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Dreyzehentes Kapitel.

Wir kehren jetzt wieder zu den Fäden der Geschichte und zu Adelinen zurück, die aus dem Gerichte in Frau von La Mottens Wohnung getragen wurde. Diese war inzwischen bey ihrem Manne im Chatelet, und litt allen Schmerz, den das gegen ihn ausgesprochne Urtheil ihr auspressen mußte.

Adelinens schwacher Körper, so lange von Kummer und Ermüdung gequält, erlag beynahe unter der Bewegung, welche die Entdeckung ihrer Geburt hervorbrachte. Ihre Empfindungen dabey waren zu verwickelt, um aus einander gesetzt zu werden. Aus einer Waise, die bloß von der Güte anderer lebte, ohne Familie, ohne Angehörige, und von einem grausamen, mächtigen Feinde verfolgt, sah sie sich auf einmahl in die Tochter eines erlauchten Hauses, und Erbinn unermeßlichen Reichthums verwandelt. Aber sie erfuhr zugleich, daß ihr Vater ermordet war – ermordet in der Blühte seiner Tage, – ermordet durch einen Bruder, gegen den sie jetzt auftreten, und indem sie den Verderber ihres Vaters straft, ihren Oheim zum Tode verdammen muß!

Wenn sie an die so sonderbar gefundene Handschrift dachte, und daß, als sie die darin beschriebenen Leiden beweinte, sie um ihren Vater Thränen vergoß; so übertraf ihre Bewegung allen Ausdruck. Die Umstände dieser Entdeckung schienen ihr nicht mehr ein Werk des Zufalls, sondern einer Macht, deren Absichten groß und gerecht sind.

»O mein Vater,« rief sie, »dein letzter Wille ist erfüllt! das mitleidige Herz, von dem du deine Leiden entdeckt wünschtest, soll sie rächen.«

Bey Frau von La Mottens Zurückkunft suchte Adeline wie gewöhnlich, ihre eignen Empfindungen zu unterdrücken, um ihrer Freundinn Trost einzusprechen. Sie erzählte, was nach La Mottens Entfernung im Gericht vorgegangen war, und erweckte selbst in dem bekümmerten Herzen seiner Gattinn einen kurzen Strahl von Freude.

Adeline nahm sich vor, die Handschrift wo möglich wieder zu bekommen, und erfuhr, daß La Motte bey der Verwirrung seiner Abreise sie unter andern Sachen auf der Abtey zurückgelassen hatte. Dieser Umstand war ihr um so unangenehmer, weil sie glaubte, daß dieses Papier vielleicht bey dem nahen Verhör von Wichtigkeit seyn könnte; doch beschloß sie fest, wenn sie zum Besitz ihres Rechts gelangt seyn würde, sie herbeyschaffen zu lassen.

Gegen Abend gesellte Louis sich zu der traurigen Gesellschaft, er kam von seinem Vater, den er weit ruhiger verlassen hatte, als er bisher noch gewesen war. Nach einer stillen, traurigen Abendmahlzeit trennten sie sich für die Nacht, und Adeline hatte in der Einsamkeit ihres Zimmers Musse, über die Begebenheiten dieses wichtigen Tags nachzudenken.

Das Leiden ihres gemordeten Vaters, so wie sie von seiner eigenen Hand es aufgezeichnet gelesen hatte, beschäftigte ihre Seele am meisten. Die Erzählung hatte schon damahls ihr Herz so tief gerührt, und sich ihrer Einbildungskraft so sehr eingeprägt, daß ihr Gedächtniß ihr treu beynahe jedes Wort zurückgab. Wenn sie aber bedachte, daß sie in dem nähmlichen Zimmer gewesen war, wo ihr Vater litt, wo sein Leben geopfert wurde, daß sie wahrscheinlich den Dolch gesehn, mit Rost, dem Rost seines Blutes befleckt, den Dolch gesehn hatte, durch den er fiel, so bebte jede ihrer Nerven mit eiskaltem Schauder.

Am folgenden Lage erhielt Adeline Befehl, sich gegen den Marquis de Montalt vor das Gericht zu stellen, welches seinen Anfang nehmen sollte, so bald die erforderlichen Zeugen herbeygeschaft werden könnten. Unter diesen befand sich die Äbtißinn des Klosters, die sie aus d'Aunoys Händen empfing; Frau von La Motte, die gegenwärtig war, als Dü Bosse Adelinen ihrem Manne aufzwang; und Peter, der nicht nur diesen Umstand ebenfalls ansah, sondern sie auch von der Abtey hergebracht hatte, um sie vor des Marquis Absichten zu retten. La Motte und Theodor La Lüc waren durch den Ausspruch des Gesetzes, unter welchem sie lagen, unfähig gemacht, bey dem Verhör zu erscheinen.

Als La Motte Adelinens Geburt und die Ermordung ihres Vaters auf der Abtey erfuhr, erinnerte er sich sogleich an das Skelet, das er in dem steinernen Zimmer an den unterirrdischen Zellen gefunden hatte. Er erwähnte es gegen seine Frau, und sie zweifelten nicht, daß es die Gebeine des unglücklichen Marquis gewesen waren. Doch nahm Madame sich vor, Adelinen diesen schauderlichen Umstand nicht eher zu sagen, bis es nothwendig wäre, ihn vor Gericht zu erklären.

So wie die Zeit des Verhörs näher rückte, nahm Adelinens Angst und Unruhe zu. Wiewohl die Gerechtigkeit das Leben des Mörders foderte, und Zärtlichkeit und Mitleid mit ihrem Vater sie zur Rache seines Todes aufrief, konnte doch ihr sanftes Herz nicht ohne Entsetzen sich als das Werkzeug betrachten, welches ein Mitgeschöpf des Daseyns berauben sollte; und es gab Zeiten, wo sie wünschte, das Geheimniß ihrer Geburt möchte nie ans Licht gekommen seyn. Wenn dieses Gefühl in ihren Umständen, Schwäche war, so war es wenigstens eine liebenswürdige Schwachheit, und verdient als solche geehrt zu werden.

Die Nachrichten, die sie von La Lücs Gesundheit aus Vaceau erhielt, trugen nicht bey, ihr Gemüth ruhiger zu machen. Die Symptome, welche Clara beschrieb, schienen zu verrathen, daß er sich auf der letzten Stuffe einer Auszehrung befand und sie drückte Theodors Schmerz bey dieser Besorgniß, mit der lebhaften Beredsamkeit aus, die ihr so natürlich war. Adeline liebte und verehrte La Lüc um sein Selbst willen sowohl, als wegen der väterlichen Zärtlichkeit, die er ihr bewies: noch theurer aber war er ihr als Vater Theodors, und ihr Kummer um seine abnehmende Gesundheit stand der Betrübniß seiner Kinder nicht nach.

Die Betrachtung vermehrte ihn, daß sie wahrscheinlich an der Verkürzung seines Lebens Schuld war: denn sie wußte nur zu gut, daß der Kummer um den Zustand, worin Theodor zu versetzen, ihr unglückliches Schicksal war, seinem Körper den letzten Stoß gegeben hatte. Dieselbe Ursache hielt ihn ebenfalls zurück, in dem Clima von Montpellier die Erleichterung zu suchen, die man ihn dort hoffen ließ.

Wann sie den Zustand ihrer Freunde rings um sich ansah, so erlag ihr Herz beynahe unter der Aussicht; es schien als wäre sie bestimmt, fast alle, die ihr am theuersten waren, ins Unglück zu stürzen.

Was auch La Mottens Laster und die Absichten seyn mochten, die er ehemahls gegen sie ausführen half, so vergaß sie doch alles in dem Dienst, den er zuletzt ihr geleistet hatte, und hielt es eben so sehr für ihre Pflicht, als ihr Herz sie dazu antrieb, alles für ihn anzuwenden. Doch konnte sie in ihrer jetzigen Lage nichts für ihn zu wirken hoffen: wenn aber der Proceß, von welchem die Wiedereinsetzung in ihren Rang, ihr Vermögen und folglich in ihr Ansehn abhing, zu ihrem Vortheil entschieden würde, so war es ihr Entschluß, sich dem Könige zu Füßen zu werfen und wenn sie um Theodors Leben bäte, auch für La Motte zu bitten.

 

Wenig Tage vor dem Verhör wurde Adelinen gemeldet, daß ein Fremder sie zu sprechen wünschte, und als sie in das Besuchzimmer ging, sah sie Herrn Verneuil vor sich. Ihr Gesicht verrieth Freude und Überraschung bey dieser unerwarteten Zusammenkunft, und sie fragte, obwohl mit wenig Erwartung auf eine bejahende Antwort, ob er von Herrn La Lüc gehört hätte?

»Ich habe ihn gesehn,« sagte Herr Verneuil, »ich komme geraden Wegs von Vaceau; allein es thut mir leid, Ihnen keine bessern Nachrichten von seinem Befinden geben zu können. Ich finde ihn sehr verschlimmert, seit ich ihn zuletzt sah.«

Adeline konnte bey der durch diese Worte erregten Erinnerung an die Unglücksfälle, welche an dieser traurigen Veränderung Schuld waren, kaum ihre Thränen zurückhalten. Herr Verneuil überreichte ihr einen Brief von Clara und sagte zugleich:

»Ausser dieser Einführung bey Ihnen, habe ich noch einen Anspruch von anderer Art, auf den ich stolz bin, und der mir vielleicht Berechtigung gibt; von Ihren Angelegenheiten mit Ihnen zu reden?«

Adeline verneigte sich, und Herr Verneuil sagte ihr mit der theilnehmendsten Miene, daß er von den letzten Vorfällen im Pariser Parlamente und von den Entdeckungen, die sie so nahe angingen, gehört hätte.

»Ich weiß nicht,« fuhr er fort, »ob ich dabey Ihnen Glück wünschen, oder Sie beklagen soll. Ich hoffe, Sie setzen keinen Zweifel in meine aufrichtigste Theilnahme an allem, was Sie betrifft, und kann mir das Vergnügen nicht verweigern, Ihnen zu sagen, daß ich ein Verwandter der verstorbenen Marquise, Ihrer Mutter, bin: denn daß sie Ihre Mutter war, kann ich nicht bezweifeln.«

Adeline stand eilends auf und ging auf ihn zu, während Freude und Überraschung ihre Züge plötzlich belebten.

»Sehe ich wirklich einer Verwandten? sagte sie mit süßer, bebender Stimme, »und einen, den ich als Freund bewillkommen darf?«

Thränen zitterten in ihren Augen, und sie erwiederte mit stummer Rührung seine Umarmung; einige Zeit verstrich, ehe sie wieder zu reden vermochte.

Für Adelinen, die von frühster Kindheit an Fremden überlassen, eine hülflose, unglückliche Waise gewesen war; die nie bis vor kurzem einen Verwandten gesehn hatte, und ihn auch dann nur in der Person eines erbitterten Feindes fand, war diese Entdeckung eben so süß als unerwartet; und so viele Empfindungen kämpften in ihrem Herzen, daß sie sich erst in der Einsamkeit erhohlen mußte, ehe sie einer zusammenhängenden Unterhaltung fähig war.

Der Antheil, den Herr Verneuil an La Lücs Angelegenheiten nahm, und vielleicht mehr noch eine geheime Leidenschaft für Clara, hatten ihn nach Vaceau geführt, wo er Adelinens jetzige Lage und Familienumstände erfuhr. Auf diese Nachricht eilte er sogleich nach Paris, um seiner neu entdeckten Verwandtinn seinen Schutz und Beystand anzubiethen, und wo möglich in Theodors Sache behülflich zu seyn.

Adeline kam bald wieder zu ihm, und konnte nun ein näheres Gespräch über ihre Familie ertragen. Herr Verneuil both ihr seine Unterstützung und Beyhülfe an, wenn sie Gebrauch davon machen zu können glaubte.

»Allein ich traue,« setzte er hinzu, »der Gerechtigkeit Ihrer Sache, und hoffe, sie wird keiner anderen Hülfe bedürfen. Für diejenigen, die sich der verstorbnen Marquise erinnern, sind Ihre Züge hinlängliches Zeugniß ihrer Geburt. Zum Beweise, daß kein Vorurtheil hier auf mich Einfluß bat, muß ich Ihnen sagen, daß schon zu Savoyen diese Ähnlichkeit mir auffiel, wiewohl ich die Marquise nur aus ihrem Gemählde kannte; und mich dünkt, Sie müssen sich erinnern, daß ich mehrmahls zu La Lüc sagte, Sie glichen einer verstorbnen Verwandtinn von mir. Doch, urtheilen Sie selbst!«

Bey diesen Worten zog er ein Miniaturgemählde hervor:

»Dieß war Ihre liebenswürdige Mutter.«

Adelinens Gesicht verwandelte sich: sie nahm begierig das Gemählde hin, starrte es lange schweigend an, und ihre Augen füllten sich mit Thränen. Nicht die Ähnlichkeit untersuchte sie; nur die Züge, die sanften, schönen Züge ihrer Mutter, deren blaue Augen, voll von dem süssesten Ausdruck, auf sie gerichtet schienen, während ein holdes Lächeln um ihren Mund schwebte. Adeline drückte das Bild an ihre Lippen, und staunte es wiederum mit schweigender Empfindung an. Endlich sagte sie mit einem tiefen Seufzer:

»Dieß war gewiß meine Mutter! O mein armer Vater, hätte sie gelebt, du wärst verschont worden.« –

Dieser Gedanke überwältigte sie ganz, und sie brach in Thränen aus. Herr Verneuil unterbrach ihren Schmerz nicht; er nahm sie bey der Hand und legte sich neben sie, ohne zu reden, bis sie ruhig ward. Sie küßte nochmahls das Bild und reichte es mit ungewisser Miene ihm hin.

»Nein,« sagte er, »es ist schon bey seiner rechten Besitzerinn,«

Sie dankte ihm mit unaussprechlich süßem Lächeln, und nach einiger Unterhaltung über das nahe Verhör, wobey sie sich seine Gegenwart ausbat, nahm er Abschied, nachdem er um Erlaubniß gebeten hatte, den folgenden Tag wieder zu kommen.

Adeline eröffnete nun ihren Brief, und sah Theodors wohlbekannte Hand: auf einen Augenblick fühlte sie sich in seine Gegenwart versetzt, und eine glühende Röthe überzog ihre Wangen: mit zitternder Hand erbrach sie das Siegel, und las die zärtlichsten Versicherungen seiner besorgten Liebe; sie hielt oftmahls inne, um die süßen Regungen, welche diese Versicherungen erweckten, zu verlängern – aber während Thränen der Zärtlichkeit auf ihren Augenwimpern zitterten, kehrte die bittere Erinnerung an seine Lage wieder, und sie träufelten schwer auf ihre Brust herab.

Er wünschte mit einer ihm eignen Delikatesse, ihr zu den Aussichten aufs Leben Glück, die sich ihr öffneten; sagte alles, was sie ermuntern und stärken konnte, vermied aber jede Erwähnung seiner eigenen Umstände, ausser daß er seinen Dank gegen den freundschaftlichen Eifer und die Güte des commandirenden Offiziers äußerte, und hinzufügte, er verzweifelte nicht daran, endlich Begnadigung zu erhalten.

Diese Hoffnung, so schwach sie auch ausgedrückt, und sichtlich nur um sie zu beruhigen geschrieben war, verfehlte ihre Wirkung nicht. Adeline gab ihrem bezaubernden Einflusse nach, und vergaß auf eine Zeitlang die vielen Ursachen der Sorge und Angst; die sie umgaben. Theodor sagte wenig von seines Vaters Befinden; dieses wenige aber war bey weitem nicht so niederschlagend als Claras Bericht, die, weniger sorgsam, Adelinen eine schmerzhafte Wahrheit zu verheelen, alle ihre Besorgnisse und Bekümmernisse ohne Rückhalt ausdrückte.



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