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Wir kehren nunmehr zu dem Marquis de Montalt zurück, der, sobald er La Motten im Gefängniß zu D–y in sicherer Verwahrung gesehn und erfahren hatte, daß es noch nicht so bald zum Verhör kommen würde, sich wieder nach seiner Villa am Walde verfügte, wo er von Adelinen Nachricht zu vernehmen hoffte. Er war Anfangs willens gewesen, seinem Kammerdiener nach Lyon zu folgen; beschloß aber jetzt, einige Tage auf Briefe zu warten, denn er zweifelte nicht, daß seine Leute Adelinen einhohlen und sie wahrscheinlich schon in Sicherheit gebracht haben würden, ehe er die Stadt erreichen könnte.
In dieser Erwartung wurde er schmerzlich getäuscht; sein Kammerdiener meldete ihm, wiewohl sie ihr glücklich bis in diese Stadt nachgespürt hätten, wäre es ihnen doch nicht möglich gewesen, ihr weiter zu folgen, oder sie zu Lyon zu erfragen. Wahrscheinlich verdankte sie dieses Entkommen ihrer stillen Einschiffung auf der Rhone, denn wie es scheint, dachten des Marquis Leute nicht daran, sie auf diesem Flusse zu suchen.
Bald nachher wurde seine Gegenwart zu Vaceau erfordert, wo das Kriegsgericht Sitzung hielt; er ging dahin mit neu empörtem Zorn über seine letzte vereitelte Erwartung, und bewirkte Theodors Verurtheilung. Der Ausspruch wurde allgemein beklagt, denn Theodor war bey seinem Regiment seht beliebt, und da die Ursache von des Marquis Haß gegen ihn bekannt war, nahm jedes Herz an seiner Sache Theil.
Louis de La Motte lag um diese Zeit gerade in der nähmlichen Stadt im Quartier; er hörte einen verworrnen Bericht von der Sache und da er überzeugt war, der Gefangne müsse eben der junge Offizier seyn, den er mit dem Marquis auf der Abtey gesehn hätte, trieb ihn theils Mitleid, theils Hoffnung, von seinen Ältern Nachricht zu hören, zu ihm.
Die mitleidige Theilnahme, welche Louis äusserte, der Eifer, womit er ihm seine Dienste anboth, rührten Theodor, und erregten warme Erwiederung der Freundschaft in ihm. Louis besuchte ihn oft, that alles, was Freundschaft zur Lindrung seines Leidens nur eingeben konnte, und es entspann sich bald gegenseitige Achtung und Vertraulichkeit unter ihnen.
Theodor eröffnete endlich seinem Freunde den Hauptgegenstand seines Kummers, und dieser entdeckte zu seinem unaussprechlichen Schmerz, daß es Adeline war, die der Marquis so grausam verfolgt hatte, Adeline, um derentwillen der großmüthige Theodor litt! Auch merkte er bald, daß Theodor sein begünstigter Nebenbuhler war, allein er unterdrückte edel die eifersüchtige Qual, welche diese Entdeckung ihm verursachte, und beschloß, daß kein Vorurtheil der Leidenschaft ihn von den Pflichten der Menschlichkeit und Freundschaft abhalten sollte.
Er fragte begierig, wo denn Adeline jetzt wäre?
»Ich fürchte, sie ist noch in den Händen des Marquis!« sagte Theodor mit einem tiefen Seufzer. »O Sott, diese Ketten!« – und warf einen jammervollen Blick darauf.
Louis saß stumm und nachdenkend; endlich fuhr er aus seinem Tiefsinn auf, sagte, er wollte zu dem Marquis gehn, und verließ sogleich das Gefängniß. Der Marquis war schon nach Paris gereist, wohin er vorgeladen war, um bey La Mottens nahem Verhör zu erscheinen; und Louis, dem die letzten Vorfälle auf der Abtey noch unbekannt waren, ging wieder ins Gefängniß, wo er zu vergessen suchte, daß Theodor der begünstigte Nebenbuhler seiner Liebe war, und nur Adelinens Vertheidiger in ihm sah. Er trug ihm so ernstlich seine Dienste an, daß Theodor, den das Schweigen seines Vaters befremdete und betrübte, und der sehnlich verlangte, ihn noch einmahl zu sehn, sein Anerbiethen, nach Savoyen zu reisen annahm.
»Ich fürchte, der Marquis hat meine Briefe aufgefangen,« sagte Theodor, »wenn das ist, so wird mein armer Vater das ganze Gewicht seines Unglücks auf einmahl auszustehn haben, wenn ich nicht deine Freundschaft annehme; und ich werde nichts wieder von ihm sehn und hören, ehe ich sterbe. O Louis! es gibt Augenblicke, wo meine Stärke vor dem Kampf zurückbebt, und meine Sinnen mich zu verlassen drohn!«
Hier war keine Zeit zu verlieren: der Urtheilsspruch zu seiner Hinrichtung hatte schon des Königs Unterschrift erhalten, und Louis machte sich unverzüglich auf den Weg nach Savoyen. Theodors Briefe waren allerdings vom Marquis aufgefangen worden, der in Hoffnung, Adelinens Aufenthalt zu entdecken, sie erbrach und nachher verbrannte.
Aber es ist Zeit, wieder zu La Lüc zurückzukehren, der jetzt nach Vaceau zog, und in dessen Aussehn seine Familie seit Empfang der unglücklichen Nachricht eine sehr nachtheilige Veränderung wahrnahm; es war nur zu sichtlich, daß seine Krankheit einen schnellen Fortschritt gemacht hatte. Louis, der auf dieser Reise durch die zärtliche Aufmerksamkeit, die er dieser unglücklichen Gesellschaft bezeigte, die Güte seines Herzens bewies, verheelte seine Beobachtung über La Lücs Abnehmen, und suchte Adelinen zu überreden, daß ihre Besorgnisse grundlos wären.
Sie bedurfte in der That Unterstützung: sie war jetzt nur noch wenig Meilen von der Stadt entfernt, die Theodor einschloß; und während ihre immer wachsende Angst sie fast überwältigte, kämpfte sie, ruhig zu scheinen. Als der Wagen in die Stadt fuhr, warf sie einen furchtsamen ängstlichen Blick aus dem Fenster, um sich nach dem Gefängniß umzusehn; allein nachdem sie durch verschiedne Straßen gekommen waren, ohne ein Gebäude zu entdecken, welches ihrer Vorstellung gleich kam, hielt die Kutsche vor dem Wirthshause still.
Die häufigen Veränderungen in La Lücs Gesicht, verriethen, was in seiner Seele vorging, und als er auszusteigen versuchte, war er so schwach und kraftlos, daß er sich von Louis mußte führen lassen, dem er leise sagte:
»Ich bin in der That krank am Herzen; allein ich hoffe, es soll nicht lange dauern.«
Louis drückte ihm die Hand ohne zu reden, und eilte nach Adelinen und Clara zurück, die schon im Vorsaal waren. La Lüc wischte sich die Thränen ab; (die ersten, die er vergoß) als sie ins Zimmer traten.
»Ich möchte gern unverzüglich zu meinem armen Jungen gehn,« sagte er zu Louis – »Sie haben ein beschwerliches Amt übernommen, Lieber, bringen Sie mich zu ihm.«
Er stand auf, schwach aber und überwältigt vom Schmerz, mußte er sich wieder setzen, Adeline und Clara vereinten sich, ihn zu bitten, daß er sich erst erhohlen, und einige Stärkung zu sich nehmen möchte; und Louis, der ihm vorstellte, wie nothwendig es sey, Theodor zuvor auf diese Zusammenkunft vorzubereiten, bewegte ihn, sich zu gedulden, bis sein Sohn von seiner Ankunft benachrichtigt wäre, und verließ sogleich das Wirthshaus, um zu seinem Freunde ins Gefängniß zu gehen.
Als er fort war, versuchte La Lüc aus Pflicht gegen die, welche er liebte, einige Nahrung zu sich zu nehmen, allein die Krämpfe in seiner Brust ließen ihm nicht zu, den Wein, den er an seine trocknen Lippen brachte, hinunter zu schlucken, und er befand sich in solcher Zerrüttung, daß er in ein andres Zimmer sich zurückzog, wo er allein, und im Gebet die schreckliche Zwischenzeit in Louis Abwesenheit hinbrachte.
Clara ließ, an Adelinens Busen gelehnt, die in stillem Jammer da saß, die Heftigkeit ihres Schmerzes aus.
»Ich werde auch meinen Vater verlieren,« sagte sie. »Ich sehe es – Vater und Bruder zugleich!«
Adeline weinte eine Weile still mit ihrer Freundinn, und suchte dann sie zu überreden, daß La Lüc nicht so schlimm wäre, als sie fürchtete.
»Täuschen Sie mich nicht mit Hoffnung,« sagte Clara; »er wird diesen Stoß nicht überleben, ich sah es von Anfange an.«
Adeline, welche wußte, daß La Lücs Schmerz noch erhöht werden würde, wenn er seiner Tochter Schmerz sähe, und daß Nachgeben hier nur nachtheilig war, suchte sie zu einer Anstrengung ihrer Kraft aufzufordern, und stellte ihr vor, wie nothwendig es sey, in Gegenwart ihres Vaters über ihre Bewegung zu gebiethen.
»Und dieses ist möglich,« sagte sie, »so peinlich auch die Anstrengung ist. Sie müssen wissen, meine Liebe, daß mein Schmerz gewiß dem Ihrigen nicht nachsteht, und doch vermocht ich bisher, meine Leiden im Stillen zu ertragen, denn ich liebe und verehre Herrn La Lüc als meinen Vater.«
Louis erreichte indessen Theodors Gefängniß, der ihn mit einer Miene voll Erstaunen und Unruhe empfing.
»Was bringt dich so früh zurück,« sagte er, »hast du Nachricht von meinem Vater gehört?«
Louis brachte ihm nun nach und nach die Umstände ihrer Zusammenkunft und La Lücs Anwesenheit zu Vaceau bey. Ein Gemisch von Bewegungen wühlte auf Theodors Gesicht, als er diese Nachricht hörte.
»Mein armer Vater,« sagte er, »er ist also seinem Sohne an diesen Ort der Schande gefolgt! Ach ich dachte nicht, als ich mich zuletzt von ihm trennte, daß er mich in einem Gefängniß, unter Verurtheilung zum Tode, wieder finden würde.«
Dieser Gedanke erregte einen tobenden Schmerz, der ihn auf eine Zeitlang der Sprache beraubte.
»Aber wo ist er?« sagte er, sich endlich wieder fassend. »Nun er gekommen ist, erzittre ich vor der Zusammenkunft, die ich so sehnlich wünschte. Der Anblick seines Jammers wird mir tödtend seyn. Louis – wenn ich nicht mehr bin, so tröste meinen armen Vater!«
Schluchzen erstickte aufs neue seine Stimme, und Louis, der es nicht für rathsam gehalten hatte, ihn zu gleicher Zeit von seines Vaters und Adelinens Ankunft zu benachrichtigen, hielt es jetzt für gut, ihm durch diese letzte Nachricht ein Stärkungsmittel zu reichen.
Die Finsterniß des Kerkers und des Jammers schwand auf einen Augenblick. Wer Theodor gesehn hätte, würde geglaubt haben, daß Leben und Freyheit ihm in diesem Momente angekündigt wäre. Als seine ersten Bewegungen sich gelegt hatten, sagte er:
»Ich will nicht jammern, da ich weiß, daß Adeline gerettet ist, und daß ich meinen Vater noch einmahl sehn werde; nun sterbe ich gefaßt.«
Er fragte, ob La Lüc im Gefängniß wäre? und hörte, er sey mit Clara und Adelinen im Wirthshause.
»Wie,« rief er, »Adeline! ist Adeline auch da? das geht über meine Hoffnung. Aber warum frohlocke ich? Ich darf Sie nicht mehr sehn; dieß Gefängniß ist kein Ort für Adelinen.«
Aufs neue verfiel er in einen Anfall von Schmerz; aufs neue wiederhohlte er tausend Fragen wegen Adelinen, bis Louis ihn erinnerte, daß sein Vater ungeduldig verlangte, ihn zu sehn. Erschrocken, seinen Freund so lange aufgehalten zu haben, bat er ihn nun, seinen Vater nach dem Gefängniß zu führen, und suchte seine Kräfte zu der nahen Zusammenkunft zu sammeln.
Als Louis im Gasthofe erschien, war La Lüc noch in seinem Zimmer, und Clara ging, ihn zu rufen. Adeline ergrif mit zitternder Ungeduld die Gelegenheit, sich näher nach Theodor zu erkundigen, als sie in Gegenwart seiner unglücklichen Schwester zu thun wagte.
Louis schilderte ihn weit ruhiger, als er wirklich war; und ihre bisher verhaltnen Thränen flossen still und reichlich, bis La Lüc erschien. Sein Gesicht hatte seine Ruhe wieder erlangt, war aber mit einem tiefen, festen Kummer geprägt, der in allen, die ihn sahn, eine gemischte Empfindung von Mitleid und Ehrfurcht erregen mußte.
»Wie geht es meinem Sohn?« sagte er, als er hereintrat; »wir wollen sogleich zu ihm.«
Clara erneuerte ihre schon abgeschlagne Bitte, ihren Vater begleiten zu dürfen; allein er verweigerte es durchaus.
»Morgen sollst du ihn sehn,« setzte er hinzu, »aber bey unsrer ersten Zusammenkunft müssen wir allein seyn. Bleibe bey deiner Freundinn, meine Liebe: sie bedarf des Trostes.«
Sobald La Lüc fort war, legte sich Adeline, unvermögend länger gegen die Gewalt des Schmerzes zu kämpfen, ins Bett.
La Lüc ging schweigend, auf Louis Arm gestützt, nach dem Gefängniß zu: eine düstre Lampe, die oben hing, zeigte ihnen die Pforten, und Louis zog eine Glocke. La Lüc, von innrer Bewegung beynahe umsinkend, lehnte sich an die Pfosten, bis der Wärter erschien. Er fragte nach Theodor und folgte dem Manne: als er aber den zweyten Vorhof erreichte, schien er im Begrif, in Ohnmacht zu sinken, und stand wieder still. Louis bat den Mann, ein Glas Wasser zu hohlen; La Lüc aber, der die Sprache wieder erhielt, sagte, es würde bald besser werden, und ließ ihn nicht fort.
In wenig Minuten war er im Stande, Louis zu folgen, der ihn durch verschiedne finstre Gänge und einige Stufen hinan, zu einer Thüre führte, die, als die eisernen Stangen weggeschoben waren, ihm das Gefängniß seines Sohnes zeigte. Er saß an einem kleinen Tisch, auf welchem eine Lampe stand, die nur gerade so viel Licht auf den Ort warf, um seine Öde und Jämmerlichkeit zu zeigen. Als er La Lüc gewahr ward, sprang er vom Stuhl auf und warf sich in feine Arme.
»Mein Mein Vater!« rief er zitternd.
»O mein Sohn!« seufzte La Lüc, und sie hielten lange einander schweigend umfaßt.
Endlich führte ihn Theodor zu dem einzigen Stuhl, den das Zimmer enthielt, und setzte sich mit Louis auf den Fuß des Bettes, wo er nunmehr Musse fand, die Verheerung zu bemerken, welche Krankheit und Kummer auf seines Vaters Zügen gestiftet hatten.
La Lüc machte verschiedene Versuche zu reden; unvermögend aber, einen Laut herauszubringen, legte er die Hand auf die Brust und seufzte tief. Besorgt für die Wirkung eines so rührenden Auftritts auf seinen schwachen Körper, suchte Louis seine Aufmerksamkeit von dem unmittelbaren Gegenstande seines Kummers abzuziehn, und unterbrach das Schweigen; allein La Lüc schauderte, und sich über Frost beklagend, sank er in seinen Stuhl zurück. Sein Zustand weckte Theodor aus der Betäubung und während er seinem Vater zu Hülfe flog, lief Louis aus dem Zimmer, um andern Beystand zu holen.
»Mir wird bald besser werden, Theodor,« sagte La Lüc und schlug die Augen auf, »die Schwäche, die mich anwandelte, ist schon vorüber. Ich bin seither unpaß gewesen, und diese betrübte Zusammenkunft –«
Nicht vermögend, sich länger zu beherrschen, rang Theodor die Hände, und der Schmerz, der lange nach Äußerung gestrebt hatte, brach jetzt in krampfhaftem Schluchzen aus seiner Brust.
La Lüc lebte nach und nach wieder auf, und bemühte sich, die heftigen Bewegungen seines Sohnes zu stillen: aber diesen hatte jetzt alle Kraft verlassen, und er konnte nur ausrufen und jammern.
»Ach,« sagte er, »ich dachte nicht, das wir je unter so schrecklichen Umständen zusammen kommen würden! Aber ich habe sie nicht verdient, mein Vater! die Bewegungsgründe meines Verfahrens waren stets gerecht.«
»Das ist mein höchster Trost,« erwiederte La Lüc, »und muß auch dich in dieser Stande der Prüfung stärken. Der ewige, der unsre Herzen richtet, wird dir nach diesen lohnen. Traue auf ihn, mein Sohn; ich blicke nicht mit schwacher Hoffnung, sondern mit festem Vertrauen auf seine Gerechtigkeit zu ihm auf.«
La Lücs Stimme bebte; er schlug mit einem Blick sanfter Ergebung, seine Augen zum Himmel, während Thränen der Menschlichkeit leise seine Wangen herab rollten.
Noch tiefer bewegt durch seine letzten Worte, wandte sich Theodor von ihm, und ging mit unruhigen Schritten im Zimmer auf und ab. Louis Hereinkunft verschafte La Lüc eine sehr nothwendige Hülfe. Er nahm die Herzstärkung, die Louis ihm brachte, und gewann bald so viel Kraft, um über den Gegenstand, der ihm am meisten am Herzen lag, zu reden.
Theodor bemühte sich, die Herrschaft über seine Empfindung wieder zu erlangen, und es gelang ihm einigermaaßen. Er sprach über eine Stunde mit leidlicher Fassung, und La Lüc suchte in dieser Zeit das Gemüth seines Sohns durch fromme Hoffnung zu erheben, und ihn auszurüsten, der schauderlichen Stunde, welche herannahte, mit Fassung entgegen zu gehn.
Allein der Schein von Ergebung, den Theodor sich zu erreichen bestrebte, verschwand immer bey dem Gedanken, daß er seinen Vater als Beute des Kummers, und seine geliebte Adeline auf immer verlassen sollte. Als La Lüc sich zum Fortgehn anschickte, erwähnte er ihrer wieder.
»So traurig auch eine Zusammenkunft unter diesen Umständen seyn muß,« sagte er, »kann ich doch den Gedanken nicht ertragen, diese Welt zu verlassen, ohne sie noch einmahl zu sehn; doch weiß ich nicht, wie ich von ihr fordern soll, das sie um meinetwillen sich dem Schmerz einer Abschiedsscene unterzieht. Sagen Sie ihr, daß meine Gedanken nie, nur auf einen Augenblick von ihr weichen, das –«
La Lüc unterbrach ihn durch die Versicherung, daß er sie sehn sollte, da er es so sehr wünschte, wiewohl eine Zusammenkunft unter ihnen, nur den gegenseitigen Schmerz der letzten Trennung erhöhn könnte.
»Ich weiß es, ich weiß es zu gut,« sagte Theodor, »doch kann ich mich nicht entschließen, sie nicht wieder zu sehn. O mein Vater! wenn ich an diejenigen denke, die ich bald auf immer verlassen muß, so bricht mein Herz. Aber ich will mir Ihre Lehren und Beyspiele zu Nutze machen, und Ihnen zu zeigen suchen, daß Ihre väterliche Sorgfalt nicht vergebens bey mir angewandt war. Mein guter Louis! geh mit meinem Vater; er bedarf Unterstützung. Wie viel verdank ich diesem großmüthigen Freund!« setzte er hinzu. »Doch Sie wissen es, mein Vater!
»Ja, ich weiß es,« versetzte La Lüc, »und kann nie dankbar genug seine Freundschaft erkennen. Er hat uns allen beygestanden; aber du bedarfst jetzt mehr Trost als ich selbst – er soll bey dir bleiben – ich will allein gehn.«
Theodor wollte dieß nicht zugeben, und La Lüc widersetzte sich nicht länger: sie umarmten einander zärtlich, und trennten sich für die Nacht.
Als sie das Wirthshaus erreichten, ging La Lüc mit Louis über die Möglichkeit zu Rathe, zeitig genug eine Bittschrift für Theodor an den Monarchen zu bringen. Seine Entfernung von Paris, und die Kürze der Zeit bis zur Vollziehung des Urtheils machte dieß sehr schwer; weil er es aber doch für möglich hielt, beschloß La Lüc, so unfähig er auch zu einer so langen Reise war, es zu versuchen. Louis, welcher glaubte, daß dieß Unternehmen unglücklich für den Vater ablaufen würde, ohne dem Sohn zu nützen, versuchte, wiewohl schwach, ihm davon abzurathen, aber sein Entschluß war fest.
»Wenn ich den kleinen Überrest meines Lebens für mein Kind aufopfre, so verliere ich wenig,« sagte er; »wenn ich ihn rette, gewinne ich alles. Es ist keine Zeit zu verlieren; ich will sogleich fort.«
Er wollte Postpferde bestellen, aber Louis und Clara, die eben von ihrer Freundinn Bette gekommen war, stellten ihm dringend die Nothwendigkeit vor, einige Stunden Ruhe zu genießen; er mußte endlich selbst einsehn, daß er zu der unmittelbaren Anstrengung, wozu Vaterliebe ihn drang, nicht vermögend war, und willigte ein, Ruhe zu suchen.
Als er sich in sein Zimmer begeben hatte, bejammerte Clara den Zustand ihres Vaters.
»Er wird die Reise nicht aushalten,« sagte sie,«er hat sich in diesen wenigen Tagen sehr verändert.«
Louis war so ganz ihrer Meinung, daß er es nicht einmal so weit verbergen konnte, um ihr mit Hoffnung zu schmeicheln. Sie setzte hinzu, was eben nicht betrug, ihn bessern Muths zu machen, daß Adelinens Schmerz um Theodor, und um das Leiden ihres Vaters so groß wäre, daß sie Folgen für ihre Gesundheit fürchtete.
Die Leidenschaft des jungen La Motte war durch Zeit und Abwesenheit nicht vermindert worden: im Gegentheil hatten die Verfolgungen und Gefahren, welche Adeline ausgestanden, alle seine Zärtlichkeit erweckt, und sie seinem Herzen näher gebracht. Als er entdeckte, daß Theodor sie liebte, und wieder geliebt ward, empfand er alle Qualen der Eifersucht und getäuschter Liebe: denn wiewohl sie ihm zu hoffen untersagte, fand er es doch zu schwer, ihr zu gehorchen, und hatte insgeheim die Flamme genährt, die er hätte ersticken sollen.
Doch war sein Herz zu edel, um seinen Eifer für Theodor erkalten zu lassen, weil er sein beglückterer Nebenbuhler war, und seine Seele zu stark, um nicht den Schmerz, den diese Gewißheit erregte, zu verbergen. Die Liebe, welche Theodor Adelinen bewiesen hatte, machte ihm vielmehr seinen Freund nur noch theurer, so bald er sich von dem ersten Stoß erhohlte; und der Sieg über seine Eifersucht, wozu Grundsätze ihn auffoderten, und der mit schwerer Mühe erkämpft ward, wurde in der Folge sein Stolz und sein Ruhm.
Zwar, als er Adelinen wieder sah – sie sah in der sanften Würde des Kummers, anziehender [aus] als je; er sah, wie sie selbst unter seinem Drucke beynahe erlag, und dennoch liebreich und sorgsam die Leiden derer, die um sie waren, zu lindern suchte, da beharrte er nur mit äußerster Mühe auf seinem Entschluß, die Äußerung der Empfindungen, die sie ihm einflößte, zu unterdrücken. Wann er denn ferner bedachte, daß ihr bitterer Schmerz aus der Stärke ihrer Zärtlichkeit entstand, so wünschte er sich heißer als je zum Gegenstand der Liebe eines solcher Zärtlichkeit fähigen Herzens, und Theodor im Gefängniß und in Ketten, war ihm ein Gegenstand des Neides.
Am Morgen, als La Lüc von einem kurzen, unruhigen Schlummer aufstand, fand er Louis, Clara und Adelinen, die sich durch ihre Unpäßlichkeit nicht abhalten ließ, ihm diesen Beweiß der Ehrfurcht und Liebe zu geben, im Saale versammlet, um ihn abreisen zu sehn. Nach einem kleinen Frühstück, wobey sein Gefühl ihm wenig zu reden erlaubte, sagte er seinen Freunden ein trauriges Lebewohl, und stieg von ihren Thränen und Gebeten begleitet, in den Wagen.
Adeline begab sich sogleich in ihr Schlafzimmer, und befand sich zu übel, um es den Tag über zu verlassen. Gegen Abend verließ Clara das Bette ihrer Freundinn und ließ sich von Louis zu ihrem Bruder führen, den die Nachricht von seines Vaters Abreise in mannichfaltige und starke Bewegung setzte.