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Drittes Kapitel.

La Motte brachte seinen kleinen Lebensplan bald in Ordnung: den Vormittag brachte er gewöhnlich mit Fischen und Jagen zu, und genoß das Mittagsmahl, welches er selbst herbeyschaffte, mit besserem Appetit, als er je an den üppigen Tafeln von Paris gekannt hatte. Die Nachmittage brachte er bey seiner Familie zu: oftmahls nahm er ein Buch aus seiner kleinen Sammlung, und versuchte seine Aufmerksamkeit auf die Worte zu heften, die seine Lippen aussprachen: allein seine Seele fand wenig Zerstreuung von ihrem Kummer, und die Grundsätze, die er vorlas, ließen keinen Eindruck bey ihm zurück. Zu Zeiten sprach er, öfter aber saß er in finsterm Stillschweigen da, brütete über dem Vergangenen und verfrühte die Zukunft.

Zu solchen Zeiten bemühte sich Adeline mit einer fast unwiderstehlichen Holdseligkeit, ihn aufzuheitern und von sich selbst abzuziehen. Selten gelang es ihr, wenn es aber geschah, so brachten Frau von La Mottens dankbare Blicke, und das süße Gefühl in ihrer eigenen Brust, wirklich die Heiterkeit bey ihr hervor, die sie anfangs nur angenommen hatte.

Adeline besaß die glückliche Kunst, oder vielleicht richtiger, die glückliche Natur, sich in jede Lage zu schmiegen. So traurig auch ihre jetzige war, gebrach es ihr doch nicht ganz an Trost, und ihre guten Eigenschaften erhöhten ihn. Sie erwarb sich die Zuneigung ihrer Beschützer in solchem Maße, daß Frau von La Motte sie als ihr eigenes Kind liebte, und La Motte selbst, so wenig er auch der Zärtlichkeit empfänglich war, nicht ganz unempfindlich gegen ihre Aufmerksamkeit bleiben konnte. Wenn er einmahl aus seinem mürrischen Trübsinn erwachte, so war es Adelinens Werk.

Peter brachte regelmäßig auf eine Woche Lebensmittel von Auboine, und verließ immer die Stadt nach einer entgegengesetzten Richtung als die nach der Abtey führte.

Einige Wochen waren ihm ohne alle Störung verstrichen, und La Motte ließ alle Furcht vor Nachsetzung fahren, und fand sich endlich so ziemlich in seine Lage.

So wie Gewohnheit und Bestreben die Standhaftigkeit der Frau von La Motte stärkten, schien sich das Gefühl ihres Unglücks zu mildern. Der Wald, der ihr anfangs eine schreckliche Einöde däuchte, hatte seinen furchtbaren Anblick verloren; und das Gebäude, dessen halb verfallene Mauern und finstere Verödung ihre Seele mit Schwermuth und Abscheu erfüllten, wurde jetzt als eine häusliche Zuflucht und sichere Schutzwehr vor den Stürmen einer höhern Gewalt, von ihr betrachtet.

Sie war eine gescheute und sehr talentvolle Frau, und Adelinens Ausbildung wurde ihr Lieblingsgeschäft. Dieß junge Mädchen vereinigte, wie wir bereits gesehen haben, die glücklichsten Anlagen mit einer sanften Gemüthsart, welche sie fähig machte, jeden Unterricht mit schnellem Fortrücken, jede Nachsicht mit Liebe zu belohnen. Sie übersah und führte die kleinen Geschäfte des Haushalts mit so bewunderungswürdiger Ordnung, daß Frau von La Motte sich gar nicht darum zu bekümmern brauchte; und in dieser abgeschiedenen Lage wußte sie sich manchen Zeitvertreib zu verschaffen, der das Andenken ihres eigenen Mißgeschicks oftmahls schwächte. La Mottens Bücher waren ihr vornehmster Trost. Oft ging sie mit einem davon in dem Walde spazieren, wo der Bach, der sich durch ein Gebüsch wand, Kühlung verbreitete, und durch sein Murmeln zur Ruhe einlud. Hier setzte sie sich an fein Ufer, und verbrachte, der Täuschung des Lesens hingegeben, manche Stunden in Vergessenheit des Kummers.

Frau von La Motte hatte oftmahls einiges Verlangen nach den Begebenheiten ihres Lebens geäußert, und zu wissen gewünscht, durch was für Umstände sie in die gefährliche und geheimnißvolle Lage gerathen sey, worin La Motte sie fand. Adeline sagte ihr dann mit wenig Worten, auf welche Art sie an jenen Ort gebracht wurde, bat aber immer mit Thränen, sie für jetzt mit einer nähern Erzählung ihrer Geschichte zu verschonen. Ihre Lebensgeister waren damahls eines solchen Rückblicks nicht fähig; jetzt aber, da sie durch Ruhe gesänftigt, durch Vertrauen gestärkt waren, theilte sie eines Tages der Frau von La Motte folgende Geschichte mit:


»Ich bin das einzige Kind von Louis St. Pierre, eines Edelmanns aus gutem Hause, aber von geringem Vermögen, der viele Jahre hindurch zu Paris wohnte. Meiner Mutter kann ich mich nur schwach erinnern; ich verlor sie, als ich erst sieben Jahre alt war, und dieß war mein erstes Unglück. Bey ihrem Tode gab mein Vater seinen Haushalt auf, that mich in ein Kloster, und verließ Paris. So wurde ich in so früher Zeit des Lebens Fremden überlassen! Mein Vater kam zu Zeiten nach Paris; er pflegte mich dann zu besuchen, und ich erinnere mich noch wohl, wie schmerzlich ich weinte, wenn er wieder fortging. Zwar schien er bey solchen Gelegenheiten, die mein Herz mit Wehmuth erfüllten, ganz ungerührt, so daß ich oft glaubte, er hätte wenig Liebe für mich; doch war er mein Vater und die einzige Person: von der ich Schutz und Zärtlichkeit erwarten konnte.

In diesem Kloster blieb ich bis in mein zwölftes Jahr. Tausendmahl hatte ich meinen Vater gebeten, mich nach Hause zu nehmen, allein anfangs hielten Bewegungsgründe der Klugheit und nachher des Geitzes ihn ab. Ich wurde aus diesem Kloster in ein anderes gebracht, wo ich erfuhr, daß mein Vater den Schleier für mich bestimmt hätte. Ich will nicht versuchen, mein Erstaunen und Schmerz zu schildern. Zu lange schon war ich in den Mauern eines Klosters vergraben gewesen, und meine Abneigung, die Bestimmung ihrer Gemüther zu theilen, war zu groß, um nicht Schrecken bey dem Gedanken zu empfinden, ihre Zahl zu vermehren.

Die Äbtissinn war eine Frau von strengen Sitten und strenger Frömmigkeit, äußerst pünctlich in der Beobachtung jedes kleinen Wohlstandes, und vergab nie einen Verstoß gegen das Herkommen. Es war ihre Art, wenn sie ihrem Orden neue Bekennerinnen erwerben wollte, mehr zu schrecken und zu drohen, als zu überreden und zu liebkosen. Ihre Künste waren die, welche durch Furcht wirken, nicht die, welche die Vernunft sanft gefangen nehmen. Sie bediente sich unzähliger Kunstgriffe, um mich zu ihrem Zweck zu bringen, und sie trugen alle die Farbe ihres Charakters. Allein ich sah bey dem Leben, welchem sie mich widmen wollte, zu viele Gestalten wirklichen Schreckens, um mich durch die erträumten, welche sie um mich her stellte, fangen zu lassen, und blieb fest entschlossen, den Schleier zu verwerfen. Hier brachte ich einige Jahre in elendem Widerstand hin. Meinen Vater sah ich selten; so oft es geschah, flehte ich ihn, meine Bestimmung zu ändern; allein er wandte mir ein, daß sein Vermögen nicht zureiche, mich in der Welt zu erhalten, und drohte mir endlich Strafe, wenn ich in meinem Ungehorsam beharrte.

Sie können sich keinen Begriff von dem Elende meines Zustandes machen: zu ewigem Gefängniß bestimmt, oder der Rache eines Vaters hingegeben, dem ich nichts entgegen setzen konnte. Meine Entschlossenheit nahm ab – eine Zeitlang schwankte ich zwischen der Wahl von Übeln; endlich aber stellten die Schrecknisse eines Klosters sich mir in so furchtbarer Gestalt dar, daß meine Fassung erlag. Ausgeschlossen von dem fröhlichen Genuß der Gesellschaft – von dem reizenden Anblick der Natur – beynahe vom Licht des Tages; zum Schweigen, zu strenger Förmlichkeit, Enthaltung und Buße verdammt; gezwungen, den Freuden einer Welt zu entsagen, welche die Einbildungskraft mir in den heitersten, anlockendsten Farben mahlte, nicht weniger zauberisch vielleicht, weil sie bloß idealisch waren – dieß war der Zustand, zu welchem man mich bestimmte. Auf das neue stärkte sich meine Entschlossenheit: meines Vaters Härte überwältigte mein kindliches Gefühl, und erregte Erbitterung in meinem Herzen. Da er die Zärtlichkeit eines Vaters vergessen, und ohne Gewissensbisse sein Kind der Verzweiflung und dem Elende Preis geben kann, sagte ich zu mir selbst, so sind die Bande kindlicher und väterlicher Pflicht unter uns zerrissen: er selbst hat sie aufgelöst, und ich will noch um Freyheit und Leben kämpfen.

Da die Äbtissinn mich bey ihren Drohungen unbeweglich fand, nahm sie ihre Zuflucht zu feinern Maßregeln: sie ließ sich herab, zu lächeln, ja sogar zu schmeicheln; allein ihr Lächeln war nicht das holde Kind der Güte: es erregte Ekel, statt Neigung einzuflößen. Sie schilderte den Charakter einer Vestalinn mit den schönsten Farben der Kunst seine heilige Unschuld; sanfte Würde, erhabene Reinigkeit. Ich seufzte bey ihren Worten. Sie hielt es für ein günstiges Zeichen, und fuhr mit größerer Lebhaftigkeit in ihrem Gemählde fort. Sie beschrieb die stille Heiterkeit eines klösterlichen Lebens; seine Sicherheit vor den verführerischen Reizen rastloser Leidenschaften, und vor den schmerzhaften Abwechslungen der Welt – die geistigen Entzückungen der Andacht und die süße, gegenseitige Zärtlichkeit der Schwestern.

Sie vollendete das Gemählde mit solcher Kunst, daß jede andere, als ich, vielleicht dadurch hingerissen seyn würde. Allein mein Gefühl und meine Erfahrung wiedersprachen diesem Gemählde. Zu oft hatte ich die geheime Thräne und den durchbrechenden Seufzer fruchtloser Reue gesehen, die trüben Qualen der Unzufriedenheit, die stumme Angst der Verzweiflung. Mein Schweigen und ganzes Benehmen verrieth die Festigkeit meines Entschlußes, und nur mit Mühe behielt sie ihre Fassung bey.

Mein Vater gerieth in höchsten Zorn über meine Beharrlichkeit, die er halsstarrigen Eigensinn nannte; allein, was nicht so glaublich scheint, er besänftigte sich bald, und bestimmte einen Tag, wo er mich aus dem Kloster nehmen wollte. Denken Sie sich meine Freude, als ich diese Nachricht erfuhr! Alle meine Dankbarkeit erwachte, ich vergaß seine vorige Härte; vergaß, daß diese Nachsicht weniger das Werk seiner Güte, als meiner Entschlossenheit war. Ich weinte aus Rührung, daß ich nicht jeden seiner Wünsche erfüllen konnte.

Welche Tage glücklicher Erwartung, die vor meiner Abreise hergingen! Die Welt, von der ich bisher abgesondert war, diese Welt, in welcher meine Fantasie so gern umherschwärmte, deren Pfade ich mit unverwelklichen Rosen bestreute, wo jede Scene mir in Schönheit entgegen lächelte, und mich zum Entzücken einlud – wo alle Menschen gut, alle Guten glücklich waren – Ach, diese Welt stand vor meinen Blicken. Lassen Sie mich die süsse Erinnerung haschen, ehe sie verschwindet! Sie gleicht den vergänglichen Lichtstrahlen des Herbstes, die einen Augenblick jenen Hügel beleuchten und dann ihn der Dunkelheit hingeben. Ich zählte die Tage und Stunden, die mich noch von diesem Feenlande schieden. Nur im Kloster wohnte nach meiner Meinung Elend. Ich sollte es verlassen; wie beklagte ich die armen Nonnen, die ich darin zurück ließ! Die halbe Welt, die ich so sehr schätzte, hätte ich gegeben, sie mit mir herausnehmen zu dürfen!

Endlich erschien der lange ersehnte Tag. Mein Vater kam, und für einen Augenblick verlor sich meine Freude in dem Schmerz, meinen armen Gefährtinnen Lebewohl zu sagen, für die ich noch nie so warme Zärtlichkeit empfunden hatte, als in dieser Stunde. Bald war ich außer den Thoren des Klosters. Ich sah mich rings umher, sah das weite Gewölbe des Himmels nicht länger von klösterlichen Mauern begrenzt, und die grüne Erde in Hügeln und Thal um den runden Kreis des Horizonts verbreitet! Mein Herz klopfte von Entzücken, Thränen stiegen mir in die Augen, und ich war einige Augenblicke unvermögend zu sprechen. Meine Gedanken stiegen zum Himmel auf, in Gefühlen des Dankes gegen den Geber alles Guten.

Endlich wandte ich mich zu meinem Vater:

›Theuerster Vater,‹ sagte ich, ›wie dankbar bin ich Ihnen für meine Befreyung! wie innig wünschte ich alles zu thun, um Ihnen gefällig zu seyn!‹

›So kehre in dein Kloster zurück!‹ sagte er im rauhen Ton.

Ich schauderte; sein Blick und Wesen erstarrten die frohe Stimmung meines Gefühls: sie brachten Misklang in mein Herz, das zuvor nur süßer Harmonie offen stand. Die Wärme der Freude wurde in einem Augenblick erstickt, und jeder Gegenstand um mich mit dem Schatten getäuschter Hoffnung verdunkelt. Nicht, daß ich glaubte, mein Vater würde mich wirklich in das Kloster zurück bringen, sondern weil seine Gefühle der Freude und Dankbarkeit so gar nicht zu entsprechen schienen, die ich einen Augenblick zuvor empfunden und geäußert hatte. Verzeihen Sie mir, Madame, die Erwähnung dieser an sich unbedeutenden Dinge: die starken Abwechslungen des Gefühls, die sie in meinem Herzen hervorbrachten, machen sie mir wichtiger scheinen, da sie Ihnen vielleicht lästig sind.«

»Nein, meine Liebe,« sagte Frau von La Motte, »nichts weniger als das; sie sind mir wichtig, weil sie kleine Züge des Charakters enthüllen, dessen Beobachtung mich freut. Sie verdienen meine ganze Liebe, und von diesem Augenblick an gelobe ich Ihrem Unglück mein zärtlichstes Mitleid und Ihrem guten Herzen meine wärmste Freundschaft.«

Diese Worte rührten Adelinen bis in das Innerste; sie küßte die Hand, welche Frau von La Motte ihr reichte und schwieg einige Minuten. Endlich sagte sie:

»Möchte ich diese Güte verdienen, und ewig dankbar gegen Gott seyn, der mir in einer solchen Freundinn Trost und Hoffnung schenkt! –

»Meines Vaters Landgut lag einige Meilen jenseits Paris, und wir kamen auf unserem Wege dahin durch diese Stadt. Welche neue Scene! Wo waren jetzt die frostigen Gesichter, das steife Betragen, das ich im Kloster zu sehen gewohnt war! jedes Gesicht war hier belebt, von Beschäftigung oder Freude; jeder Schritt war leicht, jedes Lächeln Vergnügen. Alle Menschen schienen Freunde zu seyn; sie sahen und lächelten mich an; ich lächelte wieder, und hätte ihnen sagen mögen, wie froh ich war! Welche Lust, sagte ich, von Freunden umgeben zu leben!

Welche gedrängte Straßen! Welche prächtige Gebäude! Kaum bemerkte ich, daß die Straßen enge, die Wege gefährlich waren. Welches Leben, welches Gefühl, welche Freunde! Ich konnte mich nicht glücklich genug preisen, daß ich aus meinem Kloster erlöst war. Aufs neue wollte ich meinem Vater meine Dankbarkeit ausdrücken, allein seine Blicke verbothen es mir und ich schwieg. Ich werde zu weitläuftig; selbst die schwachen Abdrücke, welche das Gedächtniß von vergangner Freude zurückgibt, sind dem Herzen süß. Mit schwermüthigem Genuß hängen wir noch an dem Schatten des Vergnügens, wenn gleich sein Wesen unsrer Erreichung entflohen ist!

Nachdem ich unter vielem Seufzen Paris verlassen und es noch angestaunt hatte, bis auch der letzte Kirchthurm in der Ferne schwand, kamen wir auf eine düstre, unbesuchte Straße. Es war Abend, als wir eine wilde Heyde erreichten – ich sah mich nach einer menschlichen Wohnung um, konnte aber keine entdecken, und nicht ein menschliches Wesen war zu sehen. Ich empfand etwas dem ähnliches, als ich im Kloster zu fühlen pflegte: mein Herz war noch nicht so schwer gewesen, seit ich es verlassen hatte. Ich fragte meinen Vater, der noch immer schweigend da saß, ob wir bald an Ort und Stelle wären? Er antwortete bejahend.

Die Nacht kam indessen heran, ehe wir den Ort unsrer Bestimmung erreichten. Es war ein einsames Haus auf der Wüste; doch ich brauche es Ihnen nicht zu beschreiben. Als der Wagen still hielt, zeigten sich zwey Männer an der Thüre und halfen uns heraus. Ihre Gesichter waren so finster, ihre Worte so karg, daß ich mich beynahe wieder im Kloster glaubte. Soviel ist gewiß, daß ich keine so traurigen Gesichter gesehn hatte, seit ich es verließ. ›Ist dieß ein Theil der Welt, die ich mit solchem Entzücken ansah?‹ sagte ich zu mir selbst.

Das Innere des Hauses war öde und schlecht: ich wunderte mich, daß mein Vater einen solchen Ort zu seiner Wohnung erwählt hatte, auch daß ich kein weibliches Geschöpf sah; allein ich wußte, daß Fragen mir nur Verweise zuziehen würden und schwieg also. Bey Tisch setzten sich die zwey Leute, die ich zuvor gesehn hatte, zu uns: sie sagten wenig, schienen mich aber aufmerksam zu betrachten. Ich wurde verlegen und mißmuthig: mein Vater merkte es und sah sie mit einem finstern Blick an, der mich überzeugte, daß er mehr im Sinn hatte, als ich begrif. Sobald abgegessen war, nahm mich mein Vater bey der Hand und führte mich in mein Zimmer; er setzte das Licht hin, wünschte mir gute Nacht, und überließ mich meinen einsamen Gedanken.

Wie verschieden waren sie jetzt von denjenigen, die mich wenig Stunden zuvor beschäftigten! Damahls hüpften Erwartung, Hoffnung und Freude um mich her. Jetzt ertödtete Schwermuth und getäuschte Erwartung die Wärme meines Herzens und trübte meine Aussicht in die Zukunft. Das Ansehn aller Dinge um mich her trug bey, mich niederzuschlagen. Auf der Erde war ein kleines Bette zurecht gemacht, ohne Überzüge und Umhänge; zwey alte Stühle und ein Tisch machten die ganze Möblirung aus. Ich ging ans Fenster, um in die Gegend zu sehn; es war mit Eisen vergittert. Dieser Umstand erschreckte mich, und wenn ich ihn mit der Entlegenheit und dem seltsamen Ansehn des Hauses, mit den Gesichtern und Betragen der Leute, die mit uns gegessen hatten, zusammen hielt, so verlor ich mich in einem Labyrinth von Vermuthungen.

Endlich legte ich mich nieder um zu schlafen: allein die Angst meiner Seele verscheuchte die Ruhe von mir: finstre, unangenehme Bilder schwirrten vor meiner Fantasie, und ich fiel in eine Art von wachenden Traum: mich däuchte, ich wäre mit meinem Vater in einem einsamen Walde; seine Miene war finster, seine Gebährden drohend; er warf mir vor, das Kloster verlassen zu haben, und zog, während er sprach, einen Spiegel aus der Tasche, den er mir vors Gesicht hielt: ich sah hinein und erblickte – noch gefriert mein Blut bey der Wiederhohlung – erblickte mich verwundet und heftig blutend. Dann glaubte ich mich wieder in dem Hause, und hörte plötzlich die Worte, und zwar so deutlich, daß ich lange nach dem Erwachen sie kaum für Einbildung halten konnte: Eile aus diesem Hause, Verderben schwebt über dir!

Ein Fußtritt auf der Treppe erweckte mich: es war mein Vater, der in sein Schlafzimmer ging: die späte Stunde fiel mir auf; es war Mitternacht vorbey.

Den folgenden Morgen versammlete sich die Gesellschaft vom vorigen Abend beym Frühstück; und alle waren eben so schweigend und finster als zuvor. Ein kleiner Bedienter meines Vaters deckte den Tisch, allein die Köchinn und das Hausmädchen, wer sie auch seyn mochten, waren unsichtbar.

Den andern Tag befremdete es mich, meine Thüre verschlossen zu finden, als ich aus dem Zimmer gehen wollte: ich wartete lange, ehe ich zu rufen wagte, – als ich es that, erhielt ich keine Antwort. Ich ging ans Fenster und rief lauter, aber meine eigne Stimme war der einzige Ton, den ich vernahm. Beynahe eine Stunde brachte ich in unbeschreiblicher Angst hin: endlich hörte ich jemand auf der Treppe und erneuerte mein Rufen; ich erhielt zur Antwort: mein Vater wäre diesen Morgen nach Paris gereist, von wo er in wenig Tagen zurückkommen würde; indessen hätte er befohlen, mich in meinem Zimmer eingesperrt zu halten. Als ich meine Angst und Befremdung hierüber ausdrückte, versicherte man mich, ich brauchte nichts zu fürchten, und sollte so gut hier leben, als wenn ich in Freyheit wäre.

Diese letzten Worte enthielten eine wunderbare Art von Trost: ich antwortete wenig, und unterwarf mich der Nothwendigkeit. Noch einmahl sah ich mich traurigen Betrachtungen hingegeben! welch einen Tag brachte ich zu! einsam, von Schmerz und Angst zerrissen. Ich bemühte mich, die Ursache dieser harten Behandlung zu errathen, und glaubte endlich, sie sollte Strafe meines Ungehorsams im Kloster seyn. Aber warum gab mein Vater mich in die Gewalt von Fremden? von Menschen, deren Gesichter den Stämpel der Nichtswürdigkeit in so starken Zügen trugen, daß selbst mein unerfahrnes Gemüth mit Abscheu erfüllt wurde?

Ich gerieth immer tiefer in Zweifel und Unruhe, doch war es mir unmöglich, meine Gedanken von diesem Gegenstande abzuziehn, und der Tag verstrich zwischen Klagen und Vermuthungen. Endlich kam die Nacht, und welch eine Nacht! Die Dunkelheit brachte neues Schrecken mit sich: ich sah mich in der Kammer um, ob ich nichts finden könnte, die Thüre von innen zu befestigen, aber ich sah nichts: endlich fiel ich darauf, die Lehne eines Stuhls gegen das Schloß zu stemmen.

Kaum hatte ich dieß gethan, und mich in meinem Zeuge aufs Bett geworfen, nicht um zu schlafen, sondern zu wachen, so hörte ich ein. Klopfen an der Hausthüre, die so geschwind auf- und wieder zugemacht wurde, daß der Anklopfende nur einen Brief oder eine Nachricht gebracht haben konnte. Kurz darauf hörte ich in einem Zimmer an der Erde Stimmen, die oft ganz leise sprachen, oft alle mit eins anhuben, als wären sie im Streit. Etwas mehr zu entschuldigendes als Neugierde, machte, daß ich mich bemühte sie zu verstehen, allein umsonst: dann und wann haschte ich ein Wort auf, und einmahl hörte ich meinen Nahmen nennen, weiter aber nichts.

So verstrichen die Stunden bis Mitternacht, wo alles still wurde. Ich hatte eine Weile zwischen Furcht und Hoffnung gelegen, als ich das Schloß an meiner Thüre leise umdrehen hörte: einen Augenblick war es still, dann kehrte das Geräusch wieder, und ich hörte ein Flüstern von aussen: meine Lebensgeister erstarben, ich hatte kaum noch Bewußtseyn. Gleich nachher geschah ein heftiger Stoß an die Thüre, als wollte man sie sprengen. Ich schrie laut auf und hörte sogleich die Stimmen der Leute, die ich an meines Vaters Tisch gesehn hatte: sie riefen laut, daß ich die Thüre öffnen sollte, und als ich keine Antwort gab, stießen sie schreckliche Drohungen aus. Ich behielt noch eben Kräfte genug, um aus Fenster zu gehn, in verzweifelter Hoffnung, von da zu entwischen: allein meine schwachen Versuche konnten nicht einmahl die Stäbe erschüttern. O nie kann ich mich dieser Augenblicke des Entsetzens erinnern und dankbar genug seyn, daß ich jetzt in Ruhe und Sicherheit bin!

Sie blieben eine Weile vor der Thüre, verließen sie dann und gingen die Treppe hinunter. Wie lebte bey jedem Schritt, dem sie fortgingen, mein Herz auf! Ich fiel auf meine Knie, dankte Gott; daß er mich dießmahl erhalten hatte, und flehte seinen fernern Schutz an. Ich wollte eben von diesem kurzen Gebeth aufstehn, als ich plötzlich ein Lärmen in einem andern Theil des Zimmers hörte; ich sah mich um und erblickte die Thüre eines kleinen Kabinets offen, und zwey Leute kamen herein.

Sie ergriffen mich, und ich sank leblos in ihre Arme, wie lange ich in diesem Zustande blieb, weiß ich nicht; als ich wieder erwachte, sah ich mich allein und hörte verschiedne Stimmen von unten. Ich hatte Gegenwart des Geistes genug nach der Thüre des Kabinets zu laufen, meine einzige Aussicht auf Entwischung allein sie war verschlossen! Ich besann mich nun, daß es möglich wäre, daß die Kerls das Schloß an der Kammerthüre zuzuschließen vergessen hätten, welches der Stuhl befestigte; allein auch hier wurde ich betrogen. Ich rang voll Verzweiflung die Hände, und stand eine Zeitlang unbeweglich da.

Ein heftiger Lärm von unten schreckte mich auf, und bald nachher hörte ich Leute die Treppe herauf kommen. Nun glaubte ich mich verloren die Schritte kamen näher, die Thüre des Kabinets wurde wieder geöffnet. Ich stand ruhig, und sah wieder die nähmlichen Kerls herein kommen; ich vermochte weder zu sprechen, noch zu widerstehen, die Kräfte meiner Seele versanken in Fühllosigkeit, gleich wie ein heftiger Schlag auf den Körper, eine Zeitlang das Gefühl des Schmerzes vernichtet. Sie führten mich die Treppe hinunter; die Thüre eines untern Zimmers wurde aufgerissen und ich sah einen Fremden. Nunmehr kehrten meine Sinnen wieder; ich schrie und sträubte mich, wurde aber fortgeschleppt. Es ist unnöthig zu sagen, daß dieser Fremde der Herr von La Motte war; oder hinzuzufügen, daß ich ihn ewig als meinen Befreyer segnen werde.«

 

Adeline hörte auf zu reden. Frau von La Motte schwieg. Einige Umstände in Adelinens Erzählung erregten ihre ganze Neugierde. Sie fragte Adelinen, ob sie glaubte, daß ihr Vater an dieser seltsamen Begebenheit Antheil gehabt hätte? Ungeachtet es unmöglich war, zu zweifeln, daß er mit dabey im Spiel, oder vielmehr die Hauptperson gewesen war, glaubte doch Adeline, oder sagte wenigstens, sie spräche ihn von allen Anschlägen auf ihr Leben völlig frey.

»Allein aus was für Gründen konnte man denn eine den Anschein nach so unnütze Grausamkeit ausüben?« fragte Frau von La Motte.

Hier war die Antwort am Ende, und Adeline gestand, sie hätte darüber nachgedacht, bis sie vor allem weitern Forschen zurück geschaudert sey.

Frau von La Motte bezeugte ihr nun alle Theilnahme, die ein so außerordentliches Schicksal verdiente, und diese Äußerungen befestigten das Band gegenseitiger Freundschaft. Adeline fühlte sich durch ihre Eröffnung gegen sie erleichtert, und ihre Freundinn erkannte den Werth ihres Vertrauens durch Vermehrung ihrer Zärtlichkeit.



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