dessen Schubfach zufällig zur Wand gekehrt war, ein dickes Heft, fast ein kleines Protokoll, voller Aufzeichnungen, in der fast unleserlichen Handschrift des Assistenten.

Lehrer Mikkelsen konnte sich nicht enthalten, sogleich hineinzusehen. Während der Gemeindevorsteher in den anderen Räumen mit der Lampe herumging und seine Liste anfertigte, saß er im Schlafzimmer bei einem Talglicht, das in einen Flaschenhals gesteckt war, und blätterte in dem Manuskript.

Es war eine Art Tagebuch, das der Assistent in all den Jahren geführt hatte, solange er in dieser Gegend wohnte. Hier hatte er seine Gedanken niedergelegt und überhaupt gleichsam Zwiesprache mit sich selbst geführt über alles, was ihm begegnet war.

Auf einem der ersten Blätter buchstabierte sich der Lehrer mühselig durch folgendes hindurch:

»Solange wir jung sind, stellen wir maßlose Forderungen an die lenkenden Mächte unseres Daseins. Wir verlangen, daß sie sich uns offenbaren. Der Schleier des Geheimnisvollen, unter dem sie wirken, beleidigt uns. Wir möchten die große Weltmaschinerie kontrollieren und korrigieren. Wenn wir etwas älter werden, lassen wir in unserer Ungeduld den Blick schweifen über die Menschen und die Geschichte der Menschheit, um wenigstens hier den Zusammenhang, die Gesetze, die Entwicklung zu finden, kurz, um hier den Sinn des Lebens, das Ziel unserer Kämpfe und Leiden zu suchen. Bis uns eines Tages eine Stimme in unserem Innern, eine Geisterstimme, die Frage vorlegt: Aber wer bist du selbst?

Von diesem Tag an kennen wir keine andere Frage als diese. Von nun an ist unser eigenes, wahres Ich die große Sphinx geworden, deren Rätsel wir lösen wollen. Mein wahres Ich? Der Mann, der heute morgen in strömendem Regen losfuhr, mißmutig, verbittert, des Lebens und seiner Mühsal so unendlich müde – war das mein wahres Ich? Oder der dort in der Dämmerung in der Ofenecke saß und sich beim Prasseln des Feuers einlullen ließ in glückliche Träume von Haus und Familie und spielenden Kindern – war das mein wahres, einziges Ich? Oder der jetzt hier allein bei der Lampe sitzt, weder froh noch traurig, weder alt noch jung, durchdrungen von jenem stillen, erhabenen Frieden, wie ihn nur Nacht und Einsamkeit schenken – bin ich das, ich selbst? So wie ich aus der Natur hervorging, unentstellt, makellos? Oder ist das alles zusammen mein Ich?

Was wir unsere Seele nennen – ist das nur eine vorübergehende Stimmung, ein Resultat unseres nächtlichen Schlafs und unserer Zeitungslektüre? Etwas, was vom Barometerstand oder den Marktpreisen abhängt? Oder haben wir ebenso viele Seelen in uns, wie es Bilder gibt in einem Schüttelspiel? Sobald man den Kasten schüttelt, kommt ein anderes zum Vorschein: ein Narr, ein Schlagetot, eine Nachteule . . . Ich frage, ich frage!«

Lehrer Mikkelsen war überrascht; in diesen verzagten Zeilen erkannte er den Assistenten nicht wieder. Als er aber weiter in dem Buch blätterte, um zu den Aufzeichnungen vorzudringen, die aus den späteren Jahren stammten, stieß er auf einen Brief, der zwischen den Blättern des Tagebuchs versteckt lag. Er betrachtete die Aufschrift. Da stand: »Herrn Wegebauassistent P. Sidenius«, und aus dem Stempel auf der Briefmarke konnte er ersehen, daß der Brief erst einige Monate alt war.

Nach kurzem Kampf mit seinem Gewissen zog er das Papier aus dem Umschlag. Es war eine Frauenhandschrift. Als Absendeort stand ganz oben auf der ersten Seite »Budderuplund«, und der Brief lautete:

»Ich höre, daß Du krank bist, sehr krank. Ich breche daher das Schweigen, das Du mir auferlegt hast. Ich werde erst wieder ruhig sein, nachdem ich Dir meinen unendlichen Dank ausgesprochen habe für alles, was Du um meines Glückes willen geopfert hast. Jetzt verstehe ich Dich ganz, verstehe, daß Du nur mein Bestes wolltest, und dafür kann ich Dir nie genug danken. – Von unseren drei Kindern kann ich Grüße ausrichten. Es geht ihnen gut, ebenso wie meinen beiden jüngsten. Hagbarth ist jetzt Student, er will Ingenieur werden und besitzt eine ungewöhnliche Begabung, das sagen alle. Dabei ist er ein munterer, kräftiger Bursche, so daß er in der Welt schon vorwärtskommen wird. Ingeborg wurde letzten Herbst konfirmiert; sie und die kleine Lise habe ich noch hier zu Hause. Sie kennen Dich ja nicht; Du hast es ja so gewollt, und vielleicht war es auch so am richtigsten. – Noch einmal meinen innigsten Dank für alles. Gebe Gott Dir die Kraft zu tragen, was auch immer geschehen mag.

Inger«

Lehrer Mikkelsen nickte verstohlen vor sich hin und schob dann leise das Papier wieder in den Umschlag. Was für ein sonderbarer Mensch er doch war, dachte er.

Der letzte Teil des Tagebuches bestand vor allem aus undatierten kurzen Abschnitten, und mehrere endeten mit demselben Satz, der hin und wieder unterstrichen war: »Die Natur ist reich, und sie ist weise und barmherzig!« An solchen Stellen erkannte Mikkelsen mit Leichtigkeit Gedanken und Ausdrücke aus der Rede seines Freundes. Wie etwa in dem folgenden Abschnitt:

»Ohne jenen zutiefst menschlichen Entfaltungsdrang, ohne jene Schöpferkraft, die sich in der Leidenschaft äußert, sei sie nun auf die Wirklichkeit, die Gedankenwelt oder das Reich der Träume gerichtet, und ohne jenen gewaltigen, ja abenteuerlichen Mut, sich selbst zu wollen in göttlicher Nacktheit, gelangt niemand zur wirklichen Freiheit. Daher preise ich mich glücklich, daß ich in einer Zeit gelebt habe, die diesen Drang wachrief und diesen Mut stärkte. Sonst wäre ich mein ganzes Leben lang ein halbfertiger Mensch, ein Sidenius, geblieben.«

An einer anderen Stelle:

»Leben und Historie Christi lehren uns in Wirklichkeit nichts weiter als dies – und es ist schon eine alte Weisheit –: Es gibt nur eines, das das Leid überwinden kann: die Leidenschaft.«

Auf einem dritten Blatt stand:

»Ehre den großen Träumen meiner Jugend! So wurde ich also doch ein Welteroberer! Die Seele jedes Menschen ist ein selbständiges Universum, sein Tod ist ein Weltuntergang im kleinen.«

An einer Stelle las er folgende Zeilen:

»Heute meldeten die Zeitungen, daß Herr Steiner zum Etatsrat ernannt worden ist. Wie? Für ein ganzes in Lügen und atemlosem Schwindel vergeudetes Leben – nur einen Etatsratstitel? Die Welt bezahlt schlecht. Armer Herr Steiner! Wenn Sie ahnten, wie königlich frei und unantastbar ich mich fühle in meiner Namenlosigkeit, dann würden Sie verstehen, daß Sie der Betrogene sind. Doch jetzt wissen Sie es nicht und sind froh. Sie beglückwünschen sich selbst und stoßen mit Champagner an auf das Wohl Ihrer Berühmtheit. Aber die Natur ist reich, sie ist weise und barmherzig.«

An anderer Stelle stand folgendes unter der Überschrift »Von Gott«:

»Es wird Voltaire das Wort zugeschrieben: ›Wenn Gott nicht wäre, müßte man ihn erfinden.‹ Für mich liegt mehr Wahrheit in dem Satz, wenn man ihn umkehrt. ›Wenn es wirklich einen Gott geben sollte, dann müssen wir versuchen, ihn zu vergessen, und zwar nicht aus Furcht vor unseren schlechten Taten und deren Bestrafung, sondern um Menschen zu erziehen, die das Gute um des Guten willen tun wollen.‹ Wie kann man einem Armen reinen Herzens ein Almosen geben, wenn man glaubt oder interessiert ist, daran zu glauben, daß ein Gott im Himmel sitzt, der darauf herabsieht und beifällig nickt?«

Weiter unten stand unter der Überschrift »Mehr vom Glauben«:

»Wir umgeben uns im Leben mit so vielen Sachen, die zufällig unser Eigentum geworden sind. Eines Tages entdecken wir, daß wir eine Kommode brauchen, gehen zu einem Tischler und kaufen eine, die zufällig dasteht. Gleichgültig mustern wir sie. Vielleicht ist sie nicht einmal nach unserem Geschmack, aber im selben Augenblick, da wir uns entschlossen haben, sie zu kaufen, da sie unser Eigentum geworden ist, geht eine geheimnisvolle Verwandlung mit dieser Kommode und mit uns vor. Behutsam streicht unsere Hand über die Politur, liebevoll und ängstlich verfolgen wir sie mit den Augen, wenn die Ziehleute sie die Treppe hinuntertragen. Und sind wir später im Leben einmal gezwungen, uns von ihr zu trennen, dann ist uns, als hätten wir einen Teil unseres Selbst verloren. Das ist das Geheimnis des Besitzens, ist es nicht auch das des Glaubens?«

Aus seinem letzten Lebensjahr stammte eine Aufzeichnung, die die Überschrift »Das große Gespenst« trug.

»Drüben auf der Insel Mors geschah vor einigen Jahren folgendes: Ein Gutsherr hatte zwei Söhne. Sie waren noch klein. Der jüngere war ein verschlossener Junge mit trotzigem Sinn, den der Vater beugen wollte. Eines Tages, der Junge war inzwischen zehn Jahre alt geworden, stellte er wieder etwas an und sollte bestraft werden. Da suchte er Zuflucht auf einem hohen Baum im Garten. Zitternd vor Wut und – wie auch behauptet wird – von zu reichlichem Weingenuß, denn er war eben von einem Jagdfrühstück auf einem Nachbargut zurückgekehrt, stand der Vater mit der Reitpeitsche vor dem Baum und befahl dem Jungen herunterzukommen. Doch so laut er auch brüllte, soviel er auch drohte – der Bursche blieb oben und kroch in seiner Angst sogar noch höher hinauf, bis man ihn zuletzt ganz oben im Wipfel sah. Da hörte man plötzlich einen Schrei. Der Ast, auf dem er Fuß fassen wollte, brach ab, und der Junge stürzte zur Erde. Er blieb ein Krüppel sein Leben lang. Die Gewissensbisse aber machten den Vater wahnsinnig, so daß er bis zu seinem Tod in einer Irrenanstalt bleiben mußte.

Inzwischen wuchsen die Söhne heran: der älteste wurde ein kraftstrotzender, rotwangiger Junker, so recht, was man einen Prachtkerl nennt. Er heiratete ein hübsches Mädchen und setzte eine Schar gesunder Kinder in die Welt. Unter seiner Leitung entwickelte sich das Gut zu einem Musterhof, er tat alles, was man von einem gutgewachsenen Mann verlangen kann. Sein Bruder dagegen lag blaß und still auf einem Ruhebett im Park, umflattert von seinen Freunden, den Vögeln, die ihm aus der Hand fraßen. Er fühlte sich durchaus nicht unglücklich. Ihn peinigte nur das Mitleid der dummen Menschen und der Gedanke an das elende Leben des Vaters. Ich habe ihn selbst gesehen. Damals war er etwa achtzehn bis neunzehn Jahre alt, und den verklärten Ausdruck in seinem Gesicht habe ich nicht vergessen. Es war, als sei seine ganze hilflose Gestalt von strahlendem Licht umgeben. Als Ersatz für die Gesundheit, deren er beraubt worden war, hatte er jenen sechsten Sinn bekommen, der seiner Seele die tiefsten Freuden bescherte. Der Tolpatsch mit dem störrischen Kobold im Blick war nun zwar ein armer Krüppel geworden, weder Mann noch Frau, weder Kind noch Erwachsener; doch dafür war er jetzt ein Mensch, in dessen Augen sich die Unendlichkeit widerspiegelte in all ihrer Klarheit, Tiefe und Ruhe. Und ich mußte an seinen Vater denken, den sein böses Gewissen – dieses häßliche Gespenst – in die Finsternis getrieben hatte, weil er nicht den Glauben, den rechten Glauben, besaß: den Glauben an die Natur, die reiche, weise und barmherzige, die Rat weiß für alles, die mildtätig an dem einen Glied wiedergutmacht, was wir am anderen verloren haben, die . . .«

Der Lehrer wurde durch den eintretenden Gemeindeversteher in seiner Lektüre unterbrochen. »Ja, nun sind wir wohl fertig, Mikkelsen. Was haben Sie denn da noch?«

»Das ist nur das Buch, das wir hier in dem Schubfach gefunden haben. Was sollen wir damit machen? Es sind doch handschriftliche Sachen, die können doch wohl nicht auf die Auktion kommen, und zum Verbrennen sind sie eigentlich zu schade. Meinen Sie nicht, lieber Nielsen, daß ich dies Tagebuch mit gutem Gewissen an mich nehmen und behalten kann? Dann hätte ich doch eine Art Erinnerung an den Assistenten. Denn – um die Wahrheit zu sagen – ich werde mich noch oft nach ihm sehnen; und hier steht gerade so viel von alldem, worüber wir hier so oft gesprochen haben; es ist geradeso, als würde dies alles wieder aufgefrischt.«

»Nehmen Sie es ruhig mit, Mikkelsen. Für Geschriebenes haben wir keine Verantwortung. Und irgendwelchen Geldwert hat das ja nicht.«

Und dann zündete der Gemeindevorsteher eine Laterne an. Lampe und Licht wurden ausgelöscht, und die beiden Männer traten aus dem leeren Haus und schlossen es sorgsam hinter sich zu.

 


 


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