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Siebentes Kapitel.

Wenig Tage nach der im vorigen Kapitel erzählten Begebenheit, als Adeline einsam in ihrem Zimmer saß, wurde sie durch das Trampeln von Pferden nahe beym Thore aus ihren Fantasien erweckt, und sah aus ihrem Fenster den Marquis de Montalt in die Abtey gehen. Diese Erscheinung befremdete sie, und eine Bewegung, in deren Ursache sie nicht forschen mochte, trieb sie sogleich vom Fenster zurück. Dieselbe Ursache indessen führte sie eben so schnell wieder dahin, allein der Gegenstand, den ihre Blicke suchten erschien nicht, und sie hatte keine Eile, sich zurückzuziehen.

Indem sie sinnend und getäuscht da stand, kam der Marquis mit La Motte heraus, und verbeugte sich gegen Adelinen, zu der er herauf sah. Sie erwiederte ehrerbiethig seinen Gruß und verließ das Fenster, unmuthig, daß man sie das selbst gesehen hatte. Sie gingen in den Wald, allein des Marquis Leute folgten ihnen dießmahl nicht. Als sie nach einer langen Zeit zurückkamen, stieg der Marquis sogleich auf das Pferd und ritt davon.

La Motte schien den Tag über düster und still, und war oft in Gedanken verloren. Adeline betrachtete ihn mit Aufmerksamkeit und Bekümmerniß: sie sah, daß jede Zusammenkunft mit dem Marquis ihn schwermüthiger machte, und erstaunte zu hören, daß dieser letzte den folgenden Tag auf der Abtey essen wollte.

Als La Motte dieses erwähnte, fügte er einige hohe Lobsprüche über den Charakter des Marquis hinzu, und pries besonders seine Großmuth und Adel der Seele. In diesem Augenblick erinnerte sich Adeline an die Geschichte, die sie von der Abtey hatte erzählen hören, und sie warfen einen Schatten über den Glanz von Vortreflichkeit, welche La Motte jetzt erhob. Doch schien das Gerücht nicht viel Glauben zu verdienen; ein Theil davon, so weit ein Nichtseyn einen Beweis abgeben kann, war bereits widerlegt: denn ungeachtet der Erzählung, daß es auf der Abtey spukte, hatten die gegenwärtigen Bewohner noch keine übernatürliche Erscheinung bemerkt.

Doch wagte Adeline zu fragen, ob es der jetzige Marquis wäre, von dem sich diese nachtheiligen Gerüchte verbreitet hätten?

La Motte antwortete mit einem spöttischen Lächeln:

»Mährchen von Geistern und Hexen haben immer bey dem Pöbel Bewunderung und Glauben gefunden. Ich für mein Theil, bin wenigstens eben so geneigt, mich auf das Zeugniß meiner eigenen Erfahrung als auf die Geschwätze dieser Bauern zu verlassen. Wenn Sie etwas gesehen haben, das Sie bestätigen kann, so theilen Sie mir es doch mit, damit sich mein Glaube stärkt.«

»Sie mißverstehen mich,« sagte sie, »ich wollte nicht nach übernatürlichen Dingen fragen, sondern hatte nur einen gewissen Theil des Gerüchts im Sinn, nähmlich von einem Menschen, der auf Befehl des Marquis hier eingesperrt und auf keine gute Art um das Leben gekommen seyn sollte. Man gab dieß zur Ursache an, weswegen der Marquis die Abtey verlassen hätte.«

»Lauter Gewäsch der Müßigkeit! eine fabelhafte Erzählung, um Verwunderung zu erregen: es ist genug den Marquis zu sehen, um es zu widerlegen; wenn wir die Hälfte von Geschichten, die aus der nähmlichen Quelle springen, glauben wollen, so zeigen wir uns wenig über die Einfältigen erhaben, die sie erfanden. Ihr Verstand, Adeline, sollte Sie, denke ich, vor solcher Leichtgläubigkeit schützen.«

Adeline erröthete und schwieg; doch schien ihr La Mottens Vertheidigung des Marquis weit wärmer und ausführlicher, als es seinem Charakter gewöhnlich war, oder hier erfodert wurde. Sein ehemahliges Gespräch mit Louis fiel ihr ein, und das jetzige befremdete sie um so mehr.

Sie sah dem morgenden Tage mit einer Mischung von Pein und Vergnügen entgegen: die Erwartung, den jungen Chevalier wieder zu sehen, beschäftigte ihre Gedanken und erregte ein Gemisch von Empfindungen in ihr: bald fürchtete sie seine Gegenwart, und bald zweifelte sie, ob er kommen würde. Endlich erröthete sie über sich selbst, ihre Gedanken so sehr mit ihm beschäftigt zu finden.

Der morgende Tag kam, der Marquis erschien – aber er erschien allein! und der Sonnenschein in Adelinens Seele wurde getrübt, wiewohl sie Fassung genug besaß, ihre gewohnte Heiterkeit beyzubehalten. Der Marquis war höflich, gesprächig und aufmerksam: mit den feinsten und angenehmsten Sitten vereinigte er die höchste Ungezwungenheit der großen Welt. Seine Unterhaltung war lebhaft, geistvoll, oft sogar witzig und verrieth große Kenntniß der Welt, oder wenigstens, was oft dafür gehalten wird: Bekanntschaft mit den höhern Zirkeln und den Gegenständen des Tages.

Hier war auch La Motte in seinem Fache, und sie sprachen mit Witz und Laune über die Charaktere und Sitten des Zeitalters, Frau von La Motte hatte ihren Mann noch nicht so vergnügt gesehen, seit sie Paris verließen, und oft wähnte sie beynahe, selbst dort zu seyn. Adeline hörte zu, bis sie die Munterkeit, die sie anfangs nur erkünstelt hatte, wirklich empfand. Die Anreden des Marquis waren so gefällig und leutselig, daß ihre Zurückhaltung nach und nach verschwand, und ihre natürliche Lebhaftigkeit die lange verlorne Herrschaft wieder gewann.

Beym Abschiede sagte der Marquis zu La Motte, er freute sich, einen so angenehmen Nachbar gefunden zu haben. La Motte verneigte sich.

»Ich werde Sie oft besuchen,« sagte er, »und beklage nur, daß ich Frau von La Motte und ihre schöne Freundinn nicht auf mein Schloß einladen kann; ich lasse jetzt an einigen Veränderungen arbeiten, die es zu einem sehr ungemächlichen Aufenthalt machen.«

La Mottens Munterkeit verschwand mit seinem Geiste, und er fiel bald in sein gewöhnliches Stillschweigen und Tiefsinn zurück.

»Der Marquis ist ein sehr angenehmer Mann,« sagte Frau von La Motte –

»Sehr angenehm,« versetzte er –

»Und scheint viel Herzensgüte zu haben,« fuhr sie fort –

»Sehr viel,« sagte La Motte.

»Sie scheinen nachdenkend, mein Lieber. Was fehlt Ihnen?«

»Nichts auf der Welt. Ich dachte nur, es ist doch Schade, daß mit so angenehmen Talenten und solcher Herzensgüte der Marquis –«

»Was, mein Kind?« fragte Madame ungeduldig –

»Daß der Marquis – daß er diese Abtey so verfallen läßt –« erwiederte La Motte.

»Ist das alles?« sagte Madame mit getäuschter Miene. –

»Alles, auf meine Ehre,« erwiederte La Motte, und verließ das Zimmer.

 

Adelinens Lebensgeister versanken in Mattigkeit, da die lebhafte Unterhaltung des Marquis sie nicht länger spannte, und sie ging, nachdem er fort war, tiefsinnig in den Wald. Sie folgte einem kleinen romantischen Wege, der sich am Strome hinwand und mit dicken Zweigen überschattet war. Die Ruhe der Gegend, welche der Herbst jetzt mit seinen goldenen Farben berührte, wiegte ihre Seele in eine sanfte Schwermuth, und sie ließ eine Thräne, die sich, sie wußte nicht warum, in ihr Auge geschlichen hatte, ungehindert herabrollen.

Sie kam an eine kleine Vertiefung, welche hohe Bäume beschirmten: der Wind seufzte klagend zwischen den Bäumen, und schüttelte ihre Blätter zur Erde, wenn er in ihren hohen Wipfeln wehte. Sie setzte sich auf einen kleinen Hügel und hing den schwermüthigen Gedanken nach, die sich zu ihrer Seele drängten.

»O könnte ich in die Zukunft tauchen und die Schicksale sehen, die noch meiner warten! vielleicht würde ich durch stetes Betrachten Stärke gewinnen, sie zu ertragen. Eine Waise in dieser weiten Welt – Fremden in die Arme geworfen, deren Güte ich sogar meinen Lebensunterhalt danken muß; was für Leiden muß ich nicht erwarten! O mein Vater, wie konntest du so dein Kind verlassen – es den Stürmen des Lebens überlassen, um vielleicht darin zu versinken. Ach! ich habe keinen Freund! –«

Ein Geräusch in dem gefallenen Laube unterbrach sie: sie sah sich um, und erblickte des Marquis jungen Freund.

»Verzeihen Sie diesen Einbruch,« sagte er, »Ihre Stimme zog mich hieher und Ihre Worte hielten mich zurück. Mein Vergehen führt seine eigene Strafe mit sich, denn da ich Ihren Kummer erfahren habe, wie kann ich umhin, ihn mit zu empfinden! Möchte meine Theilnahme, mein eigenes Leiden das Ihrige lindern können! –« Er stockte – »Möchte ich den Nahmen Ihres Freundes verdienen und von Ihnen selbst dessen würdig gefunden werden!

Adelinens Verwirrung erlaubte ihr kaum zu antworten: sie zitterte, und zog sanft ihre Hand, die er ergriffen hatte, aus der seinigen.

»Vielleicht haben Sie mehr gehört, als wirklich ist,« sagte sie. »Es ist wahr, ich bin nicht glücklich, allein ein trüber Augenblick hat mich unbillig gemacht, und ich habe mein Schicksal vielleicht härter geschildert, als es wirklich ist. Wenn ich sagte, ich hätte keinen Freund, so war ich undankbar gegen die Güte des Herrn und der Frau von La Motte, die mir wirklich mehr als Freunde, die mir Ältern gewesen sind.«

»Wenn das ist, so ehre ich sie,« rief Theodor mit Wärme, »und wäre es nicht verwegen, so würde ich fragen, warum Sie sich unglücklich schätzen? – Aber –«

Er schwieg. Adeline schlug die Augen auf, und sah, daß er mit inniger, wehmüthiger Zärtlichkeit sie anblickte, und ihr Auge sank wieder zur Erde.

»Ich habe Sie bekümmert,« sagte Theodor, »durch eine unschickliche Frage. Können Sie mir vergeben, und auch das noch, wenn ich hinzusetze, daß Bekümmerniß um Ihr Wohl meine Frage eingab.«

»Vergebung dürfen Sie nicht bitten. Gewiß bin ich Ihnen für die Äußerung Ihres Antheils verbunden. Allein der Abend wird kühl, wenn es Ihnen gefällig ist, wollen wir nach der Abtey gehen.«

Theodor ging eine Weile schweigend neben ihr her. Endlich sagte er:

»Erst eben bat ich Sie um Verzeihung, und jetzt muß ich es vielleicht wieder, allein Sie werden mir die Gerechtigkeit erweisen, zu glauben, daß ich starke, und vielleicht dringende Gründe habe, Sie zu fragen, wie nahe Sie mit Herrn von La Motte verwandt sind?«

»Ich bin gar nicht mit ihm verwandt, allein den Dienst, welchen er mir geleistet hat, kann ich nie vergelten, und hoffe, Dankbarkeit wird mich ihn nie vergessen lassen.«

»Ist es möglich?« sagte Theodor mit sichtlicher Verwunderung, »und darf ich fragen, wie lange Sie ihn gekannt haben?«

»Lieber lassen Sie mich fragen, wozu diese Erkundigungen?«

»Sie haben Recht, ich habe diesen Vorwurf verdient; ich hätte mich deutlicher erklären sollen. –«

Er sah aus, als wenn seine Seele unter etwas arbeitete, das ihm zu äußern schwer ward. –

»Allein Sie wissen nicht, wie bedenklich meine Lage ist,« fuhr er fort, »doch kann ich Ihnen nicht verheelen, daß meine Fragen durch die zärtlichste Bekümmerniß für ihr Wohl, ja selbst durch meine Furcht für Ihre Sicherheit eingegeben. wurden. –

Adeline sah ihn starr an. –

»Ja,« sagte er, »ich fürchte, Sie werden hintergegangen, und Gefahr schwebt um Sie.«

Adeline stand still, sah ihn ernsthaft an und bat ihn, sich zu erklären. Sie ahndete, daß La Motten ein Unglück drohte, und da Theodor schwieg, wiederhohlte sie ihre Frage.

»Wenn La Motte in Gefahr ist,« sagte sie, so erlauben Sie mir, ihn unverzüglich zu warnen; er hat nur zu viel Unglück zu besorgen.«

»Trefliches Mädchen,« rief Theodor, »wie verhärtet müßte das Herz seyn, das Sie betrüben könnte? Wie soll ich Ihnen zu verstehen geben, was ich fürchte, und wie kann ich unterlassen, Sie vor Ihrer Gefahr zu warnen, ohne –«

Ein Geräusch zwischen den Bäumen unterbrach ihn, und gleich darauf sah er La Motten quer durch den Gang gehen, worin sie waren. Adeline fühlte einige Verwirrung, auf diese Art mit dem Chevalier gesehen zu werden, und wollte auf La Motte, zueilen, allein Theodor hielt sie zurück.

»Es ist jetzt keine Zeit, mich zu erklären,« sagte er, »und doch ist das, was ich Ihnen zu sagen habe, von äußerster Wichtigkeit für Sie. Versprechen Sie mir also, morgen um diese Zeit in irgend einer entlegenen Gegend des Waldes zu seyn, und ich hoffe Sie dann zu überzeugen, daß weder gewöhnliche Umstände, noch gewöhnliche Achtung mein Betragen leiten.«

Adeline fand es anstößig, eine solche Bestellung einzugehen; sie besann sich und bat endlich Theodor, eine Erklärung, die so wichtig schiene, nicht bis morgen zu verschieben, sondern La Motte zu folgen, und ihn sogleich von seiner Gefahr zu benachrichtigen.

»Nicht mit La Motten wünschte ich zu sprechen,« sagte Theodor, »ich weiß von keiner Gefahr, die ihm droht – allein er kommt näher, ich bitte Sie, liebenswürdige Adeline, entschließen Sie sich schnell und versprechen, mich morgen zu sehen.«

»So will ich denn,« sagte Adeline mit bebender Stimme – »ich will eine Stunde früher als heute an dem Orte seyn, wo Sie mich fanden.«

Bey diesen Worten zog sie ihre zitternde Hand zurück, die Theodor zum Zeichen seiner Dankbarkeit an seine Lippen gedrückt hatte, und er verschwand sogleich.

La Motte kam jetzt näher, und Adeline, welche fürchtete, er möchte Theodor gesehen haben, fühlte sich in einiger Verlegenheit.

»Louis ist ja schnell fortgegangen,« sagte La Motte, und erfreut über seinen Irrthum, ließ sie ihn darin.

Sie gingen schweigend nach der Abtey und Adeline, zu voll von ihren eigenen Gedanken, um Gesellschaft ertragen zu können, begab sich auf ihr Zimmer. Sie dachte über Theodors Worte nach, und jemehr sie dachte, je verwirrter ward sie. Oft tadelte sie sich, eine Bestellung eingegangen zu seyn, und hing einem Zweifel nach, ob er sie nicht zu sehen wünschte, um von Liebe zu reden: bald aber strafte Delikatesse diesen Gedanken und verwies ihr die Eitelkeit, daß sie Liebe eingeflößt zu haben glaubte.

Sie erinnerte sich seines ernsthaften Tons und Betragens, als er sie um diese Zusammenkunft bat; und überhaupt von der Wichtigkeit der Sache, schauderte ihr vor der Gefahr, die sie nicht fassen konnte; mit ängstlicher Ungeduld sah sie dem morgenden Tage entgegen. Oft auch schlich eine Erinnerung an den zärtlichen Antheil, den er an ihrem Wohl bezeugt hatte, an seinen Blick und ganzes Wesen, sich in ihre Fantasie, und erweckte eine süße Regung und dunkles Hoffen, ihm nicht gleichgültig zu seyn.

Ein Ruf zum Abendessen riß sie von diesen Betrachtungen; die Mahlzeit war traurig – es war Louis letzter Abend auf der Abtey. Adeline, die ihn wirklich schätzte, beklagte seine Abreise, während seine Augen unablässig mit einem Blick an ihr hingen, welcher zu sagen schien, daß er den Gegenstand seiner heißesten Liebe verließe. Sie bemühte sich, die Gesellschaft aufzuheitern, und vor allen Frau von La Motte, die oft Thränen vergoß.

»Wir werden uns wieder sehen,« sagte sie, »und ich hoffe, glücklicher.«

La Motte seufzte. Louis Gesicht erheiterte sich bey ihren Worten.

»Wünschen Sie es?« sagte er mit innigem Ausdruck. –

»Ganz gewiß,« erwiederte sie, »können Sie an meinem Antheil, an meinen besten Freunden zweifeln?«

»Ich kann bey Ihnen an nichts zweifeln, was gut ist.«

»Du vergißt, daß du nicht mehr in Paris bist, mein Sohn,« sagte La Motte mit einem kleinen Lächeln. »Dort würde ein solches Compliment am rechten Orte seyn – für diese einsamen Wälder paßt es nicht.«

»Die Sprache der Bewunderung ist nicht immer Compliment, mein Vater,« sagte Louis.

Adeline, die dem Gespräch eine andere Richtung zu geben wünschte, fragte, nach welcher Gegend von Frankreich er ginge? –

Er antwortete, sein Regiment liege in Peronne, und dahin würde er jetzt gehen. Nach einigen gleichgültigen Gesprächen begab sich die Familie auf die Nacht in ihre Zimmer.

 

Die nahe Abreise ihres Sohnes beschäftigte Frau von La Mottens Gedanken, und sie erschien beym Frühstück mit geschwollenen Augen. Louis blasses Gesicht verrieth, daß er keine bessere Nacht zugebracht hatte. Als das Frühstück verzehrt war, zog sich Adeline zurück, um nicht durch ihre Gegenwart das letzte Gespräch zu stören. Sie ging auf dem Platze vor der Abtey auf und ab, und überdachte auf das neue den Vorgang des gestrigen Abends; ihre Ungeduld nach der verabredeten Zusammenkunft nahm zu.

Louis kam bald zu ihr.

»Es war nicht gütig,« sagte er, »daß Sie uns in den letzten Augenblicken meines Aufenthalts verließen. Könnte ich nur hoffen, daß Sie zu Zeiten meiner gedenken würden, wenn ich fern bin, so würde ich mit weniger Schmerz scheiden.«

Er äußerte nochmahls seinen Kummer, sie verlassen zu müssen, und wiewohl er sich bisher mit Stärke bewaffnet hatte, das Geständniß einer Liebe zu unterdrücken, die vergebens seyn mußte, so gab doch jetzt sein Herz der Gewalt der Leidenschaft nach, und er sagte Adelinen, was sie jeden Augenblick zu hören fürchtete.

»Diese Erklärung,« versetzte sie, indem sie ihre Bewegung zu verbergen suchte, »macht mir unaussprechlichen Kummer.«

»O sagen Sie nicht so,« unterbrach Louis, »sondern geben Sie mir eine schwache Hoffnung, die mich bey den Qualen der Abwesenheit aufrecht halten kann. Sagen Sie, daß Sie mich nicht hassen – Sagen –«

»Das sage ich von ganzem Herzen,« erwiederte Adeline mit zitternder Stimme; »wenn meine herzliche Achtung und Freundschaft Ihnen Freude machen kann, so empfangen Sie diese Versicherung – als Sohn meiner besten Wohlthäter – sind Sie berechtigt zu –«

»Reden Sie nicht von Wohlthaten – Ihr Werth übertrift sie alle, und lassen Sie mich eine minder kalte Empfindung als Freundschaft hoffen; lassen Sie mich nicht glauben, daß ich Ihr Wohlwollen nur den Handlungen anderer danke. Ich habe lange meine Leidenschaft still in mir verschlossen, weil ich die Schwierigkeiten, die damit verbunden seyn mußten, voraus sah; ja ich habe sogar ihr entgegen zu kämpfen gewagt. Ich war unsinnig genug, es für möglich zu halten, daß ich Sie vergessen könnte, und –«

»Sie betrüben mich,« unterbrach Adeline. »Dieß ist eine Unterhaltung, die ich nicht anhören sollte. Ich kenne keine Verstellung und muß Ihnen erklären, daß zwar Ihr Werth stets meine Achtung besitzen wird, Liebe aber nicht in meiner Macht ist. Wäre es auch anders, so müßte schon unsere beyderseitige Lage diesen Ausspruch thun. Wenn Sie wirklich mein Freund sind, so muß es Sie freuen, daß dieser Kampf zwischen Liebe und Klugheit mir erspart wird. Auch lassen Sie mich hoffen, daß die Zeit Sie lehren wird, Liebe in die Grenzen der Freundschaft zurückzuführen.«

»Nimmer,« rief Louis mit Heftigkeit. »Wäre das möglich, so würde meine Liebe ihres Gegenstandes unwerth seyn.«

Während er sprach, kam Adelinens kleines Reh zu ihr gehüpft. Louis wurde bis zu Thränen gerührt.

»Dieß kleine Thier,« sagte er nach einer Pause, »führte mich zuerst zu Ihnen; es war Zeuge des glücklichen Augenblicks, wo ich Sie zuerst sah, umschwebt von Reizungen, denen mein Herz nicht widerstehen konnte. Noch steht dieser Augenblick lebendig vor meiner Erinnerung, und dieß Geschöpf muß jetzt kommen, den traurigen meines Abschiedes zu sehen.«

»O Adeline,« rief er mit inniger Bewegung, wenn Sie Ihren kleinen Liebling sehen und liebkosen, so gedenken Sie des armen Louis, der dann weit, weit von Ihnen entfernt seyn wird! Verweigern Sie mir nicht den Trost dieser Hoffnung!«.

»Ich bedarf dieses Erinnerns nicht,« sagte Adeline, indem sie ihre eigene Rührung unter einem holden Lächeln verbarg; »Ihr Werth hat Anspruch genug auf mein bleibendes Andenken. Könnte ich Ihre schöne Vernunft die Herrschaft über eine fruchtlose Leidenschaft wieder gewinnen sehen, so würde meine Zufriedenheit meiner Achtung gleich kommen.«

»Hoffen Sie das nicht,« sagte Louis, »auch kann ich es nicht wünschen denn hier ist Liebe Tugend. –«

Er sah La Motte um eine Ecke der Abtey gehen.

»Die Augenblicke sind kostbar,« sagte er, »man unterbricht mich; – O Adeline, leben Sie wohl, und alle guten Engel über Ihnen!«

»Leben Sie wohl,« sagte Adeline innigst bewegt, »leben Sie wohl, und Ruhe begleite Sie. Ich werde stets mit der Zärtlichkeit einer Schwester an Sie denken.«

Er seufzte tief und drückte ihre Hand an seine Lippen, als La Motte wieder erschien. Adeline ließ sie beysammen und begab sich bekümmert in ihr Zimmer. Louis Leidenschaft und ihre Achtung waren zu aufrichtig, um ihr nicht einen starken Grad von Mitleid mit seiner unglücklichen Liebe einzuflößen. Sie blieb in ihrem Zimmer, bis er die Abtey verlassen hatte, weil sie sich dem Schmerz eines förmlichen Abschiedes nicht aussetzen mochte.

Gegend Abend stieg Adelinens Ungeduld, als aber die bestimmte Stunde wirklich anbrach, verließ sie ihr Muth und sie schwankte von ihrem Vorsatz. Es lag eine gewisse Indelikatesse und Verheimlichung in einer bestimmten Zusammenkunft, die sie zurückstieß. Sie erinnerte sich an Theodors zärtliches Benehmen, an verschiedene kleine Umstände, die ihr verriethen, daß ihr Herz nicht ganz dabey aus dem Spiel war. Auf das neue war sie geneigt, zu zweifeln, ob er nicht ihre Einwilligung zu dieser Zusammenkunft nur unter dem Vorwande eines vielleicht ungegründeten Argwohns gesucht hätte, und fast war sie entschlossen, nicht zu gehen: doch konnte seine Behauptung aufrichtig, ihre Gefahr wirklich seyn: diese Möglichkeit stellte ihr ihre Bedenklichkeiten lächerlich vor; sie wunderte sich, wie sie einen Augenblick gegen eine so wichtige Betrachtung sie hatte aufwiegen können, und sich selbst ihr langes Zögern verweisend, eilte sie dem bestimmten Orte zu.

Der kleine Fußweg, der dahin führte, war still und einsam, und als sie den Ort erreichte, war Theodor noch nicht da. Ein flüchtiger Stolz machte sie erröthen, daß sie pünctlicher gewesen war, als er, und sie schlug einen Fußweg ein, der sich rechts um die Bäume wand. Nachdem sie eine Weile gegangen war, ohne einen Menschen zu sehen, oder einen Fußtritt zu hören, kehrte sie um; – er war noch nicht da, und sie verließ den Ort. – Zum zweyten Mahle kehrte sie wieder dahin zurück, und Theodor kam noch nicht.

Sie erinnerte sich, wie lange sie schon von der Abtey abwesend war, und berechnete unruhig, daß die bestimmte Stunde längst verflossen seyn mußte. Sie fühlte sich beleidigt und verlegen, doch setzte sie sich auf den Rasen und beschloß, den Ausgang abzuwarten.

Endlich, als die Dämmerung in fruchtlosem Warten anbrach, gerieth ihr Stolz in wirklichen Aufruhr; sie fürchtete, daß er etwas von der Neigung, die er ihr eingeflößt, möchte entdeckt haben, und sie nun mit absichtlicher Vernachläßigung behandelte; voll von diesen Gedanken verließ sie mit Unmuth und Selbstvorwürfen den Ort.

Als diese Bewegungen nachließen und die Vernunft wieder in ihre Rechte eintrat, erröthete sie über diese kindische Aufwallung von Selbstliebe, so nannte sie es. Theodors Worte: »ich fürchte, Sie werden hintergangen, und Gefahr schwebt um Sie,« schallten in ihrem Ohr; sie sah nicht mehr den Beleidiger, nur den Freund. Der Sinn dieser Worte, deren Wahrheit sie nicht länger bezweifelte, beunruhigte sie auf das neue. Warum hätte er sich die Mühe gegeben, vom Schlosse herzukommen, um sie vor ihrer Gefahr zu benachrichtigen, wenn er nicht sie zu retten wünschte? Und wenn dieß sein Wunsch war, was anderes als Nothwendigkeit konnte ihn dann von der verabredeten Zusammenkunft abgehalten haben?

Diese Betrachtungen bestimmten sie auf einmahl. Sie nahm sich vor, den folgenden Tag um die nähmliche Stunde diesen Ort wieder zu besuchen: denn sie zweifelte nicht, daß sein Antheil an ihrem Schicksal ihm die Hoffnung eingeben würde, sie dort zu sehen. Sie glaubte ihm, daß ein Übel über ihr schwebte, worin es aber bestand, konnte sie nicht errathen. Herr und Frau von La Motte waren ihre Freunde, und wer sonst konnte außer ihrem Vater, aus dessen Gewalt sie sich jetzt glaubte, ihr Nachtheil zufügen? –

Aber warum sagte Theodor, sie würde hintergangen? –

Sie fand es unmöglich, sich aus dem Labyrinth von Vermuthungen herauszufinden, und bemühte sich ihrer Unruhe bis zum folgenden Abend zu gebiethen. Unterdessen suchte sie Frau von La Motte zu erheitern, die nach der Abreise ihres Sohnes Trost bedurfte.

So von eigenem Kummer und von dem ihrer Freundinn doppelt niedergedrückt, legte sich Adeline zur Ruhe. Sie verlor bald ihr Bewußtseyn, aber nur um in ängstlichen Schlummer zu fallen, wie er oft das Lager des Unglücklichen besucht. Endlich gab ihre gefolterte Fantasie ihr folgenden Traum ein:

Ihr dünkte, sie war in einem großen Zimmer der Abtey, älter und wüster als die übrigen, aber noch mit einigen Möbeln versehen. Es war stark vergittert, doch sah man niemand darin. Indem sie da stand und es ansah, hörte sie eine leise Stimme sie rufen, und entdeckte beym düstern Schein einer Lampe eine Gestalt, die auf einem Bette an der Erde ausgestreckt lag. Die Stimme rief noch einmahl; sie ging näher und sah deutlich die Züge eines Sterbenden. Eine Todtenblässe bedeckte sein Gesicht, doch trug es einen Ausdruck von Hoheit und Milde, der sie unaussprechlich bewegte.

Plötzlich veränderten sich seine Züge, und die Angst des Todes zuckte auf seinem Gesichte, Der Anblick erschütterte sie; sie bebte zurück, allein er streckte seine Hand nach ihr aus und ergrif die ihrige mit Heftigkeit. Sie kämpfte in Schrecken, sich loszumachen, und als sie ihm wieder in das Gesicht sah, erblickte sie einen Mann von etwa dreyßig Jahren, in aller Gesundheit und von der sanftesten Gesichtsbildung. Er lächelte sie zärtlich an, als wollte er reden, als mit eins der Boden des Zimmers sich öffnete, und er vor ihrem Blick versank. Die Gewalt, die sie sich anthat, um sich vom Nachstürzen zu retten, erweckte sie. –

Dieser Traum hatte einen solchen Eindruck auf ihre Fantasie gemacht, daß sie sich lange nicht wieder von ihrem Schrecken erhohlen, oder sich überzeugen konnte, daß sie wirklich in ihrem Zimmer sey. Endlich faßte sie sich und fiel wieder in einem Traum.

Sie hatte sich in den krummen Gängen der Abtey verirrt; es war beynahe dunkel und sie wanderte lange umher, ohne eine Thüre finden zu können. Plötzlich hörte sie über sich eine Glocke läuten und bald darauf ein Gewühl ferner Stimmen. Sie verdoppelte ihr Bemühen, sich herauszufinden. Alles war wieder still, und von Suchen ermüdet, setze sie sich auf eine Stuffe, die quer über den Weg ging.

Nicht lange hatte sie hier gesessen, als sie in einiger Ferne ein Licht an der Mauer schimmern sah, allein eine Krümmung in dem sehr langen Wege verhinderte sie, zu sehen, woher es kam. Es schimmerte eine Weile schwach fort und wurde dann stärker, worauf sie einen Mann in einem langen schwarzen Mantel, wie die Begleiter der Todten tragen, mit einer Kerze in der Hand, in den Gang treten sah. Er rief sie, ihm zu folgen, und führte sie durch einen langen Gang an den Fuß einer Treppe. Sie fürchtete sich, weiter zu gehen und wollte zurück laufen, als der Mann sich plötzlich umwandte, sie zu verfolgen, worauf sie vor Schrecken erwachte.

Durch diese Gesichter und mehr noch durch ihren anscheinenden Zusammenhang, der ihr jetzt auffiel, betroffen, suchte sie sich wach zu erhalten, damit nicht ähnliche Schreckbilder sie umschwebten: allein nach kurzer Frist sanken ihre ermatteten Lebensgeister wieder in Schlummer, wenn gleich nicht zur Ruhe.

Sie glaubte sich nun in einer großen Gallerie, an deren einem Ende sie ein Zimmer ein wenig offen stehen, und ein Licht von innen sah; sie ging darauf zu, und erkannte den Mann den sie zuvor gesehen hatte; er stand an der Thüre und winkte ihr hereinzukommen. Mit der in Träumen so gewöhnlichen Inconsequenz vermied sie ihn jetzt nicht, sondern folgte ihm in eine Reihe alter Zimmer, die mit Schwarz behangen und als zu einem Leichenbegängniß erleuchtet waren. Er führte sie immer weiter, bis sie sich endlich in demselben Zimmer befand, das sie im ersten Traum gesehen hatte: ein Sarg mit einem Leichentuch bedeckt, stand am fernen Ende des Zimmers; einige Lichter und verschiedene Personen, die sehr betrübt schienen, umgaben ihn.

Plötzlich schien es ihr, als wären alle diese Personen verschwunden und sie allein; sie ging an den Sarg, und während sie ihn betrachtete, hörte sie, als von innen, eine Stimme, sah aber niemand. Bald nachher stand ihr Führer wieder neben ihr; er hub das Tuch auf und sie sah einen Todten, den sie für den Sterbenden in ihrem ersten Traume hielt: seine Züge waren in Tod gesunken, aber noch heiter. Sie stand noch da, als ein Strom von Blut aus seiner Seite drang, und das ganze Zimmer überschwemte; zugleich wurden einige Worte von derselben Stimme, die sie zuvor gehört hatte, gesprochen; allein das Schreckliche des Anblicks überwältigte sie so ganz, daß sie erwachte.

Als sie wieder zur Besinnung gekommen war, richtete sie sich im Bett auf, um sich zu überzeugen, daß es wirklich ein Traum gewesen sey, und die Erschütterung ihrer Lebensgeister war so groß, daß sie sich fürchtete, allein zu seyn, und fast im Begriff war, Annetten zu rufen. Die Züge des Todten und das Zimmer, worin er lag, hatten sich ihrem Gedächtniß fest eingeprägt, und sie glaubte noch immer das Gesicht zu sehen, die Stimme zu hören, welche der Traum ihr vorstellte.

Je länger sie über diese Bilder nachdachte, je höher stieg ihre Befremdung; sie waren so fürchterlich, kamen so oft wieder und schienen so zusammenhängend, daß sie kaum sie für zufällig halten konnte; doch begriff sie nicht, warum sie übernatürlich seyn sollten. –

Sie schlief diese Nacht nicht mehr!



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