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Sechstes Kapitel.

Adeline, durch einen guten Körperbau und durch die liebreiche Sorgfalt ihrer neuen Freunde unterstützt, fand sich in Zeit von einer Woche so weit wieder hergestellt, daß sie das Zimmer verlassen konnte. Sie wurde nun La Lüc vorgestellt, den sie mit Thränen einer Dankbarkeit empfing, die sie so lebhaft, und doch so kunstlos äusserte, daß er warm für sie eingenommen ward. Während des Fortschritts ihrer Genesung, hatte ihr sanftes Betragen Clarens Herz gänzlich gewonnen, und sie ihrer Tante lieb gemacht, deren Berichte von Adelinen, mit Clarens warmen Lobe zusammen genommen, La Lücs Aufmerksamkeit und Achtung erregt hatten: er kam ihr mit einem Ausdruck von Wohlwollen entgegen, der Frieden und Trost in ihr Herz goß.

Sie hatte der Mademoiselle La Lüc diejenigen Umstände ihrer Geschichte erzählt, welche Peter ausgelassen hatte, oder nicht mittheilen konnte, und nur aus einer, vielleicht falschen Delicatesse, das Geständniß ihrer Liebe mit Theodor unterdrückt. Diese Erzählung wurde La Lüc wiederhohlt, der, stets fühl: bar gegen das Leiden Anderer, einen besondern Antheil an Adelinens Unglück nahm.

Beynahe vierzehn Tage waren seit ihrem Aufenthalt in diesem Hause verstrichen, als eines Morgens La Lüc sie in sein Zimmer führte. Hier sagte er ihr auf die schonendste Art, da er sähe, daß sie so unglücklich in ihrem Vater Wörtliche Übersetzung von » unfortunate in her father«: »unglücklich mit ihrem Vater«. ( D. Hrsg.) wäre, bäte er sie, ihn in Zukunft an dessen Stelle, und sein Haus als ihr väterliches zu betrachten.

»Sie und Clara sollen auf gleiche Weise meine Tochter seyn, ich schätze mich glücklich, solche Kinder zu besitzen.«

Die stärksten Regungen von dankbarer Freude und Überraschung hielten Adelinen eine Zeitlang stumm.

»Danken Sie mir nicht, liebes Kind,« fuhr La Lüc fort. »Ich weiß alles, was Sie sagen möchten, und weiß auch, daß ich nur meine Pflicht thue. Ich danke Gott, daß meine Pflichten und meine Freude gewöhnlich in Einklang stehn.«

Adeline trocknete die Thränen, die seine Güte ihr auspreßte, und führte seine Hand an ihre Lippen. La Lüc drückte schweigend die ihrige und ging aus dem Zimmer, um seine Bewegung zu verbergen.

Adeline wurde nunmehr als ein Glied der Familie betrachtet, und würde in La Lücs väterlicher Zärtlichkeit, in Claras schwesterlicher Liebe, und der sich immer gleichen Freundlichkeit ihrer Tante, ebenso glücklich gewesen seyn, als sie dankbar war, hätte nicht unabläßige Angst um Theodor, von dem sie in dieser Einsamkeit weniger als je zu hören hoffen durfte, an ihrem Herzen genagt und jeden Augenblick des Nachdenkens verbittert.

Selbst wenn der Schlaf auf eine Weile das Andenken des Vergangnen vertilgte, stieg sein Bild häufig vor ihrer Fantasie auf, begleitet mit allen furchtbaren Gestalten des Schreckens. Sie sah ihn in Ketten; kämpfend gegen die Henkersknechte; sah ihn unter den schrecklichsten Anstalten zur Hinrichtung aufs Schaffot schleppen; sah die Todesangst seiner Blicke, und hörte in Tönen des Wahnsinns ihn ihren Nahmen rufen, bis kalte Schauder sie durchdrangen, und sie voll Entsetzen erwachte.

Gleichheit des Geschmacks und Charakters, fesselten sie an Clara, doch war der Jammer, der an ihrem Herzen nagte, von zu zarter Art, um davon zu reden; und sie nannte selbst gegen ihre Freundinn nie Theodors Nahmen. Ihre Krankheit hatte eine gewisse Schwäche und Mattigkeit bey ihr zurückgelassen, und die Unruhe ihrer Seele trug vieles bey, diesen Zustand zu verlängern. Sie gab sich alle Mühe, ihre Gedanken von diesem traurigen Gegenstande abzuziehn, und oft gelang es ihr. La Lüc hatte eine vortrefliche Büchersammlung und der Unterricht, den sie hier schöpfen konnte, befriedigte zugleich ihren Durst nach Kenntnissen, und zog ihre Seele von schmerzhaften Betrachtungen ab. Auch seine Unterhaltung gab ihr Zuflucht vor ihrem Kummer.

Ihr vornehmster Zeitvertreib aber war zwischen den erhabenen Gegenständen des umliegenden Landes umher zu wandeln, oft mit Claren, oft nur in Gesellschaft eines Buchs. Es gab in der That Zeiten, wo die Unterhaltung ihrer Freundinn, ihr einen peinlichen Zwang auflegte, und wenn sie in ihren Betrachtungen vertieft war, mochte sie lieber einsam in Gegenden wandeln, deren einsame Größe die Schwermuth ihres Herzens nährte und sänftigte. Hier rief sie jeden Umstand von ihrem geliebten Theodor sich zurück, und suchte sich sein Gesicht, sein Wesen, jede seiner Bewegungen vorzustellen.

Bald weinte sie bey der Erinnerung, und dann fiel ihr plötzlich der schreckliche Gedanke ein, daß er vielleicht bereits einen schmähligen Tod für sie erduldet hätte; den Tod um eben der Handlung willen, die ihr seine Liebe bewies – eine schreckliche Verzweiflung bemächtigte sich ihrer; ihre Thränen versiegten, und jeder Damm stürzte nieder, den Vernunft und Seelenstärke ihr entgegen setzen konnten.

Furchtsam, ihren eigenen Gedanken länger zu trauen, eilte sie nach Hause, und suchte in gewaltsamer Anstrengung, in La Lücs Gespräch die Erinnerung des Vergangenen zu verlieren. La Lüc schrieb ihre Schwermuth der grausamen Behandlung ihres Vaters zu, und Mitleid machte sie seinem Herzen noch theurer, während die Neigung zu vernünftiger Unterhaltung, die sie in ihren ruhigen Stunden so oft verwirrt, ihm eine neue Quelle des Vergnügens in der Aufklärung eines Geistes darboth, der nach Kenntniß dürstete, und jedes reinen Begriffs empfänglich war. Sie fand ein trauriges Vergnügen darin, den sanften Tönen von Clarens Laute zuzuhören, und wiegte oft ihr Herz dadurch ein, daß sie ihre Melancholie zu wiederhohlen versuchte.

Die Sanftheit ihres Wesens, die so viel Ähnlichkeit mit dem stillen Nachdenken hatte, welches La Lücs Charakter bezeichnete, that seinem Herzen wohl, und gab seinem Betragen einen Anstrich von Zärtlichkeit, der dem ihrigen tröstend war, und allmählich ihr ganzes Vertrauen und Zuneigung gewann. Sie sah mit äusserster Bekümmerniß den abnehmenden Zustand seiner Gesundheit, und vereinigte ihr Bemühen mit den Bemühungen seiner Familie, ihn zu zerstreuen und aufzuheitern.

Die angenehme Gesellschaft, in der sie lebte, und die Ruhe des Landlebens gab endlich ihrer Seele einige Heiterkeit wieder. Sie war jetzt mit allen wilden Spaziergängen auf den benachbarten Gebürgen bekannt, und ermüdete nie, ihren erstaunenswürdigen Anblick anzuschauen. Oft wagte sie sich auf ihre unbesuchten Pfade, wo nur selten ein Landmann aus einem nahen Dorfe die tiefe Einsamkeit unterbrach. Gewöhnlich nahm sie ein Buch mit, um, wenn ihre Gedanken sich nach dem steten Gegenstande ihres Schmerzes lenken wollten, sie gewaltsam zu einer für ihren Frieden minder gefährlichen Aufmerksamkeit zu zwingen. Sie erstieg alsdann eine wilde Anhöhe, setzte sich mit einem italienischen Dichter, oder einem Schriftsteller ihres Landes in der Hand, unter die Fichten, deren leichtes Murmeln ihr Herz einwiegte, und suchte durch die Träume des Dichters sich in Vergessenheit des Kummers zu senken.

La Lüc sah, wie vielen Geschmack Adeline an den großen Zügen der Gegend fand, und um die Schwermuth zu zerstreuen, die ohngeachtet ihres Bemühens nur zu oft durchschimmerte, wünschte er sie noch zu andern Scenen zu führen als im Bezirke ihrer gewöhnlichen Spaziergänge lagen. Er schlug eine Parthie zu Pferde vor, um eine nähere Ansicht der Eisgebürge zu suchen, zu ihnen hinauf zu klimmen war eine Beschwerde und Ermüdung, die weder La Lüc in seinem jetzigen Gesundheitszustande, noch Adeline aushalten konnte. Sie war nicht gewohnt, ein Pferd allein zu regieren, und die Bergstraßen, welche sie paßiren mußten, machten den Versuch etwas gefährlich; doch verheelte sie ihre Furcht, und war nicht geneigt, sich dadurch um einen solchen Genuß bringen zu lassen, als jetzt ihr angebothen ward.

Der folgende Tag wurde zu dieser Reise angesetzt. La Lüc und seine Gesellschaft standen in aller Frühe auf, und nach einem leichten Frühstück machten sie sich nach dem Monte Maledetto auf, der nur wenig Meilen von ihnen lag. Peter mußte einen kleinen Korb mit Lebensmitteln tragen, und es war ihr Plan, an irgend einer schönen Stelle unter freyem Himmel zu tafeln.

Es wäre überflüßig, Adelinens hohes Entzücken, La Lücs ruhiges Vergnügen, und Claras lebhaftere Freude zu beschreiben, so wie die Scenen des romantischen Landes sich vor ihren Augen veränderten. Bald runzelten in dunkler, furchtbarer Größe, schreckliche Felsen ihre Stirnen, und Wasserfälle stürzten in ein tiefes schmales Thal herab, über welches schäumend ihr vereinigtes Gewässer hinströmte, und in Regionen verbraußte, die jedem sterblichen Fuß unzugänglich waren; bald vermischte sich in der minder schauerlichen Gegend die Pracht der Wälder und der Schmuck der Saaten mit den rauhern Zügen der Natur, und während der Schnee auf den Gipfeln der Berge zu Eis fror, röthete der Weinstock ihre Füße.

In anziehende Gespräche und in die Bewunderung des Landes vertieft, ritten sie bis Mittag fort, wo sie sich nach einem angenehmen Ort umsahen, auf dem sie ruhen und Erfrischungen nehmen könnten, Sie sahn in einiger Entfernung die Ruinen eines alten Schlosses, es stand nahe an einer Felsenspitze, die über ein tiefes Thal hing, und seine zerbrochnen Thürme, die zwischen der einfassenden Waldung aufstiegen, erhöhten die pittoreske Schönheit des Anblicks.

Das Gebäude erregte ihre Neugier, die Schatten luden zur Ruhe ein. La Lüc und seine Gesellschaft eilten darauf zu.

Sie setzten sich auf das Gras, unter dem Schatten einiger hohen Bäume neben den Ruinen. Eine Öffnung im Walde gewährte eine Aussicht auf die fernen Alpen. Das tiefe Schweigen der Einsamkeit herrschte rings umher. Eine lange Zeit blieben sie im Nachdenken verloren.

Adeline fühlte ein süßes Behagen, daß sie lange nicht gekannt hatte. Sie sah La Lüc an, und sah eine Thräne seine Wangen herab schleichen, während die Erhebung seiner Seele sich stark auf seinem Gesicht ausdrückte. Er richtete seine Augen zärtlich auf Claren, und that sich Gewalt, sich zu fassen.

Peter kam jetzt zum Vorschein und fragte, ob es nicht gut seyn würde, wenn er den Korb öfnete, denn er dächte, Se. Ehrwürden und die jungen Fräuleins müßten hungrig seyn, nachdem sie so viel Berge auf und ab geklimmt wären. Sie gestanden, daß der ehrliche Peter sie nicht unrecht in Verdacht hatte, und machten sich seinen Wink zu Nutze.

Die Lebensmittel wurden auf dem Rasen ausgebreitet; sie setzten sich unter das Gewölbe wehender Bäume, hauchten von den süßen Düften wilder Blumen umgeben, die reine Luft der Alpen ein, die wohl Luftessenz genannt werden kann, und genossen eine köstliche Mahlzeit.

»Wie ungern verlasse ich diesen Ort,« sagte Clara, als sie aufstanden. »Ach wie süß müßte es seyn, sein ganzes Leben mit den Freunden, die man liebt, hier zuzubringen?« –

La Lüc lächelte über die romantische Einfalt dieses Gedankens; Adeline aber seufzte tief bey dem Bilde von Glückseligkeit und von Theodor, an den es sie erinnerte, und drehte sich zur Seite, um ihre Thränen zu verbergen.

Sie stiegen nun auf ihre Pferde und erreichten bald den Fuß des Monte Maldetto. Adelinens Empfindung, als sie die erstaunungswürdigen Gegenstände rings umher in verschiedenen Gesichtspuncten sah, übertraf allen Ausdruck; und die Gefühle der ganzen Gesellschaft waren zu stark, um ein Gespräch zuzulassen. Die tiefe Stille, die in diesen Regionen der Einsamkeit herrschte, flößte Ehrfurcht ein, und erhöhte das Erhabne des Anblicks auf einen unbeschreiblichen Grad.

»Es kommt mir vor,« sagte Adeline, »als wandelten wir über die Trümmer der Welt, und wären die einzigen Menschen, die den Schiffbruch überlebt hätten. Kaum kann ich mich überreden, daß wir nicht allein auf der Erde übrig sind.«

»Der Anblick dieser Gegenstände,« sagte La Lüc, »erhebt die Seele zu ihrem großen Urheber, und wir betrachten sie mit einem Gefühl, das beynahe zu groß für die Menschheit ist – die Erhabenheit seiner Natur in der Größe seiner Werke! –«

Ungern verließen sie diese Scenen, aber die Stunde des Tags, und das Ansehn der Wolken, die sich zu einem Gewitter zusammen zu ziehn schienen, trieb sie zur Beschleunigung ihrer Heimreise. Adeline hätte fast gewünscht, den schauerlichen Effekt eines Gewitters in diesen Regionen anzusehn.

Sie kehrten durch einen andern Weg nach Leloncourt zurück, und die Dunkelheit des Himmels vertiefte den Schatten der überhängenden Vorgebürge. Es war Abend, als sie den See ins Gesicht bekamen, dessen Anblick ihnen willkommen war, denn das Gewitter, das so lange gedroht hatte, stand jetzt nahe: der Donner grunzte zwischen den Alpen; und die dunkeln Dünste, die schwer an ihren Seiten hinrollten, erhöhten ihre schauderliche Erhabenheit.

La Lüc hätte gern seine Schritte beschleunigt; allein der Weg wand sich steil einen Berg herab und machte Vorsicht nothwendig. Die sich verdunkelnde Luft und die Blitze, die am Horizont flammten, schreckten Clara; doch hielt sie in Betracht ihres Vaters ihre Furcht zurück. Ein Donnerschlag, der die Festen der Erde zu erschüttern schien, und im furchtbaren Echo von den Felsen wiederhallte, brach über ihren Häuptern los.

Claras Pferd gerieth in Schrecken bey dem Schall, sprang davon, und setzte mit unglaublicher Geschwindigkeit den Berg herab nach dem See zu, der seinen Fuß bespülte. La Lücs Angst, der in fürchterlicher Erwartung, sie das Precipice, das den Rand begrenzte, hinab schleudern zu sehn, sie mit seinen Blicken verfolgte, läßt sich nicht beschreiben.

Clara hielt sich fest, aber Schrecken hatte sie ihrer Sinne beynahe beraubt. Ihr Bemühn, sich zu erhalten, war mechanisch: kaum wußte sie was sie that. Doch brachte das Pferd sich glücklich bis fast an den Fuß des Berges, wollte aber mit ihr in den See setzen, als ein Herr, der des Wegs kam, es beym Zaum faßte. Das plötzliche Stillestehn des Pferdes warf Claren zur Erde, und ungeduldig über den Zwang, riß das Thier sich von dem Fremden loß, und sprang in den See. Die Heftigkeit des Falls beraubte Clara ihrer Besinnung; und während der Fremde sie aufrecht zu halten suchte, lief sein Bedienter, um Wasser zu hohlen.

Sie erhohlte sich bald, und fand sich, als sie die Augen aufschlug, in den Armen eines Herrn, der sie mit Mühe zu halten schien. Das Mitleid in seinem Gesicht, als er nach ihrem Befinden fragte, belebte ihren Muth, und sie wollte ihm für seine Güte danken, als La Lüc und Adeline herzukamen. Clara sah ihres Vaters Schrecken auf seinen Zügen; so matt sie auch war, richtete sie sich auf und sagte mit einem schwachen Lächeln, das ihr Leiden verrieth, statt es zu verbergen:

»Bester Vater, ich habe keinen Schaden genommen!«

Ihr bleiches Gesicht, und das Blut, das ihre Wangen herablief, wiedersprach ihren Worten. La Lüc aber, dem seine Einbildungskraft das schrecklichste Übel vorgestellt hatte, freute sich, sie reden zu hören; er bekam einige Geistesgegenwart wieder, und während Adeline ihr Riechsalz vorhielt, rieb er ihre Schläfe.

Sie sagte ihm nunmehr, wie große Verbindlichkeit sie dem Fremden hätte. La Lüc suchte ihm seine Dankbarkeit zu bezeugen, allein der Herr unterbrach ihn und bat, ihm die Verlegenheit zu ersparen, sich dafür danken zu lassen, daß er dem Antriebe gewöhnlicher Menschlichkeit gefolgt hätte.

Sie waren nicht weit mehr von Leloncourt: aber die Nacht war schon beynahe eingebrochen, und der Donner brüllte tief zwischen den Bergen. La Lüc war in Verlegenheit, wie er Clara nach Hause bringen sollte.

Indem er sie von der Erde aufhob, verrieth der Fremde so heftige Zeichen von Schmerz, daß La Lüc ihn um die Ursache fragte. Der plötzliche Stoß, den das Pferd seinem Arme gegeben hatte, als es sich von ihm loßriß, hatte ihm die Schulter verrenkt, und seinen Arm beynahe unbrauchbar gemacht. Sein Schmerz war sehr groß, und La Lüc, dessen Angst um seine Tochter jetzt nachgelassen hatte, wurde bekümmert, und drang in den Fremden, ihn in sein Haus zu begleiten, wo sie ihm Hülfe verschaffen könnten. Er nahm die Einladung an, und Clara, die endlich auf ein Pferd, das ihr Vater führte, gesetzt wurde, trabte mit der übrigen Gesellschaft nach dem Hause zu.

Als Mademoiselle, die schon eine ganze Weile nach ihnen ausgesehn hatte, den Zug herannahen sah, gerieth sie in Unruhe, und ihre Besorgnisse wurden bestätigt, als sie ihrer Nichte Zustand entdeckte. Clara wurde ins Haus getragen, und La Lüc hätte gern einen Wundarzt hohlen lassen, allein es war innerhalb vieler Meilen keiner vorhanden, so wie überhaupt kein Arzt in der ganzen Gegend war.

Clara gelangte mit Adelinens Hülfe in ihre Kammer, und Mademoiselle übernahm es, die Wunden zu untersuchen. Das Resultat stellte die Ruhe der Familie wieder her, denn wiewohl sie sehr zerquetscht war, hatte sie doch keinen wesentlichen Schaden genommen: eine leichte Contusion an der Stirne hatte das Bluten verursacht, worüber La Lüc anfangs so sehr erschrack. Seine Schwester versprach, sie in wenig Tagen mit Hülfe eines selbst verfertigten Balsams wieder herzustellen, über dessen Kraft sie sich mit großer Beredsamkeit ergoß, bis La Lüc sie unterbrach, und an den Zustand ihrer Kranken erinnerte.

Nachdem Mademoiselle Claren mit Spiritus gewaschen, und ihr eine unvergleichliche Herzstärkung eingegeben hatte, verließ sie sie, und Adeline blieb bey ihr in ihrem Schlafzimmer, bis sie in ihr eignes ging.

La Lüc, der große Unruhe ausgestanden hatte, wurde nun durch seiner Schwester Bericht sehr beruhigt. Er stellte ihr den Fremden vor, und bat, indem er ihr seinen Unfall sagte, daß sie ihm unverzüglich zu Hülfe kommen möchte. Mademoiselle eilte in ihr Kabinet, und es dürfte vielleicht schwer zu bestimmen seyn, ob sie mehr Bekümmerniß über das Leiden ihres Gastes, oder mehr Vergnügen über die sich darbiethende Gelegenheit, ihre Geschicklichkeit an den Tag zu legen, empfand. So viel ist gewiß, daß sie das Zimmer in äußerster Geschwindigkeit verließ, und schnell mit einer Büchse von ihrem unvergleichlichen Balsam zurückkam, worauf sie nach der nöthigen Anweisung zu dessen Gebrauch, den Fremden der Sorge seines Bedienten überließ.

La Lüc bestand darauf, daß der Fremde, der sich Herr Verneuil nannte, diese Nacht das Haus nicht verlassen sollte, und er ließ sich nicht lange nöthigen. Sein Betragen war eben so freymüthig und einnehmend, als La Lücs Gastfreyheit und Dankbarkeit aufrichtig waren, und sie kamen bald in ein interessantes Gespräch.

Herr Verneuil sprach wie ein Mann, der viel gesehn und mehr noch gedacht hatte; und wenn er einige vorgefaßte Meinungen verrieth, so waren es sichtlich Vorurtheile eines Geistes, der die Gegenstände durch das Licht seiner eignen Güte sieht und ihnen die Farbe seines Charakters mittheilt. La Lüc war sehr zufrieden: denn in seiner abgezognen Lage hatte er nicht oft Gelegenheit, das Vergnügen zu genießen, welches aus der gegenseitigen Mittheilung aufgeklärter Menschen entspringt. Er fand, daß Herr Verneuil auf Reisen gewesen war, und seine Bemerkungen über die Länder und Menschen, die er gesehn hatte, verriethen den denkenden Kopf und feinen Beobachter.

Gegenseitig zufrieden mit einander trennten La Lüc und sein Gast sich nicht eher, bis die Mitternachtsstunde sie erinnerte.



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