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Gegen Abend steuerte der Capitain, um der Gefahr, auf einen barbarischen Corsaren zu treffen, aus dem Wege zu geht, nach der fränzösischen Küste, und Adeline unterschied im Glanz der untergehenden Sonne, die Ufer der Provence mit Wald gefiedert, und grün von Weide. La Lüc, matt und krank, hatte sich in die Cajütte zurückgezogen, wohin Clara ihn begleitete.
Der Steuermann am Helm Hier hat die Meta Forkel das englische Wort » helm« einfach stehen lassen, statt es zu übersetzen: »Steuerruder«. ( D. Hrsg.), der das schlanke Fahrzeug durch das rauschende Wasser führte, und ein einsamer Bootsknecht, der sich mit übereinander gekreuzten Armen gegen den Mast lehnte, und von Zeit zu Zeit Stellen aus einem Trauerliede sang, waren ausser Adelinen alle lebendigen Gegenstände Die Vorliebe der Übersetzerin für das Wort »Gegenstand« ist durch das englische Original in keiner Weise gedeckt; an dieser Stelle heißt es dort einfach: » were all of the crew«. ( D. Hrsg.), die auf dem Verdeck blieben. Adeline beobachtete schweigend die untergehende Sonne, die einen gelben Glanz auf die Wellen und Seegel warf, die sanft in dem Winde, der jetzt erstarb, schwollen. Endlich sank die Sonne unter den Ozean; die Dämmerung schlich sich über die Scene, ließ nur noch die schattigten Ufer übrig, und berührte mit einem feyerlichen Hauch den weiten Kreis des Wassers.
So wie die Schatten sich verdickten, sank die Gegend in tiefe Ruhe. Selbst des Matrosen Gesang hatte aufgehört: man vernahm keinen Laut, als den des Wassers, das unter dem Schiffe anschlug, und sein schwächeres Murmeln an der mit Kieselsteinen besäeten Küste.
Adelinens Seele war im Einklang mit der Ruhe der Stunde: eingewiegt von den Wellen gab sie sich einer stillen Melancholie hin, und saß in Träumen verloren da. Der gegenwärtige Augenblick rief ihr die Fahrt auf der Rhone ins Gedächtniß, als sie vor dem gefürchteten Marquis de Montalt Zuflucht suchte, und so ängstlich in der Zukunft zu lesen wünschte. Sie betrachtete damahls, so wie jetzt, den Fall des Abends »the fall of evening«: das Hereinbrechen der Nacht. ( D. Hrsg.), und die schwindende Aussicht, und erinnerte sich, welch ein verlaßnes Gefühl damahls den Eindruck dieser Gegenstände begleitete. Damahls hatte sie keine Freunde, keine Zuflucht, keine Sicherheit, der Verfolgung ihres Feindes zu entgehn. Jetzt hatte sie zärtliche Freunde gefunden – eine sichre Zuflucht – war von den Schrecken, die sie damahls litt, befreyt, – aber noch immer war sie unglücklich.
Theodors Erinnerung – Theodors, der sie so herzlich geliebt, so viel für sie gewagt und erduldet hatte, von dessen Schicksal sie noch eben so wenig wußte, als da sie über die Rhone kreuzte, war ihrem Herzen eine unablässige Qual. Sie schien weiter als je von der Möglichkeit entfernt, von ihm zu hören. Oft schwebte eine schwache Hoffnung ihr vor, daß er der Bosheit seines Verfolgers entwischt sey; wenn sie aber den bittern Haß, und die Macht des Marquis bedachte, und das schreckliche Licht, worin das Gesetz einen Angriff auf einen Vorgesetzten betrachtet, so verschwand auch diese armselige Hoffnung, und überließ sie Thränen und Jammer, wozu diese Träumerey, die nur mit einer Regung sanfter Schwermuth begann, endlich führte.
Sie sann fort, bis der Mond aus dem Grunde des Ozeans aufstieg, und mit seinem zitternden Glanz auf den Wellen, Frieden ringsum ausgoß, und die Stille feyerlicher machte. Er strahlte ein sanftes Licht auf die weissen Seegel, und warf den langen Schatten des Schiffes, das jetzt, von keinem Gegenstrom mehr gehindert, hinweg zu gleiten schien, über das Wasser.
Ihre Thränen hatten einigermaßen den Schmerz ihrer Seele gelindert, und sie ruhte wieder in stiller Melancholie, als eine Melodie, so süß und überirrdisch, daß sie mehr einer himmlischen als sterblichen Musik glich, sich durch die Stille stahl, so sanft, so entzückend tönte sie in ihr Ohr, daß sie vom Jammer zu Hoffnung und Liebe sie rief. Sie weinte wieder – aber Thränen, die sie nicht für Fröhlichkeit und Freude ausgetauscht haben würde.
Sie sah sich um, wurde aber weder Schiff noch Boot gewahr, und so wie die schwebenden Töne auf der fernen Luft schwollen, schienen sie ihr vom Ufer zu kommen. Oft verwehte sie der Wind, und brachte sie wieder in sanft schmachtenden Tönen zurück. Da auf solche Art die Luft den Zusammenhang brach, war es mehr Musik, als Melodie, was sie auffing, bis der Steuermann dem Ufer näher kam, und sie die Noten eines ihrem Ohre vertrauten Gesangs unterschied. Sie sann nach, wo sie ihn gehört hatte, aber vergebens, doch klopfte beynahe unwillkührlich etwas der Hoffnung gleiches in ihrem Herzen.
Immer noch horchte sie, bis der Wind wieder die Töne stahl. Mit Bekümmerniß sah sie nun, daß das Schiff sich von ihnen fortbewegte, und endlich zitterten sie schwach auf den Wellen, sanken in der Ferne hinweg, und wurden nicht mehr gehört. Sie verweilte noch lange auf dem Verdeck, ungeneigt, die Erwartung, sie wieder zu hören, fahren zu lassen, und ihr Zauber ertönte noch immer auf ihrer Fantasie, bis sie endlich mit einem Grad von Unmuth, den die Veranlassung nicht zu rechtfertigen schien, sich in ihre Cajütte zurück zog.
La Lüc besserte sich merklich; seine Munterkeit nahm zu, und als das Schiff in den Golfe de Lyons einlief, war er munter genug, um vom Verdeck die edle Aussicht, welche die schwindenden Ufer der Provence, die sich in den Fernen von Languedoc endigen, dem Auge darbiethen, zu genießen. Die Zeit verstrich ihnen zwischen Vergnügen und Belehrung, denn La Lüc fand ein Vergnügen, seinen aufmerksamen Schülerinnen die Sitten und den Handel der verschiednen Bewohner der Küste, und die Naturgeschichte ihres Landes zu beschreiben; oder in der Einbildungskraft den fernen Wanderungen der Flüsse bis zu ihrer Quelle nachzuspüren, und die charakteristischen Schönheiten der Scene zu bezeichnen.
Nach einer angenehmen Reise von wenig Tagen wichen die Ufer der Provence zurück; die Küste von Languedoc, welche lange die Ferne begrenzt hatte, wurde der große Gegenstand der Scene, und die Matrosen steuerten dem Hafen zu. Sie landeten Nachmittags in einer kleinen Stadt, die am Fuße einer waldigten Anhöhe lag, zur Rechten die See, und zur Linken die reichen Thäler von Languedoc, geschmückt mit purpurnem Weine, beherrschte. La Lüc beschloß, seine Reise bis zum folgenden Tage aufzuschieben, und wurde nach einem kleinen Wirthshause am äußersten Ende der Stadt gewiesen, wo er mit der Bewirthung, so wie sie war, zufrieden zu seyn suchte.
Am Abend lockte die schöne Stunde und das Verlangen, neue Gegenden zu entdecken, Adelinen zu einem Spaziergang. La Lüc war zu müde; um auszugehn, und Clara blieb bey ihm. Adeline nahm ihren Weg nach dem Walde, der vom Rande der See aufstieg und klimmte die wilde Anhöhe hinan, an welcher er hing. Oft sah sie im Gehn zurück, um zwischen dem dunkeln Laube das blaue Wasser der Bay, das weisse Seegel, das neben ihr flatterte, und den zitternden Schein der untergehenden Sonne aufzufangen.
Als sie den Gipfel erreichte und über die dunkeln Spitzen der Wälder auf die weite, mannigfaltige Aussicht herab sah, bemächtigte sich ihrer ein stilles Entzücken, und ohne den Flug der Zeit zu merken, blieb sie stehn, bis die Sonne die Gegend verlassen hatte, und die Dämmerung ihren feyerlichen Schatten auf die Berge warf. Nur die See strahlte noch den erlöschenden Glanz des Westen nieder; ihre ruhige Fläche wurde nur stellenweise von dem tiefen Winde gestört, der in zitternden Linien auf dem Wasser hinschlich, und von da zu dem Walde empor steigend, das leichte Laub schüttelte und hinweg starb.
Endlich verließ Adeline die Höhen, und folgte einem kleinen Fußwege, der sich zum Ufer hinabwand: ihre Seele war jetzt schönen Eindrücken vorzüglich geöfnet, und die süßen Töne der Nachtigall zwischen der Stille der Wälder, weckten sie zu hoher Begeistrung.
Die sich verbreitende Dämmerung erinnerte sie plötzlich an ihre weite Entfernung vom Wirthshause, und daß sie durch einen wilden, einsamen Wald ihren Rückweg suchen mußte: sie sagte der Syrene Addieu, die so lange sie aufgehalten hatte, und verfolgte mit schnellen Schritten den Pfad.
Nachdem sie eine Weile darauf fortgeschritten war, verirrte sie sich im Dickigt, und die zunehmende Dunkelheit ließ ihr nicht zu, von der Richtung, in der sie sich befand, zu urtheilen. Ihre Angst machte ihr den Weg noch schwerer: sie glaubte in einiger Entfernung Menschenstimmen zu hören und beflügelte ihre Schritte, bis sie sich am Seeufer befand, das die Waldung überhing. Ihr Athem war jetzt erschöpft.
Sie stand einen Augenblick still, um sich zu erhohlen, und horchte ängstlich: allein statt menschlicher Stimmen hörte sie schwach in der Luft die Töne klagender Musik schwellen. Ihr Herz, stets den Eindrücken der Tonkunst offen, schmolz mit der Melodie, und auf einen Augenblick verlor sich ihre Furcht in süßer Bezaubrung. Bald mischte sich Erstaunen in dieß Entzücken, als sie beym Herannahen der Töne den Laut des Instruments, und die Melodie der wohl bekannten Arie unterschied, die sie vor wenig Abenden von den Ufern der Provence gehört hatte. Allein, sie hatte nicht Zeit zu Vermuthungen, Fußtritte näherten sich, und sie erneuerte ihre Eile.
Sie war nunmehr aus der Dunkelheit der Wälder hervorgegangen, und der hell scheinende Mond zeigte ihr längs der Sandfläche, in der Ferne Stadt und Hafen. Die Schritte, die ihr folgten, erreichten sie jetzt, und sie sah zwey Männer, die wie es schien, im Gespräch vorbey gingen, ohne sie zu bemerken; indem sie aber vorüber gingen, schien ihr die Stimme des einen bekannt. –
Jetzt folgte ein andrer Schritt, und eine grobe Stimme rief ihr, still zu stehn. So wie sie eilends sich umsah, erblickte sie unvollkommen bey Mondenlicht einen Mann im Schifferkleide, der hinter ihr her kam, und immer fortrief. Von Schrecken getrieben, flog sie den Sand hinab, aber ihre Schritte waren kurz und bebend – die ihres Verfolgers stark und schnell.
Sie hatte eben Kräfte genug, die Männer zu erreichen, die zuvor an ihr vorbey gegangen waren, und sie um Schutz anzuflehn, als ihr Verfolger heran kam, plötzlich aber sich in die Wälder drehte, und verschwand.
Ihr Athem war zu kurz, um die Fragen der Fremden, die sie unterstützten, zu beantworten, bis ein plötzlicher Ausruf und der Laut ihres eigenen Nahmens ihre Augen aufmerksam auf den Mann zog, der ihn aussprach, und sie in den Strahlen, die stark auf seine Züge fielen, Herrn Verneuil erkannte! –
Gegenseitige Freude und Erklärung folgte, und als er erfuhr, daß La Lüc und seine Tochter in dem Gasthofe waren, fühlte er ein doppeltes Vergnügen, sie dahin zu begleiten. Er sagte, daß er zufällig einen alten Freund, den er unter dem Nahmen Mauron ihr vorstellte, im Savoyengebürge gefunden, und daß dieser ihn bewegt hätte, seine Route zu verändern, und ihn an die Küste des Mittelländischen Meers zu begleiten. Sie hatten sich erst vor wenig Tagen am Ufer der Provence eingeschifft, und waren diesen Nachmittag in Languedoc bey Herrn Maurons Landgute ausgestiegen.
Adeline zweifelte nun nicht mehr, daß es Herrn Verneuils Flöte, die sie so oft zu Leloncourt entzückt hatte, gewesen war, die sie auf der See hörte.
Als sie das Wirthshaus erreichten, fanden sie La Lüc in großer Angst um Adelinen, nach der er verschiedene Leute ausgeschickt hatte. Diese Angst verwandelte sich in Erstaunen und Vergnügen, als er sie mit Herrn Verneuil kommen sah, dessen Augen bey Claras Anblick von ungewöhnlichem Feuer strahlten.
Nach den gegenseitigen Begrüßungen, bemerkte und beklagte Herr Verneuil, daß seine Freunde in diesem Wirthshause so sehr schlechte Bequemlichkeit hätten; und Herr Mauron lud sie sogleich mit einer gastfreyen Wärme, die jede Einwendung der Delicatesse oder des Stolzes aufhob, auf sein Gut. Der Wald, den Adeline durchstrich, machte einen Theil seines Gebieths aus, das sich fast bis ans Wirthshaus erstreckte; allein er bestand darauf, daß sein Wagen sie nach dem Gute bringen sollte, und ging fort, um Anstalt zu ihrem Empfang zu machen.
Die Gegenwart des Herrn Verneuil, und die Gefälligkeit seines Freundes gaben La Lüc eine ungewöhnliche Munterkeit: er sprach mit einer Stärke und Lebhaftigkeit, die sie lange nicht an ihm gesehen hatten, und Clara gab Adelinen durch ein frohes Lächeln zu verstehen, wie sehr sie ihn schon durch die Reise gestärkt glaubte. Adeline beantwortete ihren Blick mit einem weniger zuversichtlichen Lächeln, weil sie seine gegenwärtige Lebhaftigkeit auf Rechnung einer andern vorübergehenden Ursache schrieb.
Herr Mauron war noch keine halbe Stunde fort, als ein Aufwärter Adelinen eine Empfehlung von einem Herrn brachte, der sich in Wirthshause befände, und sie zu sprechen wünschte. Der Mann, der sie am Strande verfolgt hatte, fiel ihr ein, und sie zweifelte nicht, daß der Fremde ein Mensch wäre, der dem Marquis de Montalt angehörte, vielleicht gar er selbst, so unwahrscheinlich es auch war, daß er zufällig, an einem so verborgenen Ort, und so unmittelbar nach ihrer Ankunft sie entdeckt haben sollte.
Mit zitternden Lippen und einem todtenblassen Gesicht fragte sie nach dem Nahmen des Herrn. Der Aufwärter wußte ihn nicht. La Lüc fragte, was es für eine Art von Person wäre, allein der Mensch verstand sich so wenig auf die Kunst zu beschreiben, und gab eine so verworrene Nachricht von ihm, daß Adeline kaum so viel herausbringen konnte, daß er nicht übergroß wäre. Da indessen dieser Umstand sie überzeugte, daß es nicht der Marquis seyn könnte, der ein sehr großer Mann war, fragte sie La Lüc, ob er erlauben wollte, das der Fremde herein käme.
»Allerdings« antwortete La Lüc, und der Aufwärter ging hinaus. Adeline saß in ängstlicher Erwartung, bis die Thüre aufging und – Louis de La Motte herein trat. Er näherte sich mit beklommnen schwermüthigen Wesen, wiewohl sein Gesicht von einer augenblicklichen Freude glänzte, als er Adelinen zuerst sah – sie, die noch immer der Abgott seines Herzens war. Alle Besorgnisse vor dem Marquis waren nunmehr verschwunden, und sie hatte nichts angelegentlichers zu fragen, als wenn er Herrn und Frau von La Motte zuletzt gesehn hätte?
»Die Frage sollte ich vielmehr an Sie thun,« sagte Louis etwas verlegen, »denn ich glaube, Sie haben sie später gesehn als ich. Ich habe seit einiger Zeit nichts von meinem Vater gehört, wahrscheinlich, weil mein Regiment in ein anderes Quartier verlegt ist.«
Er sah aus, als möchte er gern wissen, bey wem Adeline jetzt wäre, allein da sich hiervon in La Lücs Beyseyn nicht sprechen ließ, leitete sie das Gespräch auf allgemeine Gegenstände, und sagte ihm bloß, sie hätte seine Ältern gesund verlassen. Louis sprach wenig, und sah Adelinen oft ängstlich an, während seine Seele unter einem schmerzhaften Druck zu arbeiten schien. Sie bemerkte es, und da sie seine Erklärung am Morgen seiner Abreise von der Abtey nicht vergessen hatte, schrieb sie seine Verlegenheit einer noch nicht vertilgten Leidenschaft zu, und schien sie nicht zu merken.
Nachdem er wohl beynahe eine Viertelstunde unter einem Kampfe von Gefühlen, die er weder unterdrücken, noch verbergen konnte, gesessen hatte, stand er auf, um das Zimmer zu verlassen, und sagte im Vorbeygehen leise zu Adelinen:
»Erlauben Sie mir, Sie nur auf fünf Minuten allein zu sprechen.«
Sie besann sich verlegen und sagte dann, ›da niemand als Freunde von ihr gegenwärtig wären, so bäte sie ihn, sich ohne Zwang hier zu äussern.‹
»Entschuldigen Sie mich,« sagte er in eben dem leisen Ton; »was ich zu sagen habe, geht Sie sehr nahe an, und nur Sie. Ich bitte, gönnen Sie mir auf einige Augenblicke Gehör.«
Er sagte dieß mit einem Blick, der sie befremdete, und nachdem sie Lichter in ein andres Zimmer bestellt hatte, führte sie ihn dahin.
Louis saß einige Augenblicke stumm und in sichtlich starker Bewegung. Endlich sagte er:
»Ich weiß nicht, ob ich mich über dieses unvermuthete Zusammentreffen freuen oder beklagen soll; wiewohl, wenn Sie in guten Händen sind, ich mich unstreitig freuen muß, so schwer auch das Geschäft, welches mir jetzt obliegt, mir wird. Ich bin nicht unbekannt mit den Gefahren und Verfolgungen, die Sie erlitten haben, und kann meinen ängstlichen Wunsch, zu wissen wie jetzt Ihre Lage ist, nicht unterdrücken. Sind Sie in der That bey Freunden?«
»Bey sehr guten Freunden,« antwortete Adeline; »Herr von La Motte hat Ihnen also gesagt –«
»Nein,« fiel Louis mit einem tiefen Seufzer ein; »nicht mein Vater,« – er schwieg – »aber ich freue mich – gewiß ich freue mich herzlich, daß Sie in Sicherheit sind. Wüßten Sie, liebenswürdige Adeline, was ich gelitten habe! –«
»Verzeihn Sie mir,« unterbrach ihn Adeline, »ich verstand, Sie hätten mir etwas wichtiges zu sagen. Darf ich Sie erinnern, daß ich nicht lange Zeit habe?«
»Es ist allerdings wichtig, allein ich weiß nicht, wie ich es anbringen, wie ich es sänftigen soll – o mein armer Freund!«
»Von wem reden Sie,« fiel Adeline hastig ein.
Louis stand vom Stuhl auf und ging im Zimmer umher.
»Ich wollte Sie vorbereiten auf das, was ich zu sagen habe,« fing er wieder an – »allein bey meiner Seele, ich bin es nicht im Stande.«
»Ich beschwöre Sie, halten Sie mich nicht länger in Ungewißheit,« sagte Adeline, der ein wilder Gedanke aufstieg, daß es Theodor sey, von dem er reden wollte. Louis zögerte noch. »Ist es – o ist es, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir nur das ärgste,« rief sie mit Todesangst – »ich kann es ertragen, gewiß, ich kann es.«
»Mein unglücklicher Freund!« rief Louis –
»Theodor, Theodor« stammelte Adeline schwach – »lebt er noch?«
»Ja, aber –«
Er hielt inne.
»Aber was?« rief Adeline heftig zitternd. »Wenn er lebt, können Sie mir nichts schrecklicheres sagen, als meine Furcht mir eingibt. Ich beschwöre Sie nochmahls, zögern Sie nicht.«
Louis setzte sich wieder auf seinen Stuhl, und suchte eine gefaßte Miene anzunehmen.
»Er lebt,« sagte er, »aber im Gefängniß, und – denn warum sollte ich Sie täuschen – ich fürchte, er hat wenig in dieser Welt zu hoffen.«
»Das habe ich lange gefürchtet,« sagte Adeline mit einer Stimme erzwungner Fassung »Sie haben noch etwas schrecklichers zu sagen, und ich bitte Sie nochmahls, sich zu erklären.«
»Er hat alles von dem Marquis de Montalt zu fürchten. Ach warum sage ich zu fürchten? Sein Urtheil ist schon gesprochen – er ist zum Tode verurtheilt.«
Bey dieser Bestätigung ihrer schrecklichen Ahndung verbreitete sich eine Todtenblässe über Adelinens Gesicht: sie saß ohne Bewegung, und ein Seufzer erstickte in ihrer Brust. Erschrocken über ihren Zustand, und in Erwartung, sie ohnmächtig werden zu sehn, wollte Louis ihr zu Hülfe springen, allein sie winkte ihm, unfähig zu sprechen, mit der Hand von sich ab. Er rief um Hülfe, und La Lüc, Clara und Herr Verneuil eilten schnell herbey.
Bey dem Laute ihrer Stimmen sah sie auf, und schien sich zu besinnen; gleich darauf machte ein tiefer Seufzer ihr Luft, und sie brach in Thränen aus. La Lüc war es lieb, daß sie weinen konnte, wirklich fühlte sie sich auch bald erleichtert, und bath, so bald sie zu reden fähig war, daß man sie wieder ins andre Zimmer bringen möchte. Louis begleitete sie dahin, und als sie sich etwas besser befand, wollte er sich zurückziehn, allein La Lüc bath ihn zu bleiben.
»Vielleicht sind Sie ein Verwandter dieses jungen Frauenzimmers,« sagte er, »und haben ihr Nachricht von ihrem Vater gebracht?«
»Verzeihn Sie, ich bin nicht mit ihr verwandt,« antwortete Louis stockend.
»Dieser Herr,« sagte Adeline, die nunmehr ihre zerstreuten Gedanken wieder gesammelt hatte, »ist ein Sohn des Herrn La Motte, dessen Sie mich vielleicht haben erwähnen hören.«
Louis schien betroffen, als Sohn eines Mannes vorgestellt zu werden, der so unwürdig gegen Adelinen gehandelt hatte. Sie merkte es sogleich und suchte die Wirkung ihrer Worte zu mildern, indem sie hinzu setzte, daß La Motte sie aus einer dringenden Gefahr gerettet, und ihr viele Monathe lang eine Zuflucht unter seinem Dache verstattet hätte. –
Adeline saß in einem Zustande schrecklicher Angst und Begierde, die nähern Umstände von Theodors Lage zu wissen, und konnte nicht Muth fassen, in La Lücs Gegenwart das Gespräch zu erneuern: doch wagte sie es, Louis zu fragen, ob sein Regiment in dieser Stadt läge.
Er antwortete, sein Regiment läge zu Vaceau, einer französischen Stadt an der spanischen Grenze; er wäre eben von Lyon übergefahren und auf dem Wege nach Savoyen, wohin er in aller Früh morgen sich aufmachen wollte.
»Wir sind kürzlich daher gekommen,« sagte Adeline; »darf ich fragen, nach welcher Gegend von Savoyen Sie gehn?«
»Nach Leloncourt.«
»Nach Leloncourt?« wiederhohlte Adeline voll Verwunderung.
»Ich bin in dem Lande nicht bekannt,« versetzte Louis, »allein ich gehe um meinem Freunde zu dienen. Sie scheinen Leloncourt zu kennen, und wenn Sie wissen, daß Herr La Lüc daselbst wohnt, wie ich nicht anders vermuthe, so werden Sie den Zweck meiner Reise errathen.«
»O Himmel, ist es möglich,« rief Adeline – »ist es möglich, daß Theodor Peyrou mit Herrn La Lüc verwandt ist?«
»Theodor! was ist es mit meinem Sohne?« fragte La Lüc in Bestürzung.
»Ihr Sohn,« sagte Adeline, mit zitternder Stimme, »ihr Sohn!«
Das Erstaunen und der Schmerz auf ihrem Gesichte vermehrte die Besorgniß des unglücklichen Vaters, und er erneuerte seine Frage. Allein Adeline war gänzlich unvermögend, ihm zu antworten, und Louis Beängstigung, so unerwartet den Vater seines unglücklichen Freundes zu finden, und das harte Geschäft vor sich zu sehn, ihm das Schicksal seines Sohnes zu entdecken, raubte ihm eine Zeitlang alle Sprache. La Lüc und Clara, deren Angst durch dieß schreckliche Schweigen nur höher stieg, wiederhohlten ihre Fragen.
Endlich überwältigte ein Gefühl von dem herannahenden Leiden des guten La Lüc alle andre Empfindung, und Adeline überwand sich genug, um Claren die schreckliche Nachricht auf eine mildernde Art beyzubringen, und sie in ein anderes Zimmer zu führen. Hier sagte sie ihr mit so viel Fassung, als sie zusammen raffen konnte, und mit der zärtlichsten Schonung, die Umstände von ihres Bruders Lage und verheelte ihr bloß sein schon ausgesprochnes Urtheil.
Diese Erzählung brachte natürlich eine Eröffnung ihres Verhältnisses mit sich, und Clara entdeckte in der Freundinn ihres Herzens die unschuldige Ursache von ihres Bruders Verderben. Auch erfuhr Adeline, was daran Schuld gewesen war, daß ihr Theodors Verwandtschaft mit La Lüc so lange unbekannt blieb: Theodor hatte mit einem Gute, das ein Verwandter seiner Mutter ihm unter dieser Bedingung vermachte, seit etwa einem Jahre den Nahmen Peyrou angenommen. Er war zur Kirche bestimmt gewesen, allein sein Temperament machte ihn geneigter zu einem thätigen Leben, als die geistliche Tracht ihm verschaffen konnte, und so bald er sein Vermögen in die Hände bekam, kaufte er sich eine Capitains-Stelle in französischen Diensten.
Bey ihrem seltnen und oft unterbrochnen Zusammenseyn in Caux hatte Theodor seiner Familie nur im Allgemeinen erwähnt, und sie blieb also bey ihrer plötzlichen Trennung in Unwissenheit wegen seines Vaters Nahmen und Aufenthalt.
Claras Schmerz, als sie die Lage ihres Bruders erfuhr, ließ keine Mäßigung zu: Adeline die mit äusserster Anstrengung ihren Empfindungen so weit gebothen hatte, diese Nachricht mit leidlicher Fassung zu ertheilen, wurde nunmehr von ihrem eignen, und Claras hinzukommenden Leiden beynahe überwältigt.
Während sie beyde den Jammer ihres Herzens ausweinten, ging, wo möglich, ein noch rührenderer Auftritt zwischen La Lüc und Louis vor. Dieser sah wohl ein, wie nothwendig es war, den armen Vater, zwar mit großer Behutsamkeit und allmählig, von dem ganzen Umfang seines Unglücks zu unterrichten. Er sagte ihm also, ohngeachtet Theodor anfangs nur wegen des Vergehens, seinen Posten verlassen zu haben, vor Gericht gefordert sey, wäre er jetzt wegen eines Angriffs auf seinen Obristen, den Marquis de Montalt, verurtheilt worden.
Der Marquis hatte Zeugnisse beygebracht, daß sein Leben durch diesen Angriff in Gefahr gesetzt worden, und hatte die Verfolgung mit der bittersten Wuth betrieben, bis er endlich den Ausspruch erhalten, den das Regiment nicht verweigern konnte, jeder Offizier aber schmerzlich beklagte.
Louis setzte hinzu, daß das Urtheil in Zeit von vierzehn Tagen sollte vollzogen werden, und daß Theodor, äusserst unruhig, keine Antwort auf alle an seinen Vater geschickten Briefe erhalten zu haben, ihn noch einmahl zu sehn wünschte. Da nun keine Zeit zu verlieren gewesen sey, so hätte er es übernommen, nach Leloncourt zu gehen, und seinen Vater mit seiner Lage bekannt zu machen.
La Lüc nahm die Nachricht von seines Sohnes Zustand mit einem Schmerz auf, der weder Thränen noch Klagen zuließ. Er fragte, wo Theodor wäre, und verlangte zu ihm gebracht zu werden, dankte Louis für seine Freundschaft, und bestellte sogleich Postpferde.
Ein Wagen war bald bereit, und dieser unglückliche Vater, machte sich nach einem traurigen Abschiede von Herrn Verneuil, den er bath, ihn bey seinem Freunde Mauron zu entschuldigen, mit seiner Familie auf den Weg nach dem Gefängnisse seines Sohns.
Die Reise geschah in tiefem Schweigen. Jeder bemühte sich aus Schonung des andern, den Ausbruch seines Schmerzes zu unterdrücken; mehr aber vermochten sie nicht. La Lüc schien ruhig und gefaßt; er schien oft im Stillen zu beten, allein man sah ohngeachtet seiner Mühe, es zu verbergen, auf seinem Gesicht, wie schwer ihm das Streben nach Ergebung und Ruhe ward.