Wilhelm Raabe
Pfisters Mühle
Wilhelm Raabe

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Elftes Blatt

Auf dem Stadtwege nach Pfisters Mühle

Der Tag Adams und Evas! – Fürs erste war es ein Morgen über und um Pfisters Mühle, so blau und so grün, so lau und doch so frisch, so sonnenklar und so voll lieblichen Schattens, wie vielleicht der, an welchem in dem großen Tiergarten der Erde die erste Eva verschämt-zärtlich zum erstenmal leise die Hand dem Adam auf die Schulter legte und flüsterte:

»Da bin ich, lieber Mann!«

Es steht nicht im Buch der Genesis und wird natürlich nur von der Bank stammen, auf der die Spötter sitzen – nämlich, daß unser aller Stammvater in der dem süßen Wunder vorhergehenden Nacht bedenklich schwer geträumt habe, und zwar apriorisch von unendlichen Katzbalgen mit und unter seinesgleichen, und daß er in jener Nacht, und zwar im Traume, noch einem Dinge seinen Namen gegeben habe. Es ist unbedingt nicht wahr, daß zu dem Begriff Rippenstoß in jener Nacht das Wort gefunden worden sei. –

Was nun das Fleisch von meinem Fleisch, das Bein von meinem Bein anbetrifft, so gelang es dem an diesem schönen Morgen nicht wie sonst wohl, scherzhaft mich durch einen Nasenstüber zu erwecken und dabei in eine seiner wunderwollen blonden Flechten kichernd mir zu insinuieren:

»Drei Teile seines Lebens
Verschläft der Dachs vergebens –

sieh doch nur die Sonne, Ebert! Wir sollten schon seit einer Stunde draußen unter den Bäumen sein. Du bist doch eigentlich ein zu furchtbarer Faulpelz, liebstes Männchen!«

Seit einer Stunde schon saß ich unter den Bäumen meines alten Mühlgartens und hatte den wonnigsten Morgen unserer Sommerfrische für mich allein.

»Mit dem Kaffee warte ich wohl, bis unser Frauchen kommt?« hatte Christine gemeint, und ich hatte selbstverständlich durchaus kein Bedürfnis gehabt nach dem Kaffee in Abwesenheit meines »Fräuleins«, wie Doktor Martin Luther übersetzt.

Endlich hatte das Fenster geklungen und der Vorhang sich bewegt. In rosiger Verschlafenheit hatte sich mein Kind, meine holdselige Sommerfrischlerin, herausgebeugt in der Sicherheit, daß keine fremden Leute, keine frühen Gäste, Brunnentrinker und Lustwandler aus der Stadt mehr von den Tischen und Bänken des alten Gartens aus sie belauschen konnten.

»Nun seh' einer den Durchgänger! Gott, wie lange sitzest du denn da schon, Ebert? Himmel, wie spät ist's denn eigentlich?... Laß dir nur den Kaffee bringen; in fünf Minuten bin ich bei euch!«

Der weiße Vorhang war von neuem zugefallen, und wirklich nicht länger als eine gute halbe Stunde hatte es gedauert, bis mir meine zweite, noch lieblichere Sonne aufging an dem neuen Lebenstage unter den Bäumen, den verwirkten Paradiesesbäumen von Pfisters Mühle.

Sie – Emmy Pfister, geborene Schulze – trippelte daher vom Hause im leichten, lichten Morgenkleid und verlor einen zierlichen Pantoffel auf dem Wege und kehrte sich um, ihn aufzuheben, hüpfte mit ihm in der Hand – natürlich in meine Arme, und – weg hatte ich ihn – den Klaps mit dem ersten Kuß am Tage:

»Weißt du wohl, daß du mir gestern abend ganz dumme Geschichten erzählt haben mußt, Ebert? So unruhig wie in vergangener Nacht habe ich lange nicht geschlafen und so schwer geträumt auch nicht.«

»Armes Vögelchen! Na, jedenfalls kannst du sie mir wiedererzählen.«

»Meine Träume? Ja... warte mal...«

»Nein, meine Geschichten meine ich!«

»O die! Ja natürlich! Selbstverständlich vom Anfang bis zum Ende!«

Ich meine jetzt noch etwas, nämlich, daß es mehr als bloß mich gibt, die es aus Erfahrung wissen können, daß die letzte Behauptung meines Weibes eine von der Weiber siegessichersten Lügen war und es gewesen wäre, selbst wenn sie im Buch der Bücher auch schon von Frau Eva vorgebracht worden wäre.

Widerstand zu leisten, war also nicht von mir zu verlangen an dem schönen Morgen. Ich nahm ihn mit allem, was er an süßen Reizen brachte, hielt mich durchaus nicht länger beim gestrigen Abend auf, sondern fragte nur im logik-vergessensten Behagen:

»Herz, mein Herz, was sagst du heute zu unserm Leben und zu Pfisters Mühle?«

»Himmlisch ist's, Männchen, und bei solchem Wetter, ehe der Tag zu heiß wird, wirklich schade, daß es so bald damit aus und vorbei ist – eure Pfisters Mühle meine ich natürlich. Läge sie nur ein bißchen näher bei den Leuten, so wär's zu hübsch, alle paar Jahre uns wieder mal in die Stille hinzusetzen! Ja, wovon ich geträumt habe, fragtest du? Natürlich von schlechten Gerüchen, von ganz greulichen, und von großer Wäsche bei uns in Berlin, und von Doktor Asche, aber wie gesagt, hauptsächlich von schrecklichem Gestank, grade wie du mir vorher davon erzählt hast. Habe ich nicht geächzt im Schlafe? Nicht? Na, dann ist es einfach zu arg darin gewesen, und ich habe nicht gekonnt. Übrigens begreife ich jetzt an diesem reizenden Morgen keinen von euch allen – deinen seligen Papa nicht, dich nicht und eure Gäste auch nicht mit ihrem Naserümpfen. Doktor Asche hatte ganz recht, daß er gar nichts auf eure Querelen gab, sondern sich bloß ganz einfach über euch lustig machte mit seinem eigenen gelehrten, scheußlichen und wissenschaftlichen Geruch zum Besten der Welt und der Industrie... Aber heiß wird es heute werden, und da wird es heute in Berlin schrecklich sein, und es ist wirklich himmlisch, Ebert, daß wir hier jetzt so in der wonnigen Kühle und der Sonne und dem Tau sitzen und uns auch den ganzen Tag über von einem schattigen Sitz auf den andern ziehen können. Wie schade, daß wir nicht Frau Albertine und den Doktor bei uns haben! Die werden heute auch genug von der Hitze in Berlin ausstehen müssen.«

Die Kleine hatte wie gewöhnlich recht. Es wurde sehr heiß an diesem Tage, so heiß, daß wir uns nach Mittag aus dem schwülen Garten doch ins Haus und im Hause an den kühlsten Platz verzogen.

Der kühlste Platz aber war die Mühlstube oder, wie der wissenschaftliche Mühlengelehrte das heute nennt, die Turbinenstube.

Ich bin ein ungelehrter Müllerssohn und sonst im Leben ein einfacher Schulmeister, der sich bescheiden wegduckt und in den Winkel drückt mit seinem Griechischen und Lateinischen, wenn die Tagesherrin, die reale Wissenschaft, mit ihren philosophischen Ansprüchen und gelehrten Ausdrücken kommt. Ich fand es wie Emmy ebenfalls am kühlsten in der Mühlstube von meiner Väter Mühle und ließ in urältester Weltweisheit den Wassern draußen ihren rauschenden Weg vorbei an den nutzlosen, gestellten Rädern.

In der Mühlstube von Pfisters Mühle habe ich Emmy von Frau Albertine Asche und ihrem Mann, da wir sie in Person leider nicht bei uns haben konnten in der Kühle, weiter erzählt und – mir auch.

Es standen die Türen aller Räume des verkauften Hauses offen, und so hatten wir von dem Tischchen aus, das wir uns in unsern Zufluchtsort getragen hatten, den Ausblick über den Flur auch in das alte, jetzt vollständig leere Gastzimmer. Das Beste war, man brauchte sich in dieser Sommerfrische gar keinen Zwang anzutun. Hemdärmelig ging ich im Schwatzen mit meiner Zigarre herum um Trichter und Beutelkasten, um Ober- und Untermühlstein, lehnte am Kammrad und trat auch wohl auf den Hausflur und schritt in der Gaststube auf und ab. Letzteres aber nie allzulange. Die Schritte klangen zu hohl in dem geleerten Raume.

Wo bleiben alle die Bilder?

Nun waren wir, Emmy und ich, wieder auf der Landstraße mit dem Freunde und chemischen Doktor Adam Asche, und Emmy meinte:

»Daß die Geschichte im Winter liegt, ist heute wirklich sehr angenehm bei der schrecklichen Temperatur. In der Wüste Sahara oder unter dem Äquator hielte ich es selbst in der Idee nicht aus. –

Im Winter lag freilich die Geschichte. Es war auf der Chaussee bei jener Wanderung zu meinem damaligen Christbaum in Pfisters Mühle ganz das Wetter, welches sich Freund Asche für den Weg gewünscht hatte. Der Wind pfiff uns schneidend um die Ohren, und wir hatten nicht wenig zu lavieren, um ihm die beste Seite abzugewinnen und immer querüber weiterzukommen. In der Stadt herrschte, als wir sie hinter uns ließen, all das Leben, welches der letzten Stunde vor dem Anzünden des ersten Lichtes an der Tanne voranzugehen pflegt. Sie liefen noch in den Gassen – die Landstraße hatten wir für uns allein, nachdem wir die Fabriken am Wege, die ihre Tätigkeit auch heute abend nicht aussetzten, die Region der »Bockasche«, passiert hatten.

Die Fabriken erstrecken sich heute schon so ziemlich bis an das Dorf hin und die Region der Bockasche also ebenfalls. Damals waren zwei Drittel des Weges noch frei davon, und nur vereinzelte Häuschen kleiner Leute lagen an diesem Wege, im Rücken das freie Feld.

In dem letzten dieser Häuschen, nach dem Dorfe zu, sahen wir die ersten flimmernden Weihnachtskerzen durch das beschweißte Fenster. Als wir die Mühle erreichten, war es vollkommen Nacht.

»Schwefelwasserstoff! und... Gänsebraten!« ächzte A. A. Asche unter dem guten, alten Schenkzeichen, in vollster Gewißheit seines chemischen und kulinarischen Verständnisses mit erhobener Nase den Duft in der Haustür einziehend. »Keine andere Diagnose möglich am Krankenbette!... Vivat die Wissenschaft!... Gänsebraten heute gottlob vorherrschend! Pfisters Mühle mit allen ihren Gerüchen in Ewigkeit!«

»Ich danke, Doktor Adam«, sagte mein Vater auf der Schwelle seiner gastlichen Pforte. – –

Wo bleiben alle die Bilder und – die Gerüche in dieser Welt? Es riecht heute nicht nach Gänsebraten und (da es Sommer ist) auch nicht nach Schwefelwasserstoff, Ammoniak und salpetriger Säure. Ein feiner, lieblicher Wohlduft hat eben die Oberhand und stammt von Emmy, aus ihrem Nähkasten und dem Gewölk feinen Weißzeuges, das sie auf Tisch und Stuhl um sich versammelt hat, und wirkt berauschender und mächtiger als sonst ein Duft aus der alten Hexenküche, Erde genannt. Die heiße Julisonne fällt durch jeden Ritz und Spalt in die kühle aufgegebene Mühle. Die Stuben sind, wie gesagt, ausgeleert von Gerätschaften, und selbst die Fliegen haben nur ihre vertrockneten Leichname in den staubigen Fenstern der Wohn- und Gaststube zurückgelassen. Es ist ja ein Wunder, wie Christine das Notwendige für unsere wunderliche, mir so märchenhafte Villeggiatur für uns zusammengebracht hat und wie uns, meinem jungen Weibe und mir, eigentlich nichts, gar nichts mangelt, obgleich wir allstündlich so manches vermissen.

»Das spricht eigentlich doch für vieles, Emmy – was?«

»Du dummer Mann – natürlich!... aber ärgerlich ist's doch, daß ich nicht damals schon mit dabeigewesen bin. Jetzt erzähle nur zu, närrisches Menschenkind. Da, fädele mir aber erst meine Nadel ein. Die Nähmaschine hätten wir doch mit herausbringen sollen. –

»Na, da seid ihr ja endlich! Seit Stunden guckt man nach euch aus«, sagte mein Vater, mit einer Laterne und einem Korb voll Flaschen eben aus der Kellertiefe und -tür emporsteigend. »Halt mal das Licht, Junge«, sagte er, mir die Laterne reichend und mit der freigewordenen Hand meinen Begleiter am Oberarm packend und ihn unter dem Tor festhaltend. »Ärger denn je! Na, was meint Ihr, Doktor?«

»Ganz wie ich es mir gedacht habe«, meinte grinsend Freund Asche. »Es war Gott sei Dank immer eine nahrhafte Hütte, Vater Pfister. Der Vogel gehört vollkommen in den heutigen Abend, und wenn ich sagen würde, daß ich nicht auf ihn in der Bratpfanne gerechnet hätte, so löge ich.«

»Sapperment, meine ich den Geruch?« brummte der alte Herr. »Was geht in diesem Ärgernis von Gedünsten mich das an, was aus meiner Küche kommt?«

»Hm«, sprach Doktor Asche, »von dem übrigen lieber morgen. Jaja – industrielle Blüte, nationaler Wohlstand und – Ammoniak nicht zu verkennen, trotz aller Füllung mit Borsdorfer Äpfeln. –

Einen Augenblick sah Vater Pfister seinen Günstling und Gastfreund an, als wisse er nicht recht, ob er ihm nicht noch etwas zu bemerken habe; dann aber, seine Müllerzipfelkappe vom rechten aufs linke Ohr schiebend, meinte er mit dem alten, behaglichen, guten breiten Lächeln: »Na, im Grunde habt Ihr recht, und so will ich's auch noch mal versuchen, mir den Appetit nicht verderben zu lassen. So kommt herein in die Stube, junge Leute, und seid willkommen in Pfisters Mühle.«

Umsprungen und umwedelt von allen Hunden des Hauses traten wir in die Stube und nahmen den Flaschenkorb mit hinein. Oh wie die Mühle an jenem Abend noch voll war von allem, was zur Behaglichkeit des Lebens gehört! Und wie angenehm es war, aus der Kälte in die Wärme, aus der Dunkelheit in den Lampenschein, von der Landstraße in die Sofaecke hinter geschlossenen Fensterläden zu kommen!

Meiner Väter Hausrat noch überall an Ort und Stelle – die Kuckucksuhr im Winkel, die Bilder an den Wänden (nur die Herren Studenten und der Liederkranz hatten ja ihre Massengruppierungen in Lithographie bis jetzt weggeholt), der ausgestopfte Wildkater in seinem Glaskasten über der Kommode und die zahme Hauskatze am Ofen, sich bis über die Ohren putzend, weil Gäste kommen sollten! Es ist nicht auszusagen, wo alle die Bilder bleiben. – –

Die Gäste, die kommen sollten, waren wir – ich, der Haussohn, und Doktor Asche, der gerufen worden war, um dem Behagen von Pfisters Mühle den Puls zu fühlen; aber es waren auch schon Gäste vorhanden, derentwegen Miez am Ofen sich dreist über die Ohren putzen durfte. Der lange Tisch, der sich sonst unter gewöhnlichen Umständen die eine Wand entlang vor der Bank herzog, war in die Mitte der Gaststube gerückt, mit einem weißen Laken überzogen und mit allem versehen, was in Pfisters Mühle zu einer festlichen Tafel gehörte. Auf der Bank, die sie demnächst an den Tisch nach sich rücken sollten, saßen die Knappen und der Junge in ihren reinlichen Müllerhabitern (wie die weißen Tauben auf dem Dachfirst, meinte Asche), und hinter einer geputzten Tanne stand Samse (wie der Feuerwerker hinter der Kanone, meinte Asche), bereit, auf den ersten Wink von Vater Pfister loszubrennen, das heißt, die gelben, grünen, roten Wachslichter zwischen den vergoldeten Nüssen und Äpfeln, den Zuckerherzen und allem, was sonst Christine aus der Stadt zum Zweck mitgebracht hatte, anzuzünden. Christine selbst freilich scharwerkte in Verbindung mit den beiden Mägden der Wirtschaft noch aufgeregt in der Küche und hatte mir vorerst nur eine feuchte und nach einem Gemisch von Zwiebeln und Zitronen duftende Hand zum Willkommen durch die Türspalte reichen können.

Es war ihnen gottlob allen lieb, daß wir endlich da waren. Sie kamen sämtlich bei unserm Eintritt in Bewegung. –

»Ran mit der Lunte, Samse!« kommandierte mein Vater, und über alles Begrüßungsgetöse von Vater Pfisters Weihnachtsgesellschaft klang eine tiefe, klangvolle Stimme:

»Willkommen im Hafen, meine Herren!«

Man muß sich immer erst eine Weile an das Licht gewöhnen, wenn man von der Landstraße, aus der Nacht und dem scharfen Nordost kommt. Wir hielten beide noch die Hände über die Augen; aber jene Stimme kannten wir seit lange bei Nacht und bei Tage.

»Je, auch der Sänger!..... Vater Pfister, Sie sind wie immer der Meistermann!... Lippoldes! Natürlich – zu dem Guten bringt er das Beste! Guten Abend, göttergeweihter – alter Freund.«

»Ich erlaube mir, Ihnen meine Tochter vorzustellen, Asche. – Meine Tochter – Herr Doktor Asche! – Herr Eberhard Pfister junior – meine Tochter Albertine! Ja, Ihr Herr Vater war so freundlich, uns zu dem heutigen Festabend einzuladen, lieber Ebert!«


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