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Seit der ersten Kindheit, wieviel tausend verschwimmende Gestalten von kleinen Gedanken, Ahnungen – dann halbgeborne Dichtungen, Träume, Ideen, Kleinode von Empfindungen ...
Adalbert Stifter
Was ist die Poesie der Jugend? Vergangenheit! Ich vergleiche sie den blauen Bergen in der Ferne, den ungreifbaren Wolken des Sonnenaufgangs und Untergangs, der kristallnen Tiefe des Weltmeers, dem vergangnen Frühling, kurz dem Fernen und dem Gestrigen, allem, was nur aus der Entfernung herleuchtet. Man mag von Leuten sagen, sie hätten sich ihre Jugend bewahrt, von Greisen sogar, sie hätten sich verjüngt: mit echter Jugend hat das nichts zu tun, die kommt in jedem Leben nur einmal vor. Wie Knospen und Blühen ihre Zeit haben, hat Jugend ihre Zeit. Und wie die Rose eben deshalb so schön ist, weil sie es nicht weiß, und so wie die Berge nicht blau sind, wenn wir vor ihnen stehn, und der Horizont nicht silbern, wenn unser Schifflein ihn durchschneidet, so wird uns die Poesie der Jugend erst bewußt, wenn sie schon lange hinter uns liegt. Ich will damit nicht sagen, daß diese Poesie nur Schein sei. Im Gegenteil, Jugend selbst ist lebende Poesie, lebendig im Innersten eines werdenden Menschen, aus dem sie alle Poesie, die draußen in der Welt, in der Natur, in den Menschen und ihren Geschicken lebt, an sich zieht, sodaß die Kinderseele mehr draußen als drinnen ist und sich mächtig von der Poesie des Außenlebens nährt. Die Kindheit des Einzelnen gleicht darin der Kindheit der Menschheit, daß sie ganz in ihrer Umwelt aufgeht, mit ihr eins ist, und auch darin, daß sie sich dann aus dieser Naturverflechtung und Naturbeseelung unter tausend schmerzlichen Kämpfen wieder loslösen muß, bis der naturlose Mensch hergestellt ist, den man »brauchen kann.« Wie oft ist in jenen Jahren das Gefühl in mir wiedergekehrt von einer Welt, die jenseits der engen meinen zu entdecken sei, und nach der hin Gedanken und Empfindungen ohne Namen und Ziel ins Unbekannte flogen? Und sie kehrten immer zurück und hatten kein Land gesehen! Aber wenn ich weit, weit hinein in einen blauen Himmel sehe, bis er zu zerfließen und immer tiefer herunterzuschweben scheint, dann meine ich wohl auch heute noch ein fernes Singen und Jauchzen zu hören und wähne, mein Jugendland müsse dort unten am Horizont aufsteigen, wo die Wolken wie silberne Inseln liegen.
Voll Leben waren die vier engen Wände, in denen ich aufwuchs. Die Tapete des Zimmers, wo ich schlief, in Form und Farbe Erzeugnis einer kümmerlichen Phantasie: braune Ränkchen auf gelbem Grunde, denen Figuren entsprossen, die nicht Blume und nicht Tier waren und sich deswegen meinem Traumsinn als Männchen empfahlen – ich sah sie bald als Bergmännchen aus der Tiefe bis zur Decke steigen, bald als Engelchen von oben herunterreiten –, die braunen glänzenden Kinder, die um den Tonofen des Wohnzimmers ihren Reigen tanzten, eine bucklige, farbige Porzellanfigur mit goldgerändertem Dreispitzhut, die als Trinkbecher dienen sollte, wozu niemand sie gebrauchen mochte, ein kleines Körbchen aus Gewürznelken und grünen Glasperlen, aus dem man eben noch etwas veralteten Nelkengeruch zu ziehen vermochte, diese und ähnliche Kleinigkeiten nährten meine kindliche Einbildungskraft. Warum blieb nicht die Natur selbst, die reiche, die Quelle einer elementaren Poesie, wie sie es in meinen frühesten Kinderjahren gewesen war? Wie vermochten diese Stümpereien sie zu verdrängen? Ich vermute, daß der keimende Besitzsinn hineinspielte, denn dieser Tand war mein und den Meinigen, die Werke der Natur aber gehören aller Welt. Und so begann denn auch die Wiederbefreundung mit der Natur durch Sammeln und Zusammenraffen, sie zog mich aus den vier Wänden, lockte mich später von den Büchern ins Freie hinaus.
Die Sammelleidenschaft, die in der Neugier und in der Anhänglichkeit an einmal Besessenes wurzelte und aus meiner Tischschublade einen Gerümpelschrank machte, wo alte Nägel und Hufeisen neben Kieselsteinen und Papierstückchen lagen, deren Wert nur mir allein bekannt war, hat mich durch meine ganze Jugend begleitet; an ihrem Faden bin ich später zu den ernstern Studien gelangt. Sie nahm nacheinander die sonderbarsten Formen an. Ihre frühesten Regungen knüpfen sich in meiner Erinnerung an das Wiederabschlagen der Buden und »Stände,« wenn der Jahrmarkt zu Ende war, der im Juni und im November abgehalten wurde. Das Einpacken der Waren in schwere Kisten und mehr noch das Zurückbleiben zahlloser Papierfetzen und gelegentlicher Reste von zerbrochnen Gegenständen fesselte uns alle; niemand scheute sich, in dem Kehricht herumzustochern; lag doch darüber noch ein Abglanz des Reichtums, der in den Buden geleuchtet hatte. Der Mensch hängt sein Herz an sonderbare Schätze. Ich hatte ein Holzkästchen, nicht größer als eine Hand, in dem ich von den Kinderjahren an immer das aufbewahrte, was mir augenblicklich das höchste Gut war. Es waren nacheinander lebende Maikäfer, der Schädel einer Maus, ein durchsichtiger Rheinkiesel, einige Zeilen von der Hand der Schwester meines Freundes Hermann, die ich im Schlitten zu fahren pflegte, ein Ring mit Haaren von meiner Mutter. Und wie viel noch! Das schmucklose unpolierte Kästchen machte mir warm in der Herzgrube, wenn ich nur daran dachte. Ich habe es auf allen meinen frühen Wanderungen mitgetragen, und wo ich weilte, machte es mich heimisch. Es war wahrlich die Bundeslade meiner jungen Jahre.
Mächtig nährte den Besitz- und Sammelgeist die Vorliebe, mit der wir »Knöpfles« spielten, wobei Knöpfe in einen an eine Hauswand auf die Steinplatte des Bürgersteigs gezeichneten Halbkreis mit dem gebognen rechten Zeigefinger geschoben wurden. Sie hing jedenfalls damit zusammen, daß die Biedermeierfräcke, die blauen und braunen, mit ihren schönen Messingknöpfen außer Mode gekommen waren. Es gab einen Überfluß von schönen Metallknöpfen in unsrer kleinen Welt, und da sie sonst zu nichts nütze waren, verspielte man sie. Es gab Knaben, die sich, wie die Wilden, ganze Leibketten, schwere Leibgürtel und Schulterketten daraus machten. Jedenfalls habe ich selbst damals viel mehr Wert auf ein Kattunsäckchen voll Messingknöpfe als auf alle Sterne des Firmaments gelegt.
Das Anlegen von Höhlen oder sonstigen Verstecken im Walde, die geheimnisvolle Einrichtung von Niederlagen von Büchern, Spielsachen und Nahrungsmitteln in den entlegensten Winkeln des Hauses, sogar das Hineinbohren und -schnitzeln von »Schatzkästchen« in die Schultische, worin Namen und Alter des Gräbers niedergelegt und mit einem Holzpfropf abgeschlossen wurden, entsprangen alle demselben Trieb des Geheimtuns, der in uns allen lebte. Und deshalb mußte auch jede Ausgrabung Schätze bringen. Man kam nur meist nicht tief genug. Deshalb sahen die Kinder unermüdlich halbe Tage zu, wie beim Graben eines Brunnens Kübel um Kübel voll Erde und Sand heraufgewunden wurden. Nie ein Karfunkelstein! Nie ein kleines Tier, das mit leuchtenden Augen auf Goldhaufen lag und wachte!
Eines Tages vertraute mir ein Kamerad, der von ebenso großer Sammelleidenschaft ergriffen war, daß neben einer Hintertür des Naturalienkabinetts ein Haufen Steine vom höchsten Werte liege, die herrenlos zu sein schienen. Die erste freie Stunde kramten wir in dem Gerümpel, und kein Märchenschatz kann seine Finder höher beglückt haben. Nicht glaubend, daß man diese Abdrücke von Kohlenpflanzen, diese Fragmente oder schlechten Abdrücke von Clymenien, Nautilen, Spyräen und was sonst noch auf dem Haufen lag, ohne weiteres an sich nehmen dürfe, holten wir uns die Erlaubnis, sie anzusehen, und waren außer uns vor Freude, als uns gesagt wurde, wir sollten nehmen, was wir wollten. Wir füllten unsre Taschen und trugen alles auf zweimal nach Hause, wo niemand über diese schwerwiegende Bereicherung der Büchergestelle erfreut war. Das war der erste Anfang des Sammelns mit wissenschaftlichem Zweck. Der war zuerst freilich nur Nebenzweck, aber da wir nun öfters das Museum besuchten, wo viel mehr und vollkommnere Exemplare aufgestellt waren, begann das Vergleichen und Benennen, und unwillkürlich wurden wir in das Klassifizieren hineingeführt, das die Grundlage aller weitern Fortschritte war. Es dauerte nicht lange, so machten wir auf eigne Hand Entdeckungsexpeditionen in die Sandstein- und Muschelkalkbrüche der Umgebung. Ich war kaum dem Knabenalter entwachsen, als ich die Fauna des Keupers und des Muschelkalks mit zwei ausgezeichneten Formen bereicherte. Niemand, am wenigsten ich selbst, ließ sich damals träumen, daß damit ein Weg betreten war, der mich viel später weit führen sollte, nachdem ich einige andre schon gewandert war. Damals bewegte sich mein Sammeln und Ordnen noch ganz im Spiel. Im besten Fall galt es als Liebhaberei.
Liebhabereien, sonderbares Wort! Oft bin ich dir in meinem Leben begegnet und habe dir nicht nachgedacht. Als aus der Liebhaberei wissenschaftliche Arbeit geworden war, kam es mir zum erstenmal in den Sinn, wie du eigentlich geringschätzig lauten möchtest und doch so manches Edles meinst. Wie manche Liebhaberei ist das einzige, was ein Mensch auf dieser Welt lieb hat und lieb haben kann!
Man erzählte uns Sagen und Märchen, und sogar Andersens Märchen gehörten zu meiner frühen Lektüre. Die Sage rankte sich aber bei uns Kindern lieber in das junge Gebüsch der Gegenwart als um die alten Bäume der grauen Vergangenheit. Dort war der Gegensatz zwischen ihr und der Wirklichkeit größer, die Wirkung war stärker, wo sie das Leben selbst zu bedrohen schien. Darum lasen wir gleichgiltig in den Märchenbüchern, hörten aber mit Grauen von dem kürzlich verstorbnen Bürgermeister von M., der Nachts ächzend einen Grenzstein, den er zu Unrecht versetzt hatte, wieder an seine Stelle schleppte, und hörten mit halb angenehmen Schauern den Boten Bender von Eichelberg erzählen, der Arzneien in tiefer Nacht über den Berg zu den Typhuskranken in Tiefenbach trug, wie ein Schatten neben ihm gewandert sei, der jedesmal zusammengeschrumpft sei, wenn Bender an Jesum dachte. In unsrer allernächsten Nachbarschaft hausten Geister, die sich nach den zuversichtlich vorgetragnen Erfahrungen der ältern Spielgenossen sogar in die Spiele einmischten. Ein beliebtes Spiel war Haschen in Verbindung mit Verstecken, wobei der an sicherer Stelle angelangte an die Mauer schlug und »Lupard« rief. Wir spielten es mit Vorliebe vor einer Gruppe von Felsgrotten, die aus der romantischen Gartenkunst stammten und eigens für Knabenspiele gebaut zu sein schienen. »Wenn man immer Lupard ruft, kann kein Geist hier schlafen,« sollte es dort einmal aus der Höhle zurückgerufen haben. Es fiel niemand auf, daß dieser Ruf nicht ganz im Geisterstil gehalten war, vielmehr etwas alltäglich klang. Eine Zeit lang unterließ man das Spiel. Als aber ein mutvoller Knabe doppelt laut sein Lupard in die Höhle hineingerufen hatte und keine Geisterbeschwerde erfolgte, nahmen wir es mit dem gewohnten Lärm wieder auf. Ich dachte bei mir im stillen: Die Geister sind wohl wie meine Mutter, die uns auch einmal ein »Stille!« zuruft, wenn es des Lärmes zuviel wird, dann aber, wenn es nichts hilft, lächelnd dem Treiben zusieht. Die Geistergeschichten endeten übrigens nicht immer so harmlos. Als ein Spielkamerad erzählt hatte, es käme vor, daß einem, der zuviel in den Spiegel schaue, eine schreckliche Fratze daraus angrinse, er habe eine gesehen, die sich mit den Fingern in den Mund gefahren sei, um denselben über das ganze Gesicht hin auszuweiten, traute ich mich wochenlang nicht, wenigstens nicht am Abend, in den Spiegel zu schauen. Damals fiel mir diese Enthaltsamkeit nicht schwer, weil ich den Spiegel ohnehin als lästiges Toilettestück auf eine Linie mit dem Schwamm und der Bürste stellte. Es war nur eine willkommne Vereinfachung, die Haare ohne Spiegel zu bürsten. Der schräge Scheitel kam dann freilich zickzackförmig heraus.
Zu den geheimnisvollen Angelegenheiten gehörten auch die Versuche, der Natur ins Handwerk zu pfuschen, die auf manchen Umwegen einige aus meinem Gespielenkreis endlich bis zur Pharmazie und zur Chemie geführt haben. Keine Rosenzeit ging vorüber, ohne daß von neuem wieder Rosenblätter und Wasser in lange schmale Flaschen gefüllt, wie man sie damals für Kölnisch Wasser benutzte, und in die Sonne gestellt wurden. Daß diese durch ihre sonderbare Gestalt auffallenden Flaschen nun nicht imstande waren, aus der Mischung etwas viel besseres als den natürlichen Rosenduft zu destillieren, kam uns gar überraschend vor und enttäuschte besonders lebhaft, wenn eigensinniges Verharren auf dem Wege dieser »Sonnendestillation« endlich nichts als ein höchst übelriechendes Produkt erreichte. Bedenkliche Richtungen schlug dieser Probiertrieb in etwas späterer Zeit ein, als er sich auf Feuerwerk warf. Ich weiß nicht, wie es kam, daß unsre Soldaten auf dem Exerzierplatz so viel volle Patronen verloren, aber es war ganz bekannt, daß man bei den Übungen im Feuer nur hinter einer Plänklerkette herzugehn brauchte, um da und dort eine volle oder nur halbgeleerte Patrone zu finden. Indem wir zusammentaten, füllten wir ganze Flaschen mit Pulver. Mit Speichel befeuchtet wurden daraus kleine Berge geformt, die unter Sprühen und Spratzen verbrannten. Als ich mich einmal zu nahe heranwagte und hineinblies, sprang mir der ganze Feuerteufel ins Gesicht. Es war am Tag nach meinem zwölften Geburtstag. Die Pulverexplosion warf mich plötzlich um einiges in meiner eignen Schätzung zurück, ich kam mir jünger und – dümmer vor, wiewohl mich die abgesengten Augenbrauen, Wimpern und Stirnhaare seltsam alt aussehen machten.
Zu den sonderbarsten Dingen gehört die deutliche Erinnerung an Träume, die ich in früher Jugend hatte. Das kann wohl nur damit zusammenhängen, daß wir sehr oft einen bestimmten Traum träumen, der dann auf einmal verschwindet. Als Erinnerung, die wir oft schwer von den Eindrücken der Wirklichkeit trennen, taucht er dann zu irgendeiner Zeit wieder auf. Ich muß zum Beispiel sehr oft vom Fliegen über einem weiten Wasser geträumt haben. Wenn ich nun über den Strom hinflog, fühlte ich die mächtige Anziehung des Wassers, teils fürchtete ich sie, teils war es ein süßes Gefühl, so hart darüber hinzustreifen. Dem bekannten Trick des Traumgottes, uns durch eine endlose Reihe von Zimmern zu führen, bis wir im letzten frei von Mauern in der Luft stehn, muß ich öfters zum Opfer gefallen sein. Und nun nach 1849, also in sehr früher Jugend, muß ich oft im Traum den roten preußischen Husaren neben seinem Pferd auf dem Marktplatz haben stehn sehen, den ich ein einzigesmal in Wirklichkeit dort erblickt hatte. So hat wohl auch in spätern Jahren jeder Mensch seine Traumgestalt, die ihn gleichsam begleitet, ein Schatten, der in Träumen ihm erscheint, wenn er ihn im Leben vielleicht nur ein einzigesmal gesehen hatte und im wachen Zustand seiner kaum jemals inne wird. Es ist sonderbar, wie von den Sternen der Kindheit, wenn der Tag des Lebens heller wird, so viele verlöschen, und gerade die in der Erinnerung fortleuchten, die einst am wenigsten beachtet worden waren. Gerade so willkürlich, wie die wirklichen Sterne aus der Tiefe des Weltalls, leuchten uns jene von Stellen an, die uns früher fast dunkel erschienen waren.
Daß es eine Natur gibt, die schöner ist als eine andre, habe ich erst spät eingesehen. Unsre Gegend hatte gar nichts voraus, aber ihre Natur sprach zu uns in ihrer lebendigen Sprache, die das Kind so gut wie der Greis versteht. Meine Bewunderung galt ganz gleich den Sternen am Himmel und den Blumen und Blümchen an der Erde. Der Wald, der uns auf drei Seiten der Stadt leicht erreichbar lag, war zwar ein beliebter Spielplatz, wurde aber weiter nicht bewundert. Dagegen machten die Getreidefelder, durch die so stille schmale Sand- und Graspfade zogen, einen tiefen Eindruck auf mein Gemüt, deren Grund das früh eingeprägte Dankesgefühl gegen den Geber des täglichen Brotes gewesen sein mag. Ich ging schon als Knabe, dem die Ähren um die Nase schwankten, mit Vorliebe durch ihr Silbergrau, wenn sie blühten und so eigentümlich dufteten, und durch ihr Gold, dessen bräunlicher Ton der Gipfel alles Reifens zu sein schien. Und die Kornblumen, Wicken und stolzen Kornraden standen nicht wie Unkraut in dem Felde, sondern wie Blumen in einem Garten. Leider entstellten wir zu jener Zeit die Poesie der Getreidefelder hartnäckig durch das Kauen der halbreifen Weizenkörner, die man tagelang im Munde umherwarf, bis ein kleines Klümpchen Kleber übrig war, aus dem durch geschicktes Kneten Luftbläschen mit Knall austraten. Dieses »Knallgummikauen« wurde auch in den Schulstunden fortgesetzt, weil und wiewohl es, mit Recht, schwer verpönt war.
Der Wald reichte hart bis an meine Vaterstadt, deren Nordseite halbkreisförmig in ihn hineingebaut ist. In ihm standen wundervolle alte Eichen, und weite, dichte Föhrenschläge, in deren Dickicht man die Welt vergessen konnte, wurden von schlanken, rotberindeten Föhren überragt. Zu meinen ältesten und reinsten Natureindrücken gehört ein Sonnenuntergang hinter diesen Föhren, an deren Rinde das Licht wie glühendes rotes Gold niederrann. Seltsamerweise fiel im Walde die Furcht vor Gespenstern ganz dahin. Die Waldgeister waren mir willkommen. Wie erweiterte sich mir die Brust, wenn ich das Helldunkel und den Reichtum des durch die Äste schimmernden Himmelsblaus mit keinem Menschen teilte. Es war ein freundschaftliches Vertrauen, das mich mit dem Walde zusammenband. Bot er doch der »nestmachenden« Phantasie des Jugendalters tausend Kammern und Winkel!
Mit zwölf Jahren lernte ich schwimmen; mein Verhältnis zum Wasser wurde dadurch ganz neu, denn wenn ich in das klare Naß tauchte, fühlte ich, wie mein Inneres klarer und reiner wurde, und mit den Augen wusch ich die Seele, die nun freier in die Welt schaute. Sonst hatten wir Knaben ganze Nachmittage am Wasser und im Wasser verbracht, uns mit dem Schlamm der Flußufer überzogen, bis wir Indianern glichen, dann in den warmen Sand der Abhänge eingegraben und die ganze Kruste untertauchend wieder abgewaschen. Jetzt suchte ich stille Stellen auf, und wenn ich gebadet hatte, wanderte ich wie ein neuer Mensch durch die wogenden Getreidefelder heimwärts und schaute zu, wie an dem gelblichen Westhimmel die Sonne schneller sank.
Zum Glück haben Kinder noch keine hohe Meinung vom Wert ihres Lebens, sonst würde die Sorgfalt, mit der ihre Eltern es umhegen, ihrer Eitelkeit schmeicheln. Ich bin zweimal hart am Ertrinken gewesen, doch wurde mir gegenüber kein Fall daraus gemacht, und die nähern Umstände sind mir deshalb auch nicht bekannt. Nur erinnere ich mich gehört zu haben, daß ich einmal ganz still einen Sandabhang am Rhein hinabgeglitten und versunken sei. Daß Kinder so lautlos verschwinden, ist eine große Gefahr. Ich bin selbst Zeuge gewesen, wie eine Frau über den Mühlsteg ging, hinter ihr ihr Mädchen von fünf Jahren; sie hört die vertrauten Kindesschrittchen nicht mehr, sieht sich um, und nur das Kopftüchlein des Kindes schwamm im Bach, das Kind war schon tief unten und kam nicht lebend wieder.
Den größten Abschnitt in dieser Zeit macht nicht die Schule selbst, sondern das Gefühl eines gewissen Herabsteigens in moralischer Beziehung als Folge des Umgangs mit andern Kindern. Der gescheite Knabe sucht seine Freunde am liebsten unter denen, die ihn anstaunen, weil sie unter ihm stehn, und unsre Schwachheiten entdecken wir nur denen gern, denen wir gleiche oder noch größere zutrauen. Wir steigen auch geistig und moralisch lieber bergab, als daß wir steile Höhen erklimmen. Es mochte im ersten oder zweiten Schuljahre sein, als ich meine Mutter sagen hörte: Ja, wenn du noch wärst wie in deinem vierten oder fünften Jahre, allein so brav wirst du dein Leben nicht mehr! Also das Paradies schon hinter mir? Da mir viel an dem lag, was meine Mutter von mir hielt, habe ich dieses Wort nicht vergessen. Eine andre Änderung machte sich erst allmählich fühlbar. Die kleine Seele wurde ganz langsam inne, daß das äußere Leben etwas von ihr wolle, immer mehr, womöglich sie selbst möchte sie ganz an sich heranziehn. Sie soll nicht länger mit sich allein bleiben. Die Schule klopft am härtesten mit dieser Forderung an, doch wird diese jahrelang hartnäckig nicht vernommen. Das Knäblein versteht diese Sprache noch nicht.
Nicht alles kommt zum Vorschein, was in einem Kindergemüt an Gutem und Bösem in wunderbarer Mischung kreist. Die Triebe, die in ihm liegen, und die Anregungen, die von außen kommen, begegnen sich wie die Ströme des steigenden Saftes in einem jungen Baume. Es gibt stille innere Kämpfe und Gärungen zwischen Schädlichkeiten und Heilmitteln, die die Natur selbst bereitet. In solchen unbewußten Vorgängen schwand unmerklich der Kindersinn, wie die Blüten fallen. Diese ganze Traumzeit verflog, als wäre sie in ein besseres Land zurückgekehrt, und die Gegenwart kam mir zum erstenmal ohne Blüte und Farbe vor. Zu derselben Zeit habe ich vielleicht zum erstenmal empfunden, was Langeweile, innere Öde ist.
Wie am treibenden Stock die Knospen bald da bald dort hervortreten, die eine von der Sonne gehegt aufbricht, die andre vom Frost getötet abfällt, so trieb nun meine junge Seele ihre Knospen, und zwar sowohl der Sonne als dem Schatten entgegen. Nur blieben diese lange geschlossen, fielen vielleicht bald ganz ab, während jene fröhlich aufblühten. Die Schule stand nun jahrelang gänzlich auf der Schattenseite. Keine wahre Lebensader lief nach ihr hin, das warme Jugendblut verbrauchte sich ganz in Spielen, Träumen, halb träumenden Versuchen zu selbständiger Tätigkeit und in der Anhänglichkeit an Elternhaus und Freunde. Die Wehmut der gebrochnen Freundschaft und das unbeschreibliche Glück, wenn sie wieder hergestellt wurde, das waren die Wellengipfel und Wellentäler dieses Lebensabschnitts.
Ich habe aus meinem ganzen ersten Schuljahre nur die eine Szene in ganz heller Erinnerung, als uns eine herrliche Bergkristalldruse gezeigt wurde. Die muß meine Liebe zu den Kristallen zuerst wachgerufen haben. Leid tat es mir nur, daß sie in einem so staubigen Glaskästchen wie eingefangen saß. Weil ich leicht lernte, stand ich schon zur Elementarschule wie später zur Universität: ich ergriff, was mir gefiel, und hielt mich an keinen strengen Gang. Was ich gelernt habe, ist selbst erarbeitet, die Schulen aller Stufen haben mich immer nur angeregt und mir Wege gezeigt, darunter auch Holzwege.
Erst die Schulaufgaben und dann das Spielen! war das erste Gesetz, das ich zuerst für grausam und mit der Zeit auch für unsinnig hielt. Denn da alles Spiel hieß, was nicht von der Schule vorgeschrieben war, so fielen in spätern Jahren auch die mit Leidenschaft betriebnen Naturstudien und die Privatlektüre unter dieses Gebot, und ich fühlte doch schon damals, daß in ihnen Leben und Fortschritt war, während sich die Schulaufgaben so oft wüstenhaft trocken, Paragraph für Paragraph durch die Lehrstunden hinstreckten. Wie öde kamen mir die Grammatikstunden vor, als ich schon angefangen hatte, aus Lessing und Schiller zu lernen, was an der deutschen Sprache gut und schön ist. Die Jugend kann so viel Widersprechendes in sich aufnehmen, weil sie es einfach zum andern stellt; wenn sie es erleben müßte, verwüchse es mit ihr zu einem Ungeheuer. Man bedenke doch, daß wir in einem bureaukratisch-monarchischen Kleinstaat aufwuchsen, wo schon Lockenhaar bei jungen Männern, ein Filzhut oder ein rotes Mantelfutter verdächtig waren, während die Schule allen Bewunderung für Aristides und sogar Brutus einimpfte, sodaß wir Schüler viel eher ein Verständnis zum Freistaat als zur Monarchie hatten, bei der wir an Nero oder Philipp dachten! Im Grunde war es gut, daß in den damaligen deutschen Verhältnissen Wirkliches und Gegenwärtiges für uns gar nicht in Frage kamen. Niemand von uns hatte einen lebendigen Staatsmann oder Feldherrn, und ich wenigstens hatte auch noch keinen Landtagsabgeordneten gesehen. Unsre politischen Gespräche konnten um so umfassender und vielseitiger sein, und während fast jeder von uns einen Verwandten hatte, der 1849 nach Frankreich oder Amerika als »Revoluzzer« geflohen war, oder der in Schleswig-Holstein oder Baden auf der andern Seite gefochten hatte, lebten wir in der Geschichte des Peloponnesischen Krieges oder der Gracchen oder höchstens, angeregt durch Schillers »Maria Stuart« und später Macaulay, in der englischen des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts. Der Geschichtsunterricht ging so schleppend, daß er nie über den Fall von Konstantinopel hinauskam; denn das war ein Kapitelschluß im Lehrbuch! Dabei wurde das Mittelalter so geistlos behandelt, daß ich eine Vorstellung von Konradin erst durch den zufälligen Fund einer Biographie seines Freundes Friedrich von Baden gewann, die ich verschlang. Als ich schon seit Jahren jede Jahreszahl und jeden Namen aus der Geschichte der alten Griechen innehatte, wirkte es wie eine blitzartige Erleuchtung auf mich, als ich zum erstenmal auf der Universität Ludwig Häusser die griechische und die deutsche Kleinstaaterei vergleichen hörte. Wenn man sagt: Die Schule ist der Markt der Knaben, hier lernen sie einander und das Leben kennen, so galt das für uns nur im beschränktesten Sinne: die Schule war nicht unsre Agora, höchstens unser Tauschmarkt, da bei uns sehr viel »gefuggert« wurde; der Markt des Lebens lag weit ab von unsern kahlen Wänden. Nur im Gewand der Dichtung griff mir damals die Geschichte ans Herz; in der Prosa des Lehrbuchs war sie absolut gleichgiltig. Ist das erstaunlich? War denn nicht Homer der erste Geschichtschreiber der Griechen? Und so bringen jedem Jugendgemüt nicht die Gelehrten, sondern die Dichter die Geschichte nahe. Für mich gab es viele Jahre kein Geschichtsbuch, das mir höher stand als Hebels Biblische Geschichten und die mythischen Partien in K. F. Beckers Weltgeschichte.
Ich will den freundlichen Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, nicht mit Schulgeschichten langweilen. Zur Kennzeichnung der Zeit genügt vielleicht folgendes. Als ich wegen Mangels aller Fortschritte und sichtlichen Ersterbens aller Teilnahme an dem Unterrichtsgang der Schule einer Privatschule überantwortet wurde, die den Ruhm hatte, auch die verkommensten Subjekte durch Prüfungen zu bringen, vernahm ich von deren erstem Lehrer das schöne Wort: Da man junge Hunde und Bären abrichten kann, braucht man an jungen Menschen nicht zu verzweifeln. Das war nicht gerade ermutigend; doch widersprach es nicht den pädagogischen Grundsätzen meines Vaters, der meine Einführung bei dem Direktor mit den Worten begleitete: »Der Bub ist gut, indessen wenn er nicht pariert, schlagen Sie ihn braun und blau.« Wiewohl nun dieser Direktor von berüchtigter Schlagfertigkeit war – von den Fortschritten der Technik begeistert prügelte er nicht mit dem Rohr wie die gewöhnlichen Lehrer, sondern mit einem kurzen Kautschukknüppel, dessen eigenhändige Herstellung er uns eingehend schilderte –, habe ich von ihm nicht zu leiden gehabt, sondern weiß ihm aufrichtigen Dank. Als Schulmann wird er wohl mittelmäßig gewesen sein, seine Unterrichtsstunden waren verworren, planlos; aber er hatte die Gewohnheit, von deren Gegenstand fast immer abzuschweifen, und aus seinen Erzählungen, die mit der Sache gar nichts zu tun hatten und eben deswegen uns doppelt fesselten, haben wir alle viel gelernt. Er war Pflanzen- und Insektensammler, begeistert für Physik und Chemie; dabei unterrichtete er in alten und neuen Sprachen. Man kann sich das Ragout seines Unterrichts denken; aber es mundete uns. Es kommt mir jetzt wie eine Parodie vor, daß wir ihm zum Geburtstag einmal ein Aräometer schenkten, das in einer Kanne voll Seifensiederlauge schwamm, die der Sohn eines Seifensieders beisteuerte. So sehr hatte uns seine Darstellung der Seifenfabrikation gefallen, die er in der griechischen Stunde an die Frage geknüpft hatte: Womit mögen die homerischen Helden den Staub des Kampfes gründlich abgewaschen haben? Wie aus einem dürren Stamm an unerwarteter Stelle ein grüner Schoß entspringt, so weckten diese Schilderungen und Besprechungen, die andern als Allotria vorkamen, in mir die Lernlust, und ich empfing von ihnen den Anstoß zu der Richtung des Denkens und Arbeitens, der ich mein Leben lang gefolgt bin. Plötzlich stürzte ich mich mit Leidenschaft auf die Naturgeschichte, und da ich mich darin von diesem Lehrer eifrig gefördert sah, tat ich ihm zuliebe auch in den andern Fächern das nötige, im deutschen Aufsatz sogar mehr als dieses. Als ich an einem Sonnabend Vormittag meinen Aufsatz »Jonathan und Patroklus« abgeliefert hatte und am Sonntag von meinem Vater vernahm, ein mit meinem Direktor befreundeter Geistlicher habe ihn gelesen und mit großem Lob davon gesprochen, mag sich wohl der allererste Keim der Befriedigung über einen literarischen Erfolg in mir geregt haben. Doch machte mich diese Anerkennung gewiß nicht eitel, denn ein sicherer Instinkt ließ mich fühlen, daß es sich in einem solchen Aufsatze doch nur um die Handhabung von Worten handle. Ja, wenn das Thema gewesen wäre, eine blühende Wiese oder die Verwandlungen des Oleanderschwärmers zu schildern, da hätten sich Tatsachen darstellen lassen, das wäre etwas gewesen! Da hätten sich auch Gefühle aussprechen lassen, die man wirklich gehabt hatte. Ich versuchte einmal, als ich von einem Aufenthalt in dem Heimatsdorfe meines Vaters zurückgekehrt war, zu beschreiben, wie schön es sei, aus dem Fenster auf den Apfelbaum zu steigen und aus dessen Krone das Rauschen des Baches von drunten her zu hören oder seine Wellen im Sonnenlicht blitzen zu sehen. Ich hatte die Kühnheit, den kleinen Versuch meinem Direktor zu zeigen, der mit besonderm Lob die Wendung bedachte: die Äpfel waren so groß, daß die Augen, die sie anschauten, unwillkürlich wuchsen.
Grübeln und Spielen gingen wie blauer und roter Farbenschimmer auf einem Käferflügel beständig ineinander über. Auch meine Gedanken über Religion glichen Seifenblasen mehr als irgend etwas anderm. So vergänglich waren sie auch im einzelnen, bleibend war nur das Dankgefühl gegen Gott den Schöpfer und die ahnungsvolle Ehrfurcht vor Gott dem ewigen Richter. Viel tiefern Eindruck als der heimische trockne Gottesdienst machte es, wenn man an einem sonnigen Sonntage »hinter« die Kirche ging und im weiten Feld unter Lerchengesang hinschritt, mit dem sich die Glockentöne ferner Dörfer mischten. Da fühlte man das Wehen eines Geistes, von dem in unsrer kalten, grauen Kirche kein Atem war. Der Religionsunterricht blieb vollkommen unfruchtbar im Dogmatischen, brachte uns dagegen in der biblischen Geschichte Kunde von großen Typen und Vorbildern menschlicher Entwicklung zum Guten und zum Bösen. Bisher hatte ich allsonntäglich die Grau in Grau, trüb und poesielos gezeichneten Bilder aus dem Alten Testament, die in die Galeriebrüstung der Kirche eingesetzt waren, ohne Gedanken und Gefühl angeschaut; sie sprachen so wenig verständlich zu mir wie das Knäufgeschlinge der korinthischen Säulen, in das ich vergebens Leben oder Sinn zu bringen suchte. Das änderte sich nunmehr, und zwar nicht bloß äußerlich. Ich hatte Gedanken, mit denen diese Gestalten zu beleben waren. Freilich nur eben, soweit sie Menschen waren. Gerade so erging es mir mit der Kirchengeschichte. Da gefiel mir, lange vor Dahn, natürlich das Heldenhafte an den Arianern, wie ich denn selbst an Christenverfolgungen und Ketzerverbrennungen nicht ohne ein geheimes Wohlgefallen vorüberging. Aber alle diese Religionsgeschichten interessierten mich doch nur so oder kaum so wie Romulus und Remus. Es war zwar stark, daß ein Bruder den andern erschlug, bloß weil er sein Mäuerlein übersprang, aber man konnte sich immerhin hineinleben. Jeder hatte Beispiele von dem unbegründeten Zorn des Jugendalters. Dagegen in den Wortstreit der Ausleger der Heilsbotschaften, wer lebte sich da hinein? Die Hauptsache war doch offenbar, daß uns diese Botschaft gesandt war, ihren Sinn mußte der am besten verstehn, der sie uns sendet, was die Menschen hineinlegen, ist Nebensache.
Für den Glauben fehlte mir alles Verständnis. Gerade weil ich glaubte, begriff ich nicht, was Glaube sei. Man sollte mit diesem Worte die Jugend nicht quälen, sie glaubt ja ohnehin mehr, als nötig ist, und zuviel bestimmten Glauben von ihr fordern, heißt sie zum Zweifel herausfordern. Die Jugend kann auch nicht den abgeklärten Glauben dessen haben, der einmal geglaubt hatte und nun aus dem Zweifel zum Wiederglauben emporsteigt, in dem er sich glücklich fühlt, einem Geber des Guten Dank zu wissen und überhaupt einen Herrn über sich zu wissen. Mir blieb Glaube ein leeres Wort, dessen Sinn ich erst zu ahnen begann, als die Sache selbst ins Wanken kam. Ich hatte an Geister geglaubt und diesen Glauben nie abgelegt, sondern, vor dem Spott meiner Genossen mich schämend, ihn verborgen. Warum nicht glauben? Ich ahnte, wie wenig wir wissen. In welchem meiner gelehrten Pflanzenbücher fand ich eine Auskunft darüber, wer die Pflanzen geschaffen habe? Die Wirklichkeit der Geisterdinge zu bezweifeln, schien mir ohnmächtige Verneinung. Glaube an Gott und seine Macht, und alles andre laß dahingestellt!
Durch den Umgang mit katholischen und mit jüdischen Schülern gewannen wir andern gelegentlich Einblicke in ein ganz anders beschaffnes Religionswesen, die uns zwar nicht zu Zweifeln an unserm eignen aufregten, aber doch mancherlei Perspektiven auftaten, in die man nicht ohne Behagen hineinschaute. Ich erinnere mich, daß es zwei Dinge waren, die mich anzogen und mir zu denken gaben. Das eine war die Heiligenwelt der Katholiken mit ihrem märchenhaften Glanz von Wundern, ihren schweren Leiden und den zahlreichen Beispielen von Heldengröße, das andre der Ernst, mit dem die Juden ihre Feiertage feierten. Daß Knaben, deren weltlicher Charakter uns so wohlbekannt war, vom Freitag Abend an keine Feder und kein Spiel anrührten, hatte doch etwas Imposantes. Man ahnte, daß etwas Großes dahinterstehe. Weniger eindrucksvoll waren die ungesäuerten Brote, die Matzes, die sie uns in der Osterzeit kosten ließen. Aber jedenfalls war auch das etwas ganz Besondres. Um jene Heiligengeschichten aber beneidete ich meine Mitschüler, die sie glauben durften. Das waren trotz ihrer Heiligkeit und Seligkeit Menschen, die ich verstand, mit ihnen konnte man leiden und selig werden. Der heilige Bernardin von Siena, in dessen Gegenwart kein Mitschüler eine unanständige Rede zu sprechen wagte, der heilige Rupert, der nie einen Menschen betrübte, der heilige Robert von York, der schon als Knabe den Ernst des gereiften Mannes zeigte, die heilige Balbina, die, ein Wunder von Schönheit, sich eine entstellende Halsgeschwulst anbetete, um ihre Schönheit mit makelloser Reinheit zu verbinden, der heilige Godrich, der als Landkrämer und Heiliger durch Irland zog, das waren alles ganz verständliche Erscheinungen. So konnte ich mir auch ganz gut denken, daß die heilige Johanna, die mit einem Korb und mit einem Salbengefäß abgebildet wird, wie eine von den Botinnen ausgesehen habe, die man auf den Dorfstraßen gehn sah, und daß die heilige Wilfhilde, die Tochter des Herzogs von Bayern, die die niedrigsten Magddienste verrichtete und ein schlechtes Gewand trug, als Bärbel oder Urschel um uns herumwandelte.
Es fehlte aber auch nicht an echt romantischen Zügen in diesen Legenden. Dem Kaiser zerbrach die Feder dreimal, als er das Verbannungsurteil des heiligen Basilius unterschreiben sollte, und im dunkeln Kerker des heiligen Quirinus erschien immer gerade um Mitternacht ein tröstliches Licht. Wie anmutig war doch die Geschichte vom heiligen Gotthard, der, als er in seiner niederbayrischen Heimat als Ministrant fungierte, einmal in seinem Chorröcklein die glühenden Kohlen herbeitrug, ohne es im geringsten zu beschädigen. Welches erhebende Vertrauen in dem mutigen Athanasius, der sprach: Auch dieses Wölklein wird bald vorübergehn! Und seine Verfolgungen gingen vorüber. Geheimnisvoll lautete es in den Legenden von der heiligen Katharina von Siena: sie sah künftige Ereignisse voraus und hatte die Kenntnis der Herzen. Als der grausame Domitian den heiligen Johannes in einen Kessel siedenden Öls werfen ließ, freute sich dieser seiner Qualen und stieg neu erfrischt aus der Glut hervor; das Wunder geschah vor dem lateinischen Tore, und Johannes heißt mit Bezug auf das Wunder »von der latinischen Pforte.« Das alles prägte sich mir tief ein, Zweifel kamen mir dabei gar nicht in den Sinn, und ich wundre mich nicht über dieses »Mitglauben«, da wir doch so viel andres leichtgläubig hinnahmen, was viel weniger groß und imposant war. Ich erinnere mich einer Unterredung in meinem protestantischen Familienkreis, wo der Legendenglaube getadelt wurde; zwar drang ich mit meiner Ansicht nicht durch, daß es schön sei, zu glauben, daß der heilige Thomas von Aquin, einer der größten Weisen aller Zeit, Unbekannten, die ihn angingen, aus reiner Demut ihre Lasten getragen habe, oder daß Gregor der Große aus Bescheidenheit aus Rom geflohen sei, um der Papstwürde zu entgehn, oder daß der heilige Ivo ein Buch zum Kopfkissen nahm, um immer wachbereit zu bleiben. Aber im stillen hing ich so gläubig wie irgendein Katholik an diesen Wundergeschichten und dachte oft und lange über die Sentenzen nach, die darin vorkamen, zum Beispiel: Wer Gott für sich hat, verwirkt nichts. Wenn ich mir überlege, was mir bis zum heutigen Tage die Freude an den Legenden frisch erhalten hat, so ist es die anziehende Mischung von leicht glaubbaren und deutlichen Geschehnissen des Alltaglebens mit wunderbaren großen Kundgebungen der unbegreiflichen Mächte des Himmels. Es gibt Begebenheiten, in denen sich die ganze Welt zu offenbaren scheint. Und diese gehören dazu.
Von dem, was das Leben wirklich ausmacht, wußte ich aber damals so wenig, daß ich mir im Rückblick auf jene Zeit wie einer vorkam, der am Strome hingeht, in den andre untertauchen. Dagegen fühlte ich mich im Leben der Natur immer heimischer. Da schwamm ich immer weiter hinaus. Kaum verging eine Woche, daß ich nicht eine neue Entdeckung machte. Ich meine damit weniger den Nachweis neuer Standorte von Pflanzen und dergleichen, auf die man oft noch in spätern Jahren stolz ist, als etwa den ersten Blick auf die Stelle, wo ein etwas rascherer Bach, auf dessen Boden weiße Kiesel wie unter Glas lagen, in ein breiteres Flüßchen mündete, dessen sumpfige Ufer dicht von Pfeilkraut und Kalmus umstanden waren. Sie blieb mir geheimnisvoll und unbeschreiblich interessant vom ersten Erblicken an und ist es durch meine ganze Jugend geblieben. Der Bach kam aus einem Walde, der sich weit hinzog, und der mir, da ich ihn damals nie betreten hatte, der Inbegriff von Öde, Einsamkeit, Wildheit war. Als ich ihn nun zum erstenmal betrat, sah ich gleich am Rande eine hohe Epipaktis, die stolze braunrot blühende Orchidee im Schatten alter Buchen stehn. Warum auch dieses Bild mich so ergriff, daß es noch heute klar in meiner Erinnerung steht, weiß ich nicht. Doch verstand ich von da an das Geheimnis der blauen Blume vom Grunde aus. Wanderte ich nach solchen reichen Stunden mit gefüllter Pflanzenkapsel heimwärts, mit Vorliebe auf einsamen Wiesenwegen, und alles ruhte bis auf die weißen Wolken, die, ununterbrochen sich verwandelnd, über mir mitzogen, so wäre ich ganz glücklich gewesen, wenn nicht der Hochmut, sich so allein freuen, so »selbst sein« zu können, sich geregt, eitle Gedanken geweckt hätte, die ich zurückdrängen mußte.
Dinge, die das Gemüt angehn, besprach man bei uns zuhause nicht, Gefühle hatten in den gewöhnlichen Zeiten keine Worte. Es erinnerte mich an den tiefen Brunnen eines hochgelegnen Dorfes über der Tauber, an dem ich an einem Gluttage vorbeikam; ich ging mit Leuten, die Kübel und Kannen trugen, den rauhen Weg hinauf. Warum schöpft ihr nicht Wasser aus dem Brunnen? Sie antworteten: Aus dem darf nur geschöpft werden, wenn die Not groß ist, Ihr seht, daß er verschlossen ist. Ich erinnere mich, daß mich sehr oft der Wunsch tief innerlich bewegte, meinen Eltern etwas Liebes zu sagen. Aber über den Neujahrswunsch und den Wunsch zum Geburtstage hinaus gab es nichts. Dieses Bedürfnis nahm sonderbare Gestalten an. Wir durften unsre Eltern mit Du anreden, wir hörten aber die Anrede »Sie« bei Bekannten, und ich bildete mir ein, daß ich sie lieber gebrauchte, hätte es auch versucht, wenn ich mich nicht geschämt hätte. Nicht als ob ich meine Eltern höher ehren wollte, sondern weil mir diese Ansprache edler vorkam. Empfindsame Kinder leiden gewiß oft schwer unter dem Mangel der Aussprache. Das Abschiednehmen war mir bei uns nicht traurig, es ging nichts von dem kurzen Lebewohlsagen und Händedruck in mein Inneres; aber der Moment des Alleinseins danach ergriff mich tief. Es kam mir dann jedesmal der Gedanke: Wie, wenn nun Vater oder Mutter in deiner Abwesenheit wegstürbe? Es war doch so gut wie kein Abschied, den du genommen hast. Oft dauerte es Tage, bis ich über diese trüben Gedanken wegkam, indem ich sagte: Man kann sich doch nicht bei jeder Entfernung fürs Leben verabschieden. Immerhin hat diese Abhärtung den Vorzug gehabt, daß wir nie Sentimentalität für etwas Verdienstliches, wohl gar Geheiligtes hielten.
Da ich in einer engen Welt aufgewachsen war und mich in ihr immer mehr auf mich selbst konzentriert hatte, war ich den Forderungen des äußern Lebens in keiner Weise gewachsen. Unter solchen Umständen wird eigner Sinn Eigensinn, eigner Wille Eigenwille, und die Vorurteile schießen viel rascher ins Kraut als die Urteile. In selbstgerechter Härte verurteilte ich vieles, was ich nicht erfahren hatte, und begab mich aber dann doch mit der Ruhe der Unerfahrenheit in jede neue Lage. Die Unruhe kam immer erst, wenn ich es anders fand, als ich gehofft hatte, und immer fand ich es anders. So brachte jede Veränderung eine Erschütterung in mir hervor, denn ich war eigentlich geneigt, alles, was ich kannte und sah, so aufzufassen, als ob es immer so gewesen sei und so bleiben müsse.
Es war ein entschiedner Mangel der Erziehung in unsern kleinern Bürgerkreisen, daß die Kinder nicht einen Fonds von Lebensregeln, ich möchte sagen, von Rezepten, wie man sich in bestimmten Fällen zu verhalten habe, mitbekamen. Das schwach entwickelte gesellschaftliche Leben ließ es an Übung im freien Verkehr mit Älteren, Höhergestellten und Damen fehlen. Selbstbewußte Naturen bilden sich zuletzt ihre Gesetze. Auch ich arbeitete mich aus dem Gewirr von Scheu und Stolz etwas heraus, das mich am frischen Ausschreiten hinderte, aber ich bin erst viel später, als ich »etwas« geworden war, ganz die nutzlosen verspäteten Selbstvorwürfe wegen Blößen losgeworden, die ich mir gegeben zu haben glaubte. Es war ein großer Fehler, daß sich meine Entwicklung früh auch in gesellschaftlichen Dingen nach innen wandte. Weil ich an einem wichtigen Wendepunkte mit mir selbst fertig geworden war, glaubte ich bestimmt, den richtigen Weg auch im Verkehr mit andern finden zu können. Darin irrte ich aber sehr.