Wilhelm Raabe
Pfisters Mühle
Wilhelm Raabe

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Vierzehntes Blatt

Krickerode

Ich trug mein sommertagsmüdes, schlaftrunkenes Weiblein mehr, als daß ich's führte, in unser Sommernest, das noch vor Sommersende wie ein ander Schwalben- oder sonstiges Wandervögelnest mit einer dummen, langen Stange unterm Dachrande weg für alle Zeit herabgestoßen werden sollte. Und nun ist es mir heute auf dem langweiligen Papier, als trage ich sie in den Herzpunkt, die volle Mitte meiner acta registrata, der Regesten von Pfisters Mühle.

Es wurde aus Abend und Morgen der zweite Weihnachtstag, und Felix Lippoldes, der sich und uns versprochen hatte, dem Greuel mit auf den Grund zu kommen, das heißt uns auf unserer unheimlichen Entdeckungsfahrt stromauf von Vater Pfisters Mühlwasser zu begleiten, ging wirklich mit.

Er kam unter dem dritten Glockengeläut durch einen dichten Nebel nach der Mühle und wartete, an meines Vaters Schenktische auf einem Faß sitzend, blödselig in Geduld oder Stumpfsinn darauf, daß der Nebel sich lege, und wir, Doktor Adam Asche und ich, bereit seien.

Das letztere war bald der Fall, auf das erstere hätten wir den ganzen Tag vergeblich warten können. Der graue Dunst stieg weder, noch fiel er. Er blieb liegen, wie er lag, und es war ihm kein Ende abzusehen; ich aber habe selten ein verdrossener, grimmiger Gesicht erblickt als das meines Freundes Adam bei seiner ersten Begrüßung, sowohl mit dem armen Poeten drinnen wie mit der grauen, feuchtfrostigen Welt draußen.

»Das sage ich Ihnen, Dichter, Denker und Doktor«, brummte er, »auf den Tisch steigen wir heute morgen nicht. Und du, Junge, bilde dir ja nicht ein, daß ich nach Pfisters Mühle herausgekommen sei, um mir Weltuntergangsgefühle aus deines Vaters verstänkerter Kneipidylle herauszudestillieren. Idylle hin, Idylle her; trotz Weihnachten, Ostern und Pfingsten in einer Wehmutsträne habe ich jetzt die Absicht, ruhig unter den Philistern auf gegebenem, bitter realem Erdboden so gemütlich als möglich mit zu schmatzen, zu schlucken, zu prosperieren und möglicherweise auch zu propagieren. Zum Henker, am liebsten wär mir's jetzt, ihr zwei Phantasienarren säßet mit Vater Pfister im Gotteshause, lobtet den Herrn und alle seine Werke und hättet mir allein diese gegenwärtige Auseinandersetzung mit den Lebens- uns Kulturbedingungen des Moments überlassen. Da ihr aber einmal da seid, also vorwärts – hinein in den Schmaratz! Nehmen Sie die Rumflasche und das Glas da fort, Samse, und geben Sie mir Ihren Arm, Don Feliciano. Das Mikroskop brauchen wir heute nicht, Ebert; aber da, Samse, den Flaschenkorb können Sie schleppen – Sie, Lippoldes, brauchen aber nicht aufzuhorchen, die Pullen sind leer, und der Stoff, mit dem ich sie jetzt zu füllen gedenke, stammt nicht aus dem Brunnen Melusinens, auch nicht aus dem fons Bandusius und am wenigsten aus Ihrer Hippokrene.«

Wir verließen den Mühlgarten nunmehr durch ein mir seit meinen frühesten Lebensjahren wohlbekanntes Loch in der Hecke und wanderten am Uferröhricht über feuchtes Wiesen- und holperichtes Ackerland den Fluß aufwärts. Drei oder vier Anbauerhäuser des Dorfes lagen noch etwas weiter hinauf und reichten mit ihren Gärten bis an den Bach.

Das eigentliche Dorf liegt, wie jeder weiß, der Pfisters Mühle kennt oder kannte, einige Büchsenschüsse weit unterhalb derselben. Hoffentlich wird es noch ungezählte Jahre länger als meines Vaters liebes Haus an seiner Stelle zu finden sein.

»Ist denn das Ihr Fräulein Tochter, Doktor Lippoldes?« fragte plötzlich Asche, eine Flasche blaugrauen, schleimigen Flußwassers, die ihm Samse eben zwischen dem dürren, mit »chlorophyllfreien Organismen« behängten Uferschilf gefüllt hatte, in unsern Flaschenkorb versenkend.

Eine weibliche Gestalt war's, die im graublauen Nebel in dem vor der letzten Häuslingswohnung sich herziehenden übelzerzausten winterlichen Kohlgarten unter einem Baume stand.

»Singt Weide, grüne Weide!« schrillte der Poet. »Seid Ihr es, Fräulein, mit Fenchel, Raute und Aglei – mit Hahnfuß, Nesseln, Maßlieb, Kuckucksblumen – mitten im dänischen Winter? Bist du es, mein Kind Albertine?«

Die schlanke Gestalt im kümmerlichen Kleidchen, dicht gehüllt in ein graues Tuch, näherte sich durch den melancholischen Dunst, neigte sich vornehm unseren Grüßen, und Albertine Lippoldes sagte lächelnd:

»Aber, Papa, dein Husten! Nach allen vier Weltgegenden habe ich dir wieder meine Sorge um deinen Katarrh nachtragen müssen! Es ist sehr unrecht von dir.«

»Jaja«, greinte der Dichter, »ich wollte euch auch ein paar Veilchen geben, aber sie welkten alle, da mein Vater starb. Sie sagen, er nahm ein gutes Ende. Na, natürlich! Was sollte er sonst noch nehmen können? Und – da – sieh dir nur die Herren genau darauf an, Kind: sie scheinen auch das nutzbare Ergebnis meines Menschendaseins in dieser vergnüglichen Welt in mehr als gelinden Zweifel zu ziehen.«

»Hören Sie jetzt auf, mit diesem Unsinn wenigstens, Doktor Lippoldes!« schnarrte Doktor Asche. »Fräulein hat vollkommen recht, und in der warmen Stube sind Sie am besten aufgehoben. Ihre Veranlagung zur Unsterblichkeit und zum Schnupfen ist mir seit lange zur Genüge bekannt. Bleiben Sie mir mit Ihrem Esel von Hamlet dem Dämel gefälligst vom Leibe, und in Ihrem eigenen Interesse auch von Vater Pfisters Mühlwasser weg. Was, Maßlieb und Veilchen bei der Jahreszeit? Dänische Tropfen werde ich Ihnen morgen anzuraten haben, und deutsche Kamille wird alles von Florens Kindern sein, was Fräulein O – Fräulein Albertine Ihnen zu bieten hat, wenn Sie wieder einmal nicht auf den guten Rat Ihrer besten Freunde hören und nicht auf der Stelle nach Hause gehen.«

Die junge Dame griff mit einem fast bösen Blick auf meinen armen Freund Asche, aber doch zugleich angstvoll nach der Hand ihres Vaters:

»O bitte, komm mit mir! Der Herr sagt es ja auch, daß es dir besser sein wird.«

»Nachher – mit den jungen Leuten, Kind! Sie sind selbstverständlich zum Frühstück bei uns eingeladen.«

»Oh!« rief Fräulein Albertine leise, nun nicht zornig und ängstlich, sondern im wirklichen Schrecken. »Aber Vater – die Herren – du weißt –«

»Wenn die Zeit langt, Lippoldes«, brummte Adam Asche gröblicher noch denn zuvor. »Jedenfalls drängt sie, wenn Vater Pfister bei seiner Rückkehr aus der Kirche seine Gastfreundschaft gegen mich nicht zu allen seinen übrigen Plagen rechnen soll. Doktor Lippoldes – lieber ein andermal! Mein Fräulein – ich habe die Ehre!«

Er hob den zerdrückten, langgedienten Filz ein wenig von dem seltsamen, zerzausten Haarwulst und ließ ihn wieder darauf zurückfallen. Sodann beförderte er den ahnungslos gaffenden Samse mit seinem Flaschenkorbe vermittelst eines Winkes, der fast einem Rippenstoß glich, auf unserm Pfade stromaufwärts weiter und sich ihm nach, die handschuhlosen Fäuste tief in den Taschen seines Überrocks. Doktor Lippoldes aber nahm meinen Arm und sagte:

»Dieser Mensch ist ohne Zweifel ein Grobian! Nun, aber der erste nicht, der mir im Leben begegnete. Ich mag ihn schon seit langen Jahren ganz gern, junger Pfister; unter den Flegeln mit Gemüt ist er mir einer der liebsten, und so mag auch er unter meiner bessern Bekanntschaft weiter mitlaufen. Kommen Sie, junger Mann, daß wir ihn nicht aus dem Gesicht verlieren. Er hat selbstverständlich keine Ahnung, wie sehr ich eben res mea agitur sagen kann an Ihres Vaters vergiftetem Lebensquell. Mädchen, die Herren haben deine Einladung angenommen. Leihe mir deinen Arm, Knabe Lenker.«

Er hatte es wirklich nötig, daß er nicht nur geführt, sondern auch gelenkt wurde. Über die Schulter zurückblickend, sah ich noch, wie Fräulein Albertine die Hand an die Augen hob, ihr Tuch dichter um sich zusammenzog und dann zögernd der armseligen Behausung zuschritt.

Als wir die Vorangegangenen wieder erreicht hatten, meinte Adam:

»Sie hätten was Besseres tun können, als Ihrer armen Tochter diesen Schrecken einzujagen, Lippoldes.«

»He he he«, kicherte der unzurechnungsfähige Gastfreund der Olympier. »Es soll mich in der Tat wundern, wie sie es anfangen wird, sich nicht zu blamieren. Merken Sie sich's, Eberhard Pfister, und halten Sie sich an ein solides Kopf- und Handwerk. Kinder von meinesgleichen, und wenn es die besten, lieben Mädchen wären, sind leider nicht cour- und tafelfähig da oben – über den Wolken und Krähenschwärmen. Beim Zeus und allen seinen Redensarten nach der Teilung seiner Erde, mein Kind und gutes Mädchen hat wenigstens auch seine Freude an reinem Wasser auf dieser Erde, und ich halte es nicht weniger als mich und Ihren Papa, Vater Pfister, berechtigt, durch die chemischen Kenntnisse des Menschen da vor uns zu erfahren, wer uns dieses hier verpestet. Da kommt wieder ein halb Dutzend toter Fische herunter, Asche.«

Der Wasserbeschauer zuckte nur verdrossener denn zuvor die Achseln, antwortete dem Poeten aber nicht. Doktor A. A. Asche hielt sich jetzt einfach an seiner Aufgabe und teilte nur mir dann und wann ein Minimum seiner Beobachtungen mit.

Mir aber kam es nicht zu, meinem Weibe in der Sommerfrische das Verständnis zu öffnen für saures Kalzium und saures Magnesiumkarbonat, für Kalziumsulfat und Chlorkalzium, für Chlorkali, Kieselsäure und Chlormagnesium.

»Ich bitte dich, bester Mann, hör auf«, sagte sie, meine Emmy, nach dem ersten Versuch meinerseits. »Großer Gott, und das mußtet ihr alles riechen? Ja, da riecht es zu Weihnachten ja selbst bei uns in Berlin besser! Verliere nur weiter kein Wort mehr; ich kann mir wirklich Frau Albertine und deinen armen seligen Papa ganz genau vorstellen, auch ohne Doktor Asches gräßliche gelehrte Apothekerredensarten.«

Ich tat, offen gestanden, mir nicht weniger als ihr einen Gefallen damit, aufzuhören und uns den Sommertag nicht auch noch gar durch unverständliche termini technici einer uns doch nur vom Hörensagen bekannten unheimlichen Wissenschaft zu verderben.

Kurz, wir sahen meines Vaters Mühlwasser je höher hinauf, desto unsaubrer werden, wir sahen noch mehr als einen auf der Seite liegenden Fisch an uns vorbeitreiben, und wir füllten, die Nasen zuhaltend, Samses Flaschenkorb und versahen jede einzelne Flasche mit einer genauen Bezeichnung der Stelle, wo wir die geschändete Najade um eine Probe angegangen waren.

Zweiundeinhalb Kilometer von Doktor Lippoldes Behausung gelangten wir dann nach der Welt Lauf und Entwicklung wie zu etwas ganz Selbstverständlichem zu dem Ursprung des Verderbens von Pfisters Mühle, zu der Quelle von Vater Pfisters Leiden; und Doktor Adam Asche sprach zum ersten Male an jenem Morgen freundlich ein Wort. Auf die Mündung eines winzigen Nebenbaches und über eine von einer entsetzlichen, widerwärtig gefärbten, klebrig stagnierenden Flüssigkeit überschwemmte Wiesenfläche mit der Hand deutend, sagte er mit unbeschreiblichem, gewissermaßen herzlichem Genügen: »Ici!«

Jenseits der Wiese erhob sich hoch aufgetürmt, zinnengekrönt, gigantisch beschornsteint – Krickerode! Da erhob sie sich, Krickerode, die große, industrielle Errungenschaft der Neuzeit, im wehenden Nebel, grau in grau, schwarze Rauchwolken, weiße Dämpfe auskeuchend, in voller »Kampagne« auch an einem zweiten Weihnachtstage, Krickerode!

»Der reine Zucker!« rief Asche. »Da schwatzen die Narren immerfort über die Bitterkeit der Welt. Da können sie sie niemals süß genug kriegen, und da – stehen wir, das Leid der Erde wiederkäuend, vor dem neuen Tor. Sie sind nicht Aktionär, Lippoldes – Vater Pfister auch nicht, und von dir jungem Bengel ist es ebenfalls noch nicht anzunehmen –«

»Du bist es aber auch nicht, Adam«, meinte ich, das ungeheuchelte Pathos des großen Chemikers unterbrechend; aber der – A. A. Asche – sprach ruhig: »Ich wollte, ich wäre es schon.«

Der arme Tragöde hing sich stumpfsinnig lächelnd mir fester an den Arm, und so umschritten wir den wohl zwanzig Morgen bedeckenden künstlichen Sumpf und gelangten unter der Mauer der großen Fabrik zu dem dunklen Strahl heißer, schmutzig-gelber Flüssigkeit, der erst den Bach zum Dampfen brachte und dann sich mit demselben über die weite Fläche verbreitete, die meine nächsten Vorfahren nur als Wiese gekannt hatten.

»So ist es nicht unerklärlich, daß beim Wiedereintritt des Wässerleins in deines Vaters Mühlwasser, mein Sohn Ebert, das nützliche Element trotz allem, was es auf seinem Überflutungsgebiete ablagerte, stark gefärbt, im hohen Grade übelriechend bleibt. Das, was ihr in Pfisters Mühle dann, laienhaft erbost, als eine Sünde und Schande, eine Satansbrühe, eine ganz infame Suppe aus des Teufels oder seiner Großmutter Küche bezeichnet, nenne ich ruhig und wissenschaftlich das Produkt der reduzierenden Wirkung der organischen Stoffe auf das gegebene Quantum schwefelsauren Salzes«, sagte Adam Asche. »Und nun, denke ich, können wir wieder nach Hause gehen«, fügte er hinzu, indem er die letzte Flasche aus Samses Flaschenkorb gefüllt mit warmem, leise dampfendem Naß aus der Abflußrinne von Krickerode mit fast zärtlicher Kennerhaftigkeit gegen den grauen Feiertagshimmel und vor das linke, nicht zugekniffene Auge prüfend erhob.

»Es ist freilich recht frostig und auch nicht der Humor in dem Dinge, den ich mir davon versprochen hatte«, murmelte Doktor Felix, in seinem abgetragenen Winteroberrock die Schultern zusammenziehend. »Ich habe Sie vor nicht allzu langer Zeit auch noch als einen andern gekannt, Adam, und ich werde mich auch Ihnen nicht mehr einer derartigen Expedition in den allzu gesunden Menschenverstand als Begleiter und Chorus anhängen. Ich hatte mich auch in dieser Angelegenheit auf Sie gefreut, Asche; aber mein Gedächtnis ist leider schwach geworden, und ich habe mich alle Tage von neuem darauf zu besinnen, wie alt ihr junges Volk und wie vernünftig und langweilig ihr seid.«

Nun krallte er sich mit der Linken in meinen Kragen und streckte den dürren rechten Arm und die Faust aus dem schäbigen Ärmel weit vor gegen das phantastischer als irgendeine Ritterburg der Vergangenheit mit seinen Dächern und Zinnen, seinen Türmen und Schornsteinen im Nebel des Weihnachtstages aufragende große Industriewerk und rief hell und heiser:

»Sieh es dir an, Knabe, und finde auch du dich mit ihm ab, wie der da – wissenschaftlich oder als Aktionär. Kind, habe dreist wie die andern Furcht, dich ihm gegenüber lächerlich zu machen, und renne dir ja den Schädel nicht dran ein mit irgend etwas drin, was über der Zeit und dem Raume liegt. Folge du unserm Rate, so wirst du etwas vor dich bringen; nur sieh dich nicht um nach dem, was du vielleicht dabei hinter dir liegen lässest. Ich aber werde jetzt eurem Rate folgen, nach Hause gehen und unterkriechen und mich mit nützlicher Festtagsnachmittagslektüre beschäftigen. Meine eigene Bibliothek ist mir, wie du weißt, Asche, mit mehrerem andern im Laufe des Lebens abhanden gekommen, ich bin bei meinem jetzigen Landaufenthalt einzig auf die meines Bauern angewiesen, auf den Kalender vom laufenden Jahr und auf ein altes Buch im Fach über der Tür, das mir mein Mädchen herunterholen mag. Uralte jüdische Weisheit und Prophezeiung, auf die ihrerzeit auch niemand geachtet hat! Rate dir ebenfalls zu der Lektüre, wenn dir einmal alle andere abgestanden, stinkend und voll fauler Fische vorkommen wird, wie deines Vaters Mühlwasser, Ebert Pfister! Zephanja im ersten Kapitel Vers elf: ›Heulet, die ihr in der Mühlen wohnet, denn das ganze Krämervolk ist dahin, und alle, die Geld sammeln, sind ausgerottet!‹«


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