Wilhelm Raabe
Pfisters Mühle
Wilhelm Raabe

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Sechzehntes Blatt

Emmy auf dem Schubkarren in meinem versinkenden Paradies

»Ja, das wollte ich eigentlich auch schon längst einmal fragen, Herz – wirklich, weshalb hat denn dein armer Papa nicht mit auf die große Fabrik unterschrieben, da alles ihm doch so bequem lag, und hat keine Aktien genommen, sondern ist leider gestorben, obgleich die Herren Asche und Riechei ihm doch seinen Prozeß gewonnen haben?« fragte Emmy hinter dem alten Kriegswall unterm Weißdornbusch.

»Weil er nicht anders konnte, Lieb.«

»Ach ja, es muß wohl so sein; obgleich es recht schade für uns ist und obgleich auch mein Papa seine Gründe bis heute nicht recht begriffen hat.«

»Hm, Kind, nach dessen Anhänglichkeit an seinen letzten grünen Spazierfleck inmitten seiner Umgebung von Stein, Mörtel, Kalk und Stuck möchte ich das doch nicht allzu fest behaupten. Jedenfalls haben er und ich einander in dieser Hinsicht immer recht gut begriffen.«

»Ja, Gott sei Dank, in diese seine Schrullen hast du dich immer recht gut zu finden gewußt, und ich bin dir auch sehr dankbar dafür gewesen; aber daß du's nicht bloß aus Liebe zu mir, sondern wahrhaftig aus wirklicher Liebhaberei zu seinen sonderbaren Ideen getan hast, das habe ich doch erst während unseres jetzigen merkwürdigen Sommeraufenthaltes in eurer merkwürdigen Mühle erfahren. Nun ja, es ist ja auch so recht schön, und es hat sich ja auch, gottlob, alles nach des Himmels Willen recht passend zusammengeschickt, und die Vorsehung weiß eben alles doch am besten, wenn ihr Gelehrten das auch manchmal leugnen wollt. Erzähle nur weiter. Eine Weile dauert es wohl noch, ehe die Sonne auf deinem schrecklichen Feldwege erträglich wird und du deinen spaßhaften, langen Schatten auf dem Felde vor dir her wirfst auf dem Rückwege nach deiner närrischen, lieben, armen Mühle. Ja, ihr seid richtig Vögel aus einem Nest, du und mein armer, lieber Papa! ›Schnurren, Miezchen, müßte der Mensch können und dabei wiederkäuen; nachher wäre mein Ideal von ihm fertig‹ pflegte er dann und wann zu bemerken, wenn er mich nach Tische am Kinn nahm. Ach, ich fühle seine liebe, arme Hand noch immer um die Mittagszeit, obgleich ich jetzt freilich dir zuliebe meine eigene Küche habe in Berlin!«

Selbstverständlich erzählte ich nicht weiter. Spinnen und schnurren wie Miez am Ofen oder in der Sonne und wiederkäuen konnte auch ich noch nicht, obgleich ich das Ideal meines klugen und vernünftigen Schwiegervaters wohl begriff und es wirklich vielleicht dann und wann nicht ungern zur Darstellung gebracht haben würde. Aber am Kinn konnte ich sein liebes Kind, mein liebstes Weibchen, auch nehmen; und am Kinn fassen mußte ich es jetzt beim Heimchengezirp, im Thymianduft, in der blühenden Heide im Hagedornschatten, allem verjährten Verdruß und Elend und allen gegenwärtigen Schubkarren, Äxten, Schaufeln, Hämmern und Sägen unter den Kastanienbäumen und in der leeren Wirtsstube von Pfisters Mühle zum Trotz.

Es waren ja doch auch noch andere Dinge zu besprechen als die überwundenen Erlebnisse der Leute in und um Pfisters Mühle! Hatten wir denn nicht in der lebendigen Wirklichkeit dort in der Ferne, jenseits des grünen Schanzenwalls, jenseits des Friedens von Wiese und Ackerfeld unser selbstgebautes Nest nicht nur so weich als möglich auszufüttern, sondern auch zuzeiten mit Schnabel und Klaue im bittersten Sinne des Wortes gegen die große, unruhige Stadt Berlin zu verteidigen? Waren wir nicht bereits mehrfach mit unserm Hauswirt und einmal sogar auch mit der Polizei in Konflikt geraten, und hatte nicht Emmy schon das innigste Verlangen, mal ganz persönlich mit dem Präsidenten der letztern zu reden und ihm ihren und seinen Standpunkt zum Besten der allgemeinen Behaglichkeit klarzumachen? Und war vor allem nicht noch die große Frage zu lösen, wo wir »bei unsern beschränkten Räumen« einen Zuwachs an Raum für einen (»sieh mich nicht so närrisch an, bitte, bitte, du dummer Peter!« flüsterte Emmy) einen anderen ahnungsvollen, glückseligen, wunderbaren Zuwachs hernehmen sollten?

»Da hat es Frau Albertine doch gewiß besser«, seufzte Emmy, als nun wirklich auf dem Heimwege und auf dem engen Feldpfade unsere Schatten ganz spaßhaft lang, aber glücklicherweise ineinander fielen. »Oh, die kann sich ausdehnen! Oh, wenn ich an die denke und dann an uns, so wird mir ganz schwindlig!... Gleich zuerst Zwillinge und jetzt bald das vierte! Aber wenn der das Gelaß nicht reicht, so baut der Doktor ganz sicher auf der Stelle an. In dieser Hinsicht hat die Frau es viel besser als ich!«

»Aber sie hat es vorher vielleicht nicht so gut gehabt wie du, mein Herz!« wagte ich meiner kleinen Melancholikerin in ihren bedrückten Umständen als einen kleinen, möglichen Trostgrund ganz heimlich zuzustecken, und glücklicherweise gelang es, und dies beruhigende Wort fand vollen, zustimmenden Widerklang.

Aus der Tiefe ihres guten, mitleidigen Herzens aufatmend, meinte meine Frau:

»Das ist freilich auch wahr! Ja, das arme Mädchen! Sie hat es recht schlimm gehabt, ehe sie es besser bekam. Komm doch mit unter meinen Sonnenschirm, Mann; die Sonne sticht noch immer recht sehr, und ich möchte dich doch nicht ganz als geschälte Zwiebel nach Hause bringen. Du hast mich auch ohne das heute schon mehrmals zu Tränen und zur Rührung gebracht. Erzähle weiter, aber zapple nicht so, sondern bleib mit unter meinem Schirm.«

Ich bemühte mich nach Kräften, beim Weiterwandern nicht zu sehr zu zappeln und in dem lieben blau-rosigen Schatten zu bleiben, den mein junges Weib auch auf diesen Weg unseres Lebens warf. –

Als der Tag im veränderlichen Monat April eintrat, der Tag, an welchem ich zum erstenmal von meinen nächsten Heimatsumgebungen für längere Zeit Abschied zu nehmen hatte, um in die Ferne und auf die Universität zu ziehen, war der Prozeß meines Vaters gegen Krickerode bereits im Gange, und wie uns um und in Pfisters Mühle däuchte, stand das Universum auf den Zehen, das Resultat erwartend.

Asche hatte nichts mehr von sich hören lassen. Der war schon in Berlin. Aber an einem sonnigen, windigen, dann und wann von einem Regenschauer besprengten Tage kam ich in sehr seltsamer Weise doch wieder zu der Gewißheit, daß er noch in der Gegend spuke und in innigster Art mit ihr in Verbindung zu bleiben sich bemühe.

Unser Fluß im April war wie je vorher, ehe Zucker an seinem rauschenden, murmelnden Laufe gemacht wurde. Die Vorfrühlingsfluten vom Gebirge her hatten allen Schlamm und Wust aus Krickerode von seinem sonnenbeleuchteten Grund und von seinem Ufergebüsch weg- und abgespült. Es lag der erste lenzgrüne Hauch auf Baum und Strauch, auf Wiese und Feld. Daß allerlei Blumen blühten und einige Arten bereits verblüht waren, achtete ich durchaus nicht. Ich hatte an andere Dinge zu denken, als ich nochmals jenen Pfad am Bache aufwärts hinschlenderte, den wir an jenem zweiten Weihnachtstage mit Samse und dessen ominösem Flaschenkorbe gingen.

Es gehörte zwar alles dazu, aber – im einzelnen, was waren Blumen, was Frühlingsgrün, was Krickerode, was Prozesse, ja, was Pfisters Mühle für das erlöste Pennal, für den angehenden Fuchs, für den freien, von den Göttern auf seine eigenen Füße in das unermessene Dasein hingestellten Menschen, kurz, für den demnächstigen studiosus philologiae Eberhard Pfister?

Grün mochte die Welt sein, blau mochte sie sein; so blau, so grün wie ich, Ebert Pfister, war sie nicht um diese Zeit, in diesen oder – jenen Tagen. Und es war, den Unsterblichen sei Dank, mein volles, unbestrittenes Recht, in mir grüner, blauer, bunter mich zu empfinden als irgend etwas anderes rings um mich her!

Doch da trat nun aus dem Frühling, aus dem Licht und Schatten, aus dem großen Andern um mich her eine Gestalt, die meinem unbefangenen und gleichmütigen Mitatmen im übrigen doch wenigstens für einige Zeit ein Ende machte. Albertine Lippoldes redete mich an auf dem Buschpfade an meines Vaters Mühlwasser.

In demselben abgetragenen grauen Kleide wie an jenem Weihnachtsfeiertage stand sie unter dem nämlichen Baum an der Hecke wie damals, wo sie auf ihren Vater und unsere Expedition zur Erforschung der Gründe vom Untergange von Pfisters Mühle wartete. Als ich, betroffen ob ihrer bleichen und kränklichen Erscheinung, stehenblieb und die Mütze zog, kam sie auf mich zu und reichte mir die Hand.

Sie lächelte auch dabei, aber es war das Lächeln einer, die ein schweres Leid auf der Seele trägt und ein schwerwiegend Wort auszusprechen hat.

»Sie wollen uns nun auch verlassen, Herr Pfister? Und Sie gehen jetzt auch nach Berlin?« fragte sie, und als ich dieses stotternd bejahte, sagte sie mit leiser, beklommener Stimme:

»Dann hätte ich wohl eine Bestellung dort, Herr Ebert, und Sie würden mir einen rechten Gefallen tun, wenn Sie dieselbe ausrichten wollten.«

»Mit dem größten Vergnügen, Fräulein! Alles, was Sie wünschen. Was und an wen? Mit der Rapiditat eines Mokkakäf – ja wirklich und auf Ehre, Fräulein Albertine, mein Herzblut würde ich –«

»Das nicht, Sir Childe«, sagte das Fräulein und lächelte noch einmal dabei. »Nur ein Wort an Ihren Freund, Herr Doktor Asche, auszurichten, möchte ich Sie freundlich bitten.« Und damit verschwand das Lächeln aus ihren feinen, müden Zügen, als würde es nie wieder dahin zurückkehren. Mit einer bittenden Bewegung beider Hände, doch mit einem fast zornigen Blick über mich weg in die grüne, eben wieder im Sonnenlichte glänzende Ferne, flüsterte sie mit unterdrücktem Schluchzen:

»Sagen Sie – bestellen Sie Ihrem Freunde, daß Albertine Lippoldes ihm vom ganzen Herzen dankbar sei für seine Güte gegen ihren Vater, daß er aber kein Recht – daß er es unterlassen müsse, sie so rat – sie noch ratloser zu machen durch seine – Teilnahme. Sagen Sie Ihrem Freunde, daß mein armer Vater freilich nicht mehr das Mitleid von der Anerkennung zu unterscheiden wisse, aber daß mich mein Leben, vielleicht vor der Zeit, alt und sehr klug gemacht habe und daß Albertine Lippoldes nicht mehr so leicht sich der bestgemeinten Täuschung hinzugeben verstehe. Bestellen Sie Ihrem weisen, treuen, guten Freunde –«

Ob ich es damals schon ganz genau wußte, was ich eigentlich sagen und bestellen sollte, weiß ich auch heute noch nicht, aber daß auch mir die Tränen in den Augen standen und daß ich, dieselben hinterschluckend, versprach, alles ganz genau auszurichten, weiß ich heute noch sehr genau. Ich habe in der Erinnerung ein Flimmern vor dem Gesicht, das ich vielleicht auch auf einen eben niederrauschenden Regenschauer jenes Apriltages schieben könnte. Durch dieses Flimmern sah ich, wie Fräulein Albertine ihr Tuch fröstelnd zusammen- und über ihr Haupt zog und rasch, doch unsichern Fußes, zu dem verwahrlosten Anbauerhaus zurückeilte, zu dem kümmerlichen Dach, unter welchem Doktor Felix Lippoldes wirklich nur noch von dem Mitleiden und nicht mehr von der Anerkennung der Welt lebte oder vegetierte.

Und trotzdem, daß ich damals noch ein recht junger Mensch und sehr dumm und unerfahren in den meisten, und zwar innerlichsten Angelegenheiten des Lebens war, fühlte ich doch in aller Verblusterung durch, weshalb ich grade dem Doktor A. A. Asche in Berlin diese mir eben von dem Fräulein aufgetragene Bestellung ausrichten sollte. Gegen Vater Pfisters hülfreiche Hand hatte Albertine Lippoldes nimmer mit ihren zwei hülflosen, tapfern Händen eine abwehrende Bewegung gemacht.

Ich sah das Fräulein vor meiner Abfahrt zur Universität nicht wieder, aber wohl den Papa Lippoldes. Diesen traf ich noch einmal in der Stadt, doch will ich nicht genauer beschreiben, in welchen Zuständen. Auf dem Hausflur des Blauen Bockes unter den Marktleuten, Ausspanngästen und städtischen Kutschern und Straßenvagabunden fand ich ihn vor dem Schnapsschank. Da hängte er sich an mich, redete mit schwerer, stammelnder Zunge auf mich ein und gab mir seinerseits Grüße an seinen liebsten Freund , seinen einzigen Freund Asche, seinen besten Freund Adam, seinen letzten Trost und seine letzte, einzige, wahre Stütze in dieser »Lausewelt« mit. Am andern Tage ging ich mit beiden Bestellungen aus Pfisters melancholischer Mühle in die so lachende, sonnige, aller Wunder und Hoffnungen volle Welt hinein nach Berlin.

»Jott sei Dank, da sind wir denn endlich!« seufzte Emmy mit echtestem Berliner Akzent und erinnerte mich dadurch aufs hübscheste und vergnüglichste, daß ich nicht ohne Erfolg auf die Suche nach Abenteuern, Wundern und verzauberten Prinzessinnen von meines Vaters Hause ausgezogen sei. Ob sie aber mit ihrem Ausruf ihre Vaterstadt Berlin oder unsern Mühlgarten meinte, kann ich nicht sagen. Jedenfalls waren wir wieder unter den schattigen, grün und treu aushaltenden Kastanien und unter den stillen Tischen und Bänken des letzteren angelangt. Das Kind aber war nicht auf einer der Bänke niedergesunken; es hatte sich, mit dem Taschentuche sich Kühlung zuwehend, auf einem der Schubkarren, die man behufs der demnächst beginnenden Erdarbeiten unter den unschuldigen, lieben, vertrauensvollen Bäumen zusammengefahren hatte, hinsinken lassen.


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