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Vater Pfisters Elend unterm Mikroskop
Am andern Morgen begannen wir (nicht Emmy und ich: wir halfen den Bauern im Dorfe beim Heumachen und kamen erst am Abend zu den Geschichten von Pfisters Mühle zurück) die wissenschaftlichen Forschungen und beschäftigten uns mit den ersten Vorbereitungen zu der Diagnose, behufs welcher Doktor Asche von meinem Vater an das Krankenbett seiner einst so gesunden, fröhlichen Wirtschaft berufen worden war.
»Es ist freilich arg!« sagte der sonderbare Mühlenarzt und Wasserbeschauer, als er die Nase aus dem Fenster unterm Dachrande in den grauen, feuchtkalten Morgen hinausschob und sie niesend wieder zurückzog. »Hm, und auch nur, weil die Menschheit ihre Welt nicht süß genug haben kann!«
Wir stiegen hinab in die Weihnachtsstube und fanden sie zwar gefegt und zurecht rückt, aber doch auch voll seltsamer Dünste, die nicht bloß von dem vergangenen lustigen Abend her an ihr hafteten. Die Tanne war bereits in den Winkel geschoben, und am Tische saß mein Vater in seiner Hausjacke, wenig festtäglich gestimmt.
»Die Leute und die Weibsleute gehen ins Dorf in die Kirche, und ich würde auch hineingehen und euch zwei Heiden mitnehmen, wenn es mir noch so wäre wie vor Jahren und als deine selige Mutter noch bei uns war, Ebert; aber das Gemüte ist mir nicht mehr darnach, und ändern kann ich's leider nicht. Setzt euch und trinkt Kaffee. Wir haben seit Jahrhunderten in unserer Mühle unsern Stolz an unserm Oster-, Pfingst- und Weihnachtskuchen gehabt, aber auch er ist mir nicht mehr derselbige, sondern riecht und schmeckt mir nach Vergiftung und Verwesung; und alle blutigen Tränen, die mir die Christine hinweint, wenn ich ihr den Teller zurückschieben muß, helfen nichts dagegen. Freßt euch hinein, liebe Jungen, und Gott segne euch euern bessern Appetit und eure grünere Hoffnung! Nachher wollen wir dann in Teufels Namen in der Mühlstube die Nase so voll als möglich nehmen und sehen, ob es wirklich von Nutzen ist, was Sie gelernt und getrieben haben die langen Jahre durch, Adam. Uh, das wäre dann meine Weihnachtsbescherung!«
Über unsere Würdigung ihres Feiertagsgebäcks hatte unsere Christine keine Tränen zu vergießen. Wir fraßen uns tief genug hinein in die Berge, die sie vor uns aufgehäuft hatte und – hoffentlich wird sie mir noch zu manchem Feste in Berlin denselben Kuchen backen, wegen dessen Pfisters Mühle vordem so berühmt war.
In er Turbinenstube hatten wir dann mit Vater Pfister das Reich und den Geruch ungestört zu unserer gelehrten Disposition. Ob die Knappen wirklich sich in der Kirche befanden, wie der alte Mühlherr voraussetzte, kann ich nicht sagen; aber gegenwärtig waren sie nicht, und das Rad stand, und wir standen auch und schüttelten die Häupter.
Es war sehr arg!
»Mit der Nase brauche ich keinen draufzustoßen«, ächzte mein Vater; »aber die Augen und das Gefühl sollen ja auch das ihrige haben! Ja, sehen Sie sich nur um, Doktor, und dann seien Sie hier mal der Müller, der seit Jahrhunderten das klar wie 'nen Kristall und reinlich wie 'ne Brautwäsche gekannt hat! Da, guck, Junge, und streif dir meinetwegen den Ärmel auf und greif in das Einflußgerinne und fühle, was für einen Schleim und Schmier deiner Vorfahren hell und ehrlich Mühlwasser mir heute in meinem Gewerk und Leben absetzt. Ja, holen Sie sich dreist eine Handvoll vom Rade; es ist mehr davon vorhanden und wird gern vermißt. Und, junges Volk, ihr lacht darüber, oder wenn ihr das jetzt nicht wagt, so haltet ihr mich für einen alten Narren; aber mir ist das doch wie ein Lebendiges, zu dem ich den Doktor habe rufen müssen, um ihm den Puls zu fühlen. Und der Puls von Pfisters Mühle geht langsam, Ebert Pfister! Und wer weiß, wie bald er ganz stille steht!«
Bei Gott, mir war nicht lächerlich zumute diesem alten, vor Ingrimm und Betrübnis zitternden braven Manne und noch dazu meinem Vater gegenüber und auf meiner Väter in Ehren, Leiden und Freuden von Geschlecht zu Geschlecht vererbtem Grund und Boden! Da rauschte milchigtrübe, schleimige Fäden absetzend, übelduftend der kleine Fluß unbeschäftigt weiter in den ersten Christtag. Christtäglich, weihnachtsfestlich war mir nicht zu Sinne, und in Spannung und fast in Angst sah ich auf meinen chemisch und mikroskopisch gelehrten Freund und Exmentor, der eben die schleimschlüpfrige Masse, die er aus dem Getriebe entnommen hatte, von der Hand abspülte.
»Asche, du weißt offensichtlich, an was und an wen wir uns zu halten haben?« rief ich. »Ich bitte dich, Adam, treibe keinen Spaß zur unrechten Zeit«, flüsterte ich ihm zu.
»Liegt durchaus nicht in meiner Absicht. Weniger weil, sondern obgleich ich der Sohn eines Schönfärbers bin«, meinte der Doktor mit der vollen Ruhe und Gelassenheit des Mannes der Wissenschaft, des an ein Krankenbett gerufenen sichern Operators. »Das Ding kommt mir viel zu gelegen, um es scherzhaft aufzufassen. Vater Pfister, vielleicht hätten Sie mich nicht gerufen und zum Christbaum eingeladen, wenn Sie eine Ahnung davon hätten, wie sehr ich Partei bin diesen trüben Wellen und kuriosen Düften gegenüber. Aber ich habe Pfisters Mühle viel zu lieb, um nicht völlig objektiv meine Meinung über ihr Wohl und Wehe begründen zu können. Augenblicklich erkenne ich in der Tat eine beträchtliche Ablagerung niederer pflanzlicher Gebilde, worüber das Weitere im Verlaufe der Festtage das Vergrößerungsglas ergeben wird. Pilzmassen mit Algen überzogen und durchwachsen, lehrt die wissenschaftliche Erfahrung. Aber was für Pilze und welche Algen bei gegebener Verunreinigung der Adern unserer gemeinsamen Mutter? Das herauszukriegen im eigenen industriellen Interesse, würde dann wohl meine Weihnachtsbescherung sein, mein Sohn Eberhard!« –
Wir stellten das Mikroskop in die wenigen, hellen Stunden des ersten Christtages, und der Doktor begab sich an die genauere Untersuchung des Unflats mit der Hingebung, welche Vater Pfister aus früherm, schönerm Verkehr mit der Universitas litterarum nur als »Biereifer« bezeichnen konnte. Und begreiflicherweise taten Vater Pfister und sein Stammhalter nicht das geringste, diesen Eifer zu dämpfen. Sie hielten sogar die Stubentür verriegelt und saßen stumm, mit den Händen auf den Knieen, und hielten dann und wann sogar den Atem an, wenn der Mann der Wissenschaft zu einem neuen Resultate gelangt war und uns daran teilnehmen ließ.
»Wie ich es mir gedacht habe, was das interessante Geschlecht der Algen anbetrifft, meistens kieselschalige Diatomeen. Gattungen Melosira, Encyonema, Navicula und Pleurosigma. Hier auch eine Zygnemacee. Nicht wahr, Meister, die Namen allein genügen schon, um ein Mühlrad anzuhalten?«
»Das weiß der liebe Gott«, ächzte mein Vater.
»Jawohl, groß ist sein Tiergarten«, meinte ruhig Adam Asche. »Was die Pilze anbetrifft, so kann ich leider nicht umhin, Ihnen mitzuteilen, daß sie den Geruch, über den Sie sich beklagen, Vater Pfister, durch ihre Angehörigkeit zu den Saprophyten, auf deutsch: Fäulnisbewohnern, vollkommen rechtfertigen. Was wollen Sie denn eigentlich, alter Schoppenwirt? Ein ewig Kommen und ein ewig Gehen! Haben die Familien Schulze, Meier und so weiter den Verkehr in Pfisters Mühle eingestellt, so haben Sie dafür die Familien der Schizomyceten und Saprolegniaceen in fröhlichster Menge, sämtlich mit der löblichen Fähigkeit, statt Kaffee in Pfisters Mühle zu kochen, aus den in Pfisters Mühlwasser vorhandenen schwefelsauren Salzen in kürzester Frist den angenehmsten Schwefelwasserstoff zu brauen. Lauter alte gute Bekannte – Septothrix, Ascococcus Billrothii, Cladothrix Cohn und hier –«
Er richtete sich auf von seinem Instrument und seinen Vergrößerungsobjekten. Er fuhr mit beiden Händen durch die Haare. Er blickte von dem Vater auf den Sohn, legte lächelnd dem Vater Pfister die Hand auf die Schulter und sprach, was ihn selber anbetraf, vollkommen befriedigt und seiner Sache gewiß:
»Beggiatoa alba!«
»Was?« fragte mein Vater. »Wer?« fragte er.
»Krickerode!« sagte Doktor Adam Asche, und der alte Herr faßte seine Stuhllehne, daß der Sitz unter ihm fast aus den Fugen ging:
»Und daran kann ich mich halten mit meiner Väter Erbe und unseres Herrgotts verunreinigter freier Natur? Und darauf darf ich mich stellen mit meinem Elend? Ich zahle Ihnen alle Ihre Schulden für das Wort, Adam!... Wie nannten Sie es doch?«
»Beggiatoa alba. Von einem von uns ganz speziell für Sie erst neulich zu Ihrer Beruhigung in den Ausflüssen der Zuckerfabriken entdeckt, alter Freund. Was wollen Sie? Pilze wollen auch leben, und das Lebende hat Recht oder nimmt es sich. Dieses Geschöpfe ist nun mal mit seiner Existenz auf organische Substanzen in möglichst faulenden Flüssigkeiten angewiesen, und was hat es sich um Pfisters Mühle und Kruggerechtsame zu kümmern? Ihm ist recht wohl in Ihrem Mühlgerinne und Rädern, Meister, auch das gebe ich Ihnen schriftlich, wenn Sie es wünschen; und Kollege Kühn, der zuerst auf das nichtsnutzige Gebilde aufmerksam wurde und machte, setzt Ihnen gern seinen Namen mit unter das Attest.«
»Und die Krickeroder Fabrik halten Sie also wirklich und wahrhaftig einzig für das infame Lamm, so mir mein Wasser trübt? I, da soll doch –«
»Ja, was da soll, das ist freilich die Frage, welche wir Gelehrten unseres Faches nicht berufen sein können zu lösen. Übrigens habe ich bis jetzt nur das Behängsel Ihres Rades untersucht und einige Tropfen den Garten entlang aus dem Röhricht dazu entnommen. Selbstverständlich werden wir den Unrat den Bach aufwärts bis zu seiner Quelle verfolgen. Aber, Vater Pfister, was ich Ihrem Jungen da gesagt habe, wiederhole ich Ihnen jetzt: es interessiert mich ungemein, dieser Sache einmal so gründlich als möglich auf den Leib zu rücken; aber – ich bin grenzenlos Partei in dieser Angelegenheit, und der Dienst, den ich Ihnen im besondern und der Welt im allgemeinen vielleicht tue, kann mir nur das höchst Beiläufige sein. Ihren Ärger, Ihre Schmerzen und sonstigen lieben Gefühle in allen Ehren, Vater Pfister!«
»Jeder Mensch ist Partei in der Welt«, seufzte mein alter, lieber Vater, »nur ist es schlimm, wenn der Mensch das auf seine alten Tage ein bißchen zu sehr einsieht und sich zu alt fühlt, um noch mal von neuem mit mehr Aufmerksamkeit in die Schule zu gehen. Was Sie aus meinem ruinierten Mühlwasser noch zu lernen haben, weiß ich nicht, Adam Asche – für den vorliegenden Fall möchte ich, ich hätte meinen Jungen da weniger auf das Griechische und Lateinische dressieren lassen und mehr auf ihr Vergrößerungsglas. Da könnten Sie mir denn auch nur ein angenehmer Gast sein, ohne daß ich Sie weiter um ihre Wissenschaft zu bemühen brauchte.«
In dieser oder einer ähnlichen Weise gerieten sie bei jedem längern Zusammensein aneinander, aber es war nicht nötig, daß der nächstbeste gute Freund oder in diesem Falle der Sohn des Hauses beruhigend zwischen sie trat. Sie kamen gottlob stets bald wieder zu einem Verständnis, und zwar dem innigsten.
»Es ist heute der erste Weihnachtstag, Vater Pfister, und aus Abend und aus Morgen wird sicherlich der zweite, also meine ich, wir lassen's für heute bei den gewonnenen schändlichen Resultaten bewenden und gehen morgen der Scheußlichkeit bis zu ihrer Quelle nach«, sagte Doktor Asche, erhob sich seufzend von seinem Mikroskop, trat zu der halb geplünderten Tanne im Winkel und griff nach einem vergessenen Zuckerherzen an einem der höchsten Zweige. Sonderbarerweise aber schob er es nach einiger melancholischen Betrachtung nicht in den Mund, sondern in die Tasche. »Es ist Weihnachten, alter, lieber Vater Pfister, und ich wollte, Sie wüßten es ganz genau, wie leid mir Ihr betrübtes Gesicht tut. Wer kann denn was dagegen, daß es so viel Bitterkeit und – schmutzige Wäsche auf dieser Lumpenerde gibt? Und ich habe Ihnen noch so manche famose Geschichte aus der Stadt und der Welt mitgebracht. Sie rauchen mir auch schon viel zu lange kalt. Stopf dem Papa eine frische Pfeife, Ebert. Wir haben wahrhaftig genug für heute.« –
Auch mir schien's genug zu sein an dem Abend nach dem Heumachen am heißen Sommermorgen auf den Wiesen gegenüber von Pfisters Mühle. Tauschwer hatten sich alle Blumen, die wir auf ihren Stengeln gelassen hatten, mit denselben geneigt. Es war entzückend kühl unter meinen alten väterlichen Bäumen; aber der Tau fiel auch auf meine eigenste Herzensblume, und wer sagte mir, ob er für die nicht ungesund sei? Sie hatte mit allen ihren Schwestern – die Nachtviolen ausgenommen – die Äuglein geschlossen und in unserer Laube am murmelnden Bach das Haupt an meine Schulter gesenkt, und es hob und senkte sich auch an meiner Brust wie leise, ungestörte Wellen und dazu murmelte es:
»Erzähle nur ruhig immer weiter, ich höre genau zu, ich höre alles; aber bitte, wenn es möglich ist, werde nur ein klein bißchen nicht noch zu gelehrter, Herz! Es ist recht schlecht von mir, aber in der Geographie- und der Naturgeschichtsstunde habe ich immer am wenigsten aufgepaßt, und vielleicht waren die Tiere in Latein, von denen du gesprochen hast, zu meiner Zeit wohl gar noch nicht erfunden. Frau Albertine weiß viel mehr in der Hinsicht, und ich nehme dir es gewiß nicht übel. Ich habe ja aber auch zu Hause bei Papa eigentlich nur mit ihm auf seinem Kirchhofe botanisieren können, und da – da – du weißt ja selber, wie auch du mir dazwischen gekommen bist!«