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Ja, ein Weh gibts, das man nicht ertrüge,
Wenn es nicht sein eignes Maß zerbräche.
Friedrich Hebbel
Ich liebe zwar sehr den Quarkkuchen und habe ihn geliebt, solange ich denken kann, aber es ging heute nicht recht vorwärts damit. Ich hatte mir vorgenommen, drei Stücke davon zu essen, nun war ich noch am ersten. Die Bissen waren so sonderbar schwer, ihre Süße so aufdringlich, fast anwidernd, und sie schienen im Munde zu wachsen. Ich hatte, als man den Kuchen hereintrug, wie immer, das herrliche kräftige Braun seiner Oberfläche, in dem eine verborgne Glut ist, und als man ihn anschnitt, das blühende Gelb seiner Innenseite bewundert, aus dem purpurschwarze Rosinen fröhlich herauszwinkerten. Jedesmal, wenn ich einen solchen Kuchen sehe, muß ich an kostbare Orchideen denken, bei denen eine ähnliche Kombination von tiefen, satten Farben um Braun und Gelb herum vorkommt. Der Vanillegeruch mag dazu beitragen. Die Vanilleschote kommt ja von Orchideen. Heute vermochte ich gar nicht so weit hinauszudenken. Ich hatte vielmehr eine Vision ausschließlich in die Höhe: das grautapezierte Zimmer, worin ich stand, hatte seine Decke verloren, seine Wände waren ungeheuer weit nach oben gewachsen, die blauen Wellenlinien darauf schlängelten sich ins Unendliche hinaus und brachen endlich nackt wie Drähte in der Luft ab, ich kam mir wie in einem Schornstein vor, der oben nicht ganz fertig ist; und richtig, nun schauten auch von ganz weit oben her die Sterne herein, von denen ich gelesen hatte, daß man sie bei Tage durch einen Schornstein erblicke. Je höher das Zimmer wurde, desto langsamer ging es mit dem Quarkkuchen. Diese Vision schnürte mein ganzes Ich und damit natürlich auch meine Kehle zusammen. War es ein Wunder, daß mir plötzlich zwei heiße Tränen über die Wangen liefen, da ich fühlte, wie ich immer länger und schmäler wurde? Es legte sich mir jetzt auch eine sonderbare Schwere auf die Brust und den Leib, und ich dachte: So mag es einem nassen Handtuche sein, das von den kräftigen Händen einer Waschfrau ausgewunden wird. Da meine Wangen jugendlich gewölbt waren, flossen die Tränen mit starkem Gefäll ab, sie fanden zum Glück keine Höhlungen, wo sie verweilen, und keine Bartstoppeln, an denen sie Tautropfen spielen konnten; es gelang mir, sie mit dem Restchen Kuchen, das ich gerade in der Hand trug, aufzuhalten, und dieser letzte Bissen, seltsam zu sagen, schmeckte mir besser als die andern. Das hing wahrscheinlich damit zusammen, daß mir gerade eben die Erinnerung an einen Satz kam, den ich irgendwo in einem Heldenbuche gelesen hatte: er verbiß den Schmerz, schluckte die Tränen hinunter und nahm sich vor, den Kampf mit dem Leben mutig aufzunehmen. Dem wollte ich nachleben, und zunächst gelang mir der erste Schritt: das Salz meiner Tränen wohlschmeckend zu finden.
Ich stand an einen eisernen Ofen gelehnt, der an dem warmen Herbsttag eine wohltuende Kühle abgab und kräftig nach altem Rauche roch. Beides empfand ich als Stärkung meines Entschlusses. In der andern Ecke des niedern grauen Zimmers saßen auf dem Ledersofa meine Eltern, und ihnen gegenüber ein älterer Herr mit schraubenförmiger Hausmütze auf den silbergrauen Löckchen, und eine alte Dame, in deren Gesicht mir nur die drei Erhebungen der Backenknochen und der Nase auffielen, die fast in einer Linie lagen. Es schien mir eine erwünschte Ablenkung von der unersprießlichen Vertiefung in die Züge dieser Dame zu sein, ihr Gesicht als Landkarte aufzufassen, aus der der Hohentwiel, der Hohenstoffel und der Hohenhöwen als drei markante Erhebungen herauswuchsen, während der ziemlich breite Mund mit einem Zahn, den man Mainau oder Reichenau nennen konnte, den Bodensee vertrat. Die vier Leute waren offenbar in großer Verlegenheit. Die lieben faltigen Züge meiner Mutter schimmerten von Tränen, mein Vater schaute ernst, fast grimmig drein, noch ernster, wenn sein Blick auf mich fiel, während meiner Mutter, wenn sie mich anschaute, eine solche Mischung von Heiterseinwollen und hilflosem Schmerz im Gesicht stand, wie ich nie etwas gesehen hatte. Beide hatten noch ihr erstes Stück Kuchen auf dem Teller, meine Mutter hatte noch nicht ihr Glas des zweifelhaft gelblichrötlichen Weins angerührt, den man in jener Gegend Schieler nennt. Diesen beiden Menschen war es offenbar geradeso unbehaglich zumute wie mir selbst. Vergeblich wollte mich der realistische Gnom, der alles sehende Portier am Tor meiner Seele, darüber täuschen, der mich hieß, doch die Zusammensetzung der schraubenförmigen Hausmütze des alten Herrn aus keilförmigen gelben und grauen Tuchflecken näher zu erwägen. Ich versuchte es, aber die Augen flimmerten, und der lang zurückgehaltne Druck auf der Brust machte sich in einem lauten Seufzer Luft, dem neue Tränen folgten.
Fritz, gehn Sie einmal hinüber in die Apotheke, schaun Sie sich um, es ist ganz interessant, hörte ich eine Stimme aus der Tiefe des Bodensees. Ich folgte der Aufforderung, doch zögernd, nicht aus gnomischem Zweifel an der Interessantheit dieser Umwelt, sondern weil ich deutlich fühlte, es halte mich ein Band an die alte Frau, die dort weinend in die Sofaecke zusammengesunken war; es mußte reißen, wenn sich die Tür zwischen uns schloß. Ich hatte die Hand auf der Türklinke, da ließ das Band sich nicht weiter dehnen, ich fühlte, daß es in diesem Augenblick kein höheres Glück für mich gab, als meine Tränen mit denen meines alten Mütterchens zu mischen, und als dürfte ich dieses Glück nicht von mir stoßen. In einem Augenblick lag ich dort vor dem Sofa, das Gesicht auf ihren Knien, und aller Schmerz war weg, als ich diese lieben Hände fühlte, die sich an Wangen und Ohren überzeugten, daß ich es sei. Ich glaubte auch einen Augenblick die schwere Hand meines Vaters auf meinem Haupte zu fühlen, die ich wohl kannte; aber sie zog sich rasch wieder zurück. Ich dachte nichts als: nicht von hier weggehn, beisammen bleiben, so kniend oder kauernd, selbst hundeartig unter dem Sofa, nur bleiben. Es dauerte aber leider doch nicht lange, da stand ich wieder aufrecht, mein Vater und meine Mutter hielten meine Hände in den ihren, die Schraube und die Landkarte waren verschwunden, ich weinte nicht mehr, doch war es mir viel weher zumute, so wie wenn man das Wort: Ich meinte, ich müßte vergehn, wörtlich nimmt. Ich hörte Ermahnungen und versprach, was man wollte, aber in meinem Innern wunderte ich mich, wann ich eigentlich vergehn, versinken sollte.
*
Unser Land besteht aus gelblichem Keupersandstein, der ziemlich weich, und aus schiefrigem Ton, der sehr weich ist; deshalb steigt man beständig rundliche Hügel hinan, die nicht sehr hoch, und breite Mulden hinab, die nicht sehr tief sind. In den Mulden gehn stille Bäche unter Erlen über grüne, wohldrainierte Wiesen, an ihnen ziehn sich Dörfchen von mäßiger Größe hin, an den Hängen liegen die Felder, und oben stehn dunkle Wälder mit ganz geraden Rändern. Es ist eine weiche, liebliche Welt, für den Menschen wie gemacht, dem sie keine großen Beschwerden entgegensetzt, und diese Welt besteht wieder aus ebensovielen kleinen Welten, als Dörfer sich um Kirchtürme gesammelt haben, jede von der andern so weit entfernt, daß sich die Herren Pfarrer und andre, die übrige Zeit haben, bequem an schönen Nachmittagen besuchen können. Oben auf den Höhen laufen die bequemen Landstraßen, unten in den Tälern die lauschigen Fußwege, die diese kleinen Welten untereinander und mit der weitern Welt draußen verbinden. An den Landstraßen stehn große Obstbäume und längs den Fußwegen an den Bächen Erlen, deren Blätter fast schwarzgrün und glänzend sind, und wo Wege über Wiesen führen, Hecken, die Brombeere und Waldrebe dicht übersponnen haben. Es liegt in der Natur eines solchen Landes, daß es viele idyllische Winkel hat, und die Menschen, die sich darin angesiedelt haben, haben viele Jahrhunderte lang dazu beigetragen, solche Winkel zu hegen und zu vermehren. Sie wissen, daß das schön ist und wohl tut, reden aber nicht davon; es muß so sein.
Als ich unter dem großen Nußbaum oben auf der Höhe stand, die die Landstraße überschreitet, und den grünen Stellwagen in einer Staubwolke hinunterrollen sah, der meine Eltern von mir wegtrug, empfand ich das Menschenfreundliche dieser Landschaft nicht sogleich, meinte vielmehr zu fühlen, daß dieses Hinunterrollen besonders grausam sei. Hätte ich dem Wagen auf ebner Straße lange nachschauen können, wäre die Trennung leichter gewesen. Aber so mußte er im Nu in der Mulde dort unten verschwinden, man konnte es berechnen; und nun rollte er wohl schon in dem Dorfe, dessen Turmspitze ich über den Bäumen noch eben auftauchen sehe. Aber schon meinen ersten Blick, als ich mich wandte, um dem Dorfe zuzuschreiten, das meine Heimat für Jahre sein sollte, traf ein versöhnendes Bild: ein hohes Kreuz aus Stein, ohne den Gekreuzigten zwar, aber mit einem Weihespruch auf dem Sockel, und auf dem Rand des Sockels stand ein weißes geblümtes Töpfchen mit einem Strauß der lilafarbnen kleinen Astern, wie sie in Strichen dieser Gegend im Herbste blühn. Dieses einfache Kreuz mit seinem frommen Spruch und der bescheiden schönen Opfergabe irgendeines kindlichen Gemüts machte damals einen großen Eindruck auf mich, und auch heute noch steht es in meiner Erinnerung als ein Sinnbild der Erhabenheit eines einfachen Glaubens, der nicht viel Schmuck und Farbe nötig hat. Auf der andern Seite des Weges ging es eben in einen kleinen Steinbruch hinein, wo schöne gelbe Platten lagen. Ich setzte mich so, daß kein Vorübergehender mich sehen konnte, während mir der Blick in den Westen offen war, wo eben die Sonne an einem ganz reinen Horizont Abschied nahm. Nur mildes Gold färbte den Abendhimmel, es war kein Sonnenuntergang mit Feuerwerk. Und so färbte sich nun auch das blaue Gewölbe über mir weißlich, und die Wälder und die Felder wurden langsam blässer und dann schattenhaft und dunkler, ohne daß es doch eigentlich gedämmert hätte. Es war fast mehr Sonnenaufgangs- als Sonnenuntergangsstimmung, wie sie eben an schönen Herbstabenden manchmal zu erscheinen pflegt.
Ich wüßte heute nicht zu sagen, was daran mit der Stimmung in meinem Innern harmonierte. Den heißen Augen und Wangen mag die stille Abendluft wohl getan haben, die allmählich kühler wurde, und daß die Nacht so zögernd kam, mag als Hinausdehnen dieses Tages gefühlt worden sein, denn der morgen kommende war ja der erste in der Fremde.
Der erste Abend in einem fremden Hause gehört für ein junges Gemüt zu den geheimnisreichsten Erlebnissen. Was mag alles in diesem Dunkel liegen, das zuerst aus Büschen und Baumkronen herüberschaut, dann ins Haus kommt, immer dichter durch Gänge und Türen zieht und durch die offnen Fenster in breiten Massen aus dem frühen Herbstabend hereinfließt? Wenn dieses junge Gemüt wund ist, gibt es nichts Lindernderes als den Schleier, in den sich Abends die fremde Welt hüllt, denn er legt eine Wand um das Gemüt; die Fremde bleibt draußen, sie berührt mich nicht mehr, sie läßt mich endlich, endlich allein mit mir. Wie kühlt das die Augen, so weit offen in ein Dunkel zu schauen, wie schwinden die Entfernungen, die mich von den Lieben trennen, wenn alles das Nächste und Nahe hinuntergesunken ist, das sich sonst zwischen uns drängt!
Heimweh! Wer dich nicht kennt, wie vermöchte der die Tiefe der Schmerzen zu erfassen, die du bringst? Unmöglich kann er sich eine Vorstellung von dir machen, so wenig, wie sich jemand die Liebe »einbilden« kann, der sie nicht erlebt hat. Heute, wo lange, lange mein Heimweh hinter mir liegt, unter soviel andern Lebenserfahrungen fast begraben, freue ich mich, auch dieses Leiden durchgemacht zu haben. Wohl ist diese Freude keine stolze Freude, denn, um offen zu sein, besiegt habe ich das Heimweh nicht, es verließ mich einfach eines Tages, als es meine Seele wie ein Vampir ausgesogen hatte; aber dieser Tag leuchtet wie ein ewiger Sonnenaufgang in mein Leben, und das frohe Licht seiner Erinnerung wird mir nie verblassen.
Ich bin niemals tränenreich gewesen, aber weiß der Himmel, wie es kam, ich hatte damals trocknen Auges beständig das Gefühl zu weinen, doch ging dieses Weinen nach innen, und mein ganzes Wesen wurde vertränt. Mein Auge blickte trüb, die Welt lag so sonderbar bläulich, so einförmig und einfarbig vor mir, sie war mir so gleichgiltig, ich kam mir wie in Wasser gesetzt vor. Wenn ich sprechen sollte, legte sich mir ein eiserner Ring in die Kehle. Ich konnte jedoch handeln, und da mich mein junger Beruf dazu zwang, wurde ich glücklicherweise jeden Augenblick inne, daß ich noch ein Mensch von Fleisch und Bein, kein tränendurchfeuchtetes Gespenst sei. Ich richtete nun mein Leben so ein, daß es von Morgen bis Abend in demselben Rahmen und denselben Zeitabschnitten dahinfloß wie das meiner Lieben in der Heimat. So weit es möglich war, begleitete ich sie im Geist zu allen Genüssen und Arbeiten des täglichen Lebens, stand mit ihnen auf und setzte mich mit ihnen zu Tische, weilte in ihren Zimmern und wandelte in ihrem Garten. Ich begann nichts, ohne sie im Geist zu fragen, und vollendete nichts, ohne es ihnen in Gedanken vorzustellen und mich ihres Urteils zu freuen. Wenn etwas von Westen herüberhallte, klang es mir wie ein Gruß, ich horchte den ganzen Tag in ihrer Richtung hinaus und ließ Gedanken über Gedanken in den Abendhimmel steigen. Dabei machte ich eine sonderbare Erfahrung. Ich hatte nie gewußt, wie müde die weithin hallenden Töne in solchem Wellenlande klingen. Der Westwind trug aus dem Hardtwald dann und wann einen Schuß herüber, der dem Reh, das er traf, scharf ins Ohr geklungen haben mochte; zu mir kam er verhallend, fast verhauchend, wobei mich die verhallende Melodie eines alten Liedes umsummte: Vom Eichenwald die Stimme schallt, so fern, so fern, so fern. Und so flog das Rasseln der Eisenbahn, auf deren Lokomotive sich meine Gedanken schwangen, um sie immer und immer wieder heimwärts zu lenken, wie eine Kette von müden Windstößen widerwillig hoch durch die Luft, und jeder Raubvogelruf klang wie ein Klagen. Nahrung für mich! Das Fädlein Fremdsein und Alleinsein fand kein Ende; ich spann zu allen ruhigen Stunden daran fort, es war ein düsterschönes Gefallen an diesem planlosen Phantasieren, das mich selbst immer tiefer einspann und alle Menschen um mich her draußen ließ, während dieselben Fäden, die ich mir ums Haupt zog, die Bäume und die Pflanzen, die Wolken und die Sterne mit umspannen und an mich heranzogen. Dieses willkürliche Aussondern des Nahen und Heranziehen des Fernen, dieses Vergesellschaften und Befreunden mit einer fernen reichen Welt war nun im Grunde doch nur ein beschönigendes Ausstaffieren der selbstgewollten Einsamkeit. Aber es war immerhin ein Sichverbinden mit einer lebendigen Wirklichkeit, das mir manchmal das Gefühl eines unerschöpflichen Reichtums gab. Ich ahmte den jungen Wordsworth nach, von dem ich einmal gelesen hatte, er habe in seiner träumerischen Periode eine solche Kraft des Sichhinausversetzens aus der Wirklichkeit gehabt, daß er auf Spaziergängen plötzlich einen Baum umarmte habe, um sich zu versichern, daß er noch in der Welt sei. Das gelbe Blatt, das nur durch die Herbstluft zuschwebte, sagte: Siehe die reiche Welt um dich her, öffne deine Seele, sie ist dein.
Die Welt war in dieser Zeit voller Wunder für mich, und ich hätte insofern glücklich sein können, als ich jede halbe Stunde einen Schatz heben konnte. Jedes späte verkümmerte Gänseblümchen am Wege, jedes verwehte Herbstblatt, das einen roten Fleck trug, schien mir zu sagen: Ich bin für dich da, staune mich an, pflücke mich, trage mich in deine Schatzkammer. Solcher Wunderglaube ist nur für den, der ihn hegt, und wehe ihm, wenn er Kunde davon über den engsten Bereich seines Seelenlebens gelangen läßt. Als einst ein Glas hellgelben Weines vor mir stand, bei dessen kristallnem Glanz mich der Gedanke befiel, ob das wohl dieselbe Farbe und dasselbe Licht sei, die der liebe Gott in den Topas gelegt hat, hob ich das Glas, um dieses Feuer gleichsam mit den Augen zu schlürfen. Aber rasch setzte ich es nieder, als die Stimme der Schraube scheltend über den Tisch klang: Der Wein ist dir wohl nicht gut genug, daß du ihn so zweifelnd anschaust? Zweifel, o Gott! Nichts war mir in diesem Augenblick ferner als Zweifel; danken hatte ich dem lieben Gott wollen, daß er etwas so Schönes geschaffen hat. Aber ich konnte davon nichts verlauten lassen, mußte schweigen. Und da mir nun das Herz in der Kehle schlug, brachte ich keinen Tropfen hinunter, was mir nun erst recht übel gedeutet wurde. Und so kam es, daß ich zum Dank für mein Anstaunen des Wunders des Schöpfers im gelben hellen Wein längere Zeit keinen Wein mehr zu sehen bekam. Ich hatte, wenn die andern ihre Gläser leerten, Zeit, darüber nachzudenken, daß sich der Urvater Noah einer lebhaftem Anerkennung seiner Weinfreude erfreut hatte als ich, und da ich gerade von dem Nachteil gelesen hatte, worin die Epigonen gegenüber den Vorfahren zu sein pflegten, fühlte ich mich als Epigone, fand Wort und Stellung schön und sog daraus Trost für »entgangnen« Genuß der Kristallhelle des Weines. Wie, dachte ich, wenn ich nun erst der Schraube sagen würde, ich verzichtete gern darauf, den Wein zu trinken, wenn man mir erlaubte, mich nur an seiner Farbe zu erfreuen wie an einem glänzenden Kristall? Ich glaube, sie hätten mich für einen Narren gehalten.
Es war ein seltsames Doppeltleben, von dem ich zwar recht wohl fühlte, daß es, wie alles Doppeltselige, nicht bestimmt war zu dauern, in das ich mich aber für den Augenblick um so tiefer einzuspinnen strebte. Es war eine höchst unbillige, ja eine unkluge Teilung meines Innern: das Beste an die Ferne, den trüben Rest an die Nähe. In diesem Alter ist das Gefühl der Pflicht schwach entwickelt, sonst hätte diese sich einer solchen Teilung widersetzen müssen. Aber so kam es, daß ich alles tiefe Fühlen und alles Mitdenken und Miterleben mit Seelenanteil der Heimat vorbehielt, mit allem mechanischen Tun, aller Handwerksmäßigkeit, allem Auswendiggelernten meine nächste Umgebung abspeiste. Die ganze Liebe ins Erinnern, sodaß für das Tun des Tages nichts mehr übrig blieb: das war die kurzsichtige und selbstzerstörende Losung, die der Gegenwart gleichsam das Blut entzog, um es einem Schatten zu opfern, der dadurch doch kein Gegenwartsleben gewinnen konnte. Welche Torheit, dieses Auswandern der Seele, die mit Schatten in der Ferne lebt, während sich die Gegenwart entseelt, blutleer, entschlußarm hinschleppt. Es ist eigentlich ein Spielen mit dem Besten des Lebens.
Das »Wer nie sein Brot mit Tränen aß« ergreift mich, wenn ich es lese oder höre, heute wie am ersten Tag und wird nie seine Wirkung verlieren. Doch meine ich, wenn ein Dichter das Elendgefühl gesungen hätte, das uns vor dem Tageslicht bangen, das uns den Morgen verwünschen und die Nacht segnen macht, das uns darum das Verlassen des Lagers wie ein Hinaustreten aus warmer schützender Hütte in einen stürmenden Wald voll Widerwärtigkeiten und Gefahren fürchten läßt, er würde aus der Tiefe von noch viel mehr Herzen herausgesprochen haben und von noch viel mehr verstanden worden sein. Dort hängen die Kleider, sieh sie nicht an, du hast es aufgegeben, andern Menschen zu begegnen; hier liegt die angefangne Arbeit, berühre diesen Sisyphusstein nicht, er wird zurückrollen, wie du ihn auch bewegst; die Bücher schlage nicht auf, sie wollen dich deine Lage vergessen machen, und du fühlst dich doch nur sicher, so lange sie dich umgibt; vor allem aber trete nicht vor den Spiegel, der dich höhnend daran erinnert, daß und wie du wirklich bist, und du möchtest doch alles vergessen, was dich angeht, möchtest nicht wirklich und jedenfalls so nicht wirklich sein. Es gibt kein Heil als das Bett, wo du dem Schicksal die kleinste Angriffsfläche bietest; es sind Augenblicke, wo du dich nicht einmal zu strecken wagst; gekrümmt zu liegen, die Decke über die Augen gezogen, das gibt das letzte Gefühl von Sicherheit.
Eine alte Landapotheke war noch nach der Mitte des vergangnen Jahrhunderts eine der altertümlichsten und barocksten Einrichtungen weit und breit. Viele von den Herrschaftssitzen, deren es in unsrer Landschaft sehr viele gibt, waren im Vergleich damit modern. An und für sich ist eine Apotheke ein buntes Wirrwarr von Büchsen und Gläsern, Kisten und Flaschen, und der hundertfältige Inhalt zahlloser Gefäße besteht bald aus uralten Pflanzen- oder Tierstoffen, nach denen kein vernünftiger Mensch mehr fragt, bald aus den modernsten Präparaten, die tödliche Eigenschaften hinter dem reinlichsten Vorhemd bergen. Die schwarzen Totenköpfe, die auf viele von diesen Behältern gemalt sind, die Aufschriften Gift! und Vorsicht! vermehren die Schauer, die in den Räumen der Apotheken walten. Nun war aber damals eine Zeit, in die noch die obsoletesten Arzneimittel, der Zeit der Goldmacher und Wunderdoktoren hineinreichten. Man zeigte mir in einem alten irdnen Topfe von der plumpsten Gestalt braune Erdstücke mit anhängenden Leinwandfetzen als Mumia vera, und in einem lavendelgefüllten Glase steckte eine weißbäuchige Eidechse, trocken wie Papier, Scintus marinus; auch Hechtkiefer und Kellerasseln waren in Gläsern aufgestellt. Man zeigte mir lachend getrocknete Schlammhäufchen von der Straße, die mit geschmolznem Schwefel dünn überstrichen waren, und nannte sie Sulfur caballinum, Roßschwefel; früher hatte diesen Namen eine unreine, billige Schwefelsorte getragen, und da es jetzt nur reinen Schwefel zu kaufen gab, kam man auf diese billige Art der fortdauernden Nachfrage nach unreinem Schwefel nach. Der Schinder verkaufte uns das halbflüssige grauliche Hundefett, Abfall der Hundebraten, die er sich schmecken ließ, und wir befriedigten damit den Wunsch der Bauern nach Armesünderfett, Menschenfett, Affenfett, Katzenfett, Bärenfett. In staubigen Winkeln standen Windöfen und Retorten, in denen vielleicht einst der Stein der Weisen geglüht oder die Muttertinktur aller Heilsäfte zum Lebenselixier digeriert, gekocht und destilliert worden war. Täglich wurde gestoßen, gerieben, gehackt, geschnitten. An einem der ersten Tage wurde Benzoesäure sublimiert: man erhitzte köstlich riechendes Benzoeharz in einem eisernen Topfe, dem ein Hut aus Papier aufgeklebt war, in dessen Innerm nach dem Erkalten sich ein dichter Schnee von seidenglänzenden Kristallen angesetzt hatte. Manchmal wurde ein großer Windofen ins Freie getragen, wo dann übelriechende Gase entwickelt oder Stoffe hergestellt wurden, deren Bereitung mit Explosionsgefahr verbunden war. Dazwischen durch wurden die Arzneien bereitet, wie die Rezepte der Ärzte verlangten, viele durch Kochen, in einige kamen höchst kostbare Stoffe, in manche Gifte, bei deren Handhabung und Abwägung die größte Vorsicht nötig war. An sonnigen Tagen wurden große »Hürden« mit frischen Blättern, Blüten und Wurzeln, die trocknen sollten, ins Freie getragen. Es war ein beständiges Regen und Tun. Und da dieses alles ganz auf das Wohlsein der Menschen gerichtet war, hätte man glauben sollen, es wäre ein höchst ideales begeisterndes Tun gewesen. O nein! Es schwebte vielmehr eine Mischung von Geschäftsmäßigkeit und Ironie darüber. Der Apotheker hat das Gefühl, dem Arzt über die Schulter zu sehen, hat er sich doch in langjährigem Verkehr mit den Kranken selbst eine gewisse Kenntnis von den Übeln erworben, die mit seinen Arzneien geheilt werden sollen, und er ist von der völligen Bedeutungslosigkeit vieler Verschreibungen vollkommen überzeugt. Kleine Übel kuriert er selbst, und hauptsächlich ist er immer bereit, an sich selbst mit selbstbereiteten Mitteln zu doktern. Irgendeine Mixtur ad libitum zusammenzusetzen und zu kosten, wird ihm Bedürfnis, und er läuft Gefahr, zunehmend mehr Alkohol dazu zu verwenden. Man erzählt sich mythische Geschichten von Apothekern, die ihren eignen Alkoholvorrat bis zum Seifenspiritus und noch übler schmeckenden geistigen Getränken ausgeleert haben. Doch weg damit! Lieber will ich mich an eine eigentümliche Art von Poesie erinnern, die dieses geschäftige Treiben mit kleinen und zum Teil nichtigen Dingen gleichsam an den äußersten Rändern umwitterte, glitzernd mit spielendem Licht anstrahlte. Ich meine die Poesie der Wichtigtuerei. Wenn ich ein paar Jahre später auf der Kasernenfensterbrüstung saß und meinen Faschinenmessergurt mit Schmierlack polierte, daß man sich in dem Lederriemen spiegeln konnte, hatte ich dasselbe Gefühl von Liebe, die man in etwas Unbedeutendes hineinlegt, das man vor sich erhebt, bis es bedeutend wird; dann strebt eine lebendige Faser aus unserm eignen Wesen zu diesem Ding hinüber, und aus ihm senkt sich eine ähnliche in unser Herz, und wir hängen dieses Herz an einen Ledergurt oder einen Messingknopf oder nun gar an den Winkel zwischen Fuß und Knöchel beim Parademarsch. Welcher Tau, welcher Segen in diesem Sichverbinden mit so kleinen Dingen, das in Wirklichkeit ein Sichverbünden gegen die Prosa der Alltäglichkeit ist. Wenn wir grünliches Chlorgas destillierten und alles ringsumher sich die Nase zuhielt, und der blauhändige Färber, unser Nachbar, von jenseits der Hofmauer rief: Nächstens krepiert mein Schwein von euerm Gestank! da schwollen unsre Herzen. Es ist wahr, es riecht schlecht, es verursacht Hustenreiz, aber es ist Chlor! Wie das schon klingt! Und wir husteten und fühlten unsre Augen brennen; aber nur nicht klagen, sondern mit ernster Würde wiederholen: Chlor! Dörfliche Einsamkeit ist gerade der rechte Boden für das Gedeihen dieses bescheidnen Gewächses. Im Winter, wenn tiefer Schnee den Verkehr auf das allernotwendigste beschränkte, die weite Welt wie verschlafen unter ihrer Decke lag, und wir uns mit Muße dem Destillieren und Sublimieren im qualmenden Laboratorium, genannt Hexenküche, hingeben konnten, kam etwas von alchimistischer Stimmung über uns. Gold oder den Stein der Weisen machen zu wollen, dafür waren wir ja zu aufgeklärt; aber wenn die Destillation irgendeines bekannten Stoffes gelang, sahen wir in jedem Tropfen, der in die Phiole fiel, »das Werk, das gelungen,« und es wurde uns weiter um die Brust.
Wohl waren das Lichtblicke, die durch weite Strecken von Routinearbeit getrennt waren; man stieg bis zur Herstellung einer flüssigen Stiefelwichse hinab, deren Unzweckmäßigkeit dem kritischen Geiste junger Alchimisten vollständig klar war, und fabrizierte ein Tintenpulver, von dem niemand zu sagen wußte, warum man nicht seine Galläpfel abkochte und seinen Eisenvitriol auflöste, um gleich eine tüchtige schwarze Tinte daraus zu machen? Da aber das liebe Publikum diese wie viele andre Produkte unsrer Offizin bereitwillig aufnahm, steigerten alle diese Quacksalbereien und Pfuschereien nur das Gefühl der Wichtigkeit und Unfehlbarkeit, womit wir uns zwischen unsern tausend Büchsen und Flaschen bewegten.
Man wird erwarten, daß sich in diesen Verhältnissen, die mir soviel Neues brachten, ein ungeheuer lebhafter Briefverkehr mit den Meinen entwickelt hätte, aber dazu kam es merkwürdigerweise nicht; denn zu einem Briefwechsel gehören zwei, und wenn ich auch schrieb, so nahm sich im Elternhause niemand die Zeit, mir mehr zu schreiben, als in den normalen Beziehungen zwischen Sohn und Eltern und Bruder und Geschwistern natürlich und notwendig schien. Damals schrieben sich nur Verliebte und Geschäftsleute häufig, und die Postkarte war noch nicht erfunden; auch kostete ein Brief auf eine kleine Entfernung sechs und auf eine größere neun Kreuzer, und die Groschen und Sechser rollten nicht so leicht und so massenhaft in der Welt herum wie heutzutage. Gerade begann der Lohn des erwachsnen Arbeiters die Summe von dreißig Kreuzern zu übersteigen, und ich erinnere mich noch recht gut, wie Burschen aus unserm Dorf vom Rhein zurückkehrten, wo sie Gold gewaschen hatten; da hörte man, daß der Rheinsand im besten Falle vierundzwanzig bis dreißig Kreuzer Gold bei angestrengter Tagesarbeit liefere, und daß man nun mit leichterer Mühe sechsunddreißig durch gewöhnliche Taglöhnerarbeit gewinne. Sie behaupteten, die Elsässer hätten das Goldwäschen schon viel früher aufgegeben, und nun drohe außerdem auch noch der Wettbewerb der badischen Regierung, die in Köln eine Maschine zum Goldwäschen bauen lasse, die unglaubliche Mengen Sand an einem Tage verarbeiten werde. Ich glaube, das war das Ende des Goldwaschens in Deutschland überhaupt. Von der badischen Maschine habe ich nie etwas weiteres gehört, habe aber manchmal an sie gedacht, wenn ich von andern Leistungen der aufgeklärten Bureaukratie des »Musterländles« vernahm, die immer ihrer Zeit so weit voraus war.
Es war nun Spätherbst, alle Zugvögel hatten uns verlassen, nur dürre Blätter flogen am Boden vor den Novemberwinden und hoch oben graue Wolken, deren stürmisches Ziehen tagelang kein Ende nahm. Eine verspätete Biene, ein erstarrter Käfer, das waren die Lebensspuren draußen. Um so lebendiger regte es sich in meinem Innern. Wind und Wetter störten mich nicht in meinen wandernden Gedanken, stauten sie nur zu größerer Tiefe auf.
Wenn es regnet, »was vom Himmel herunterkann«, wenn es »mit Bütten schüttete«, wenn der Witzbold fragte: Ist denn Quatember, daß der liebe Herrgott alle seine Stockfische wässert?, wenn die Bäche rechts und links vom Hause anschwollen und sich schlammig gelb färbten, wenn auf die Brücke die Bächlein von der Straße hin und über ihre niedre Mauer weg die Bäche in den Bach stürzten, wenn sich keine Katze geschweige denn ein Mensch ins Freie wagte, und der böseste Hofhund sein Haus nicht mehr verließ, mochte um ihn passieren, was da wollte, kurz, wenn eine neue Sündflut einzubrechen drohte, da fühlten wir uns zwar abgeschnitten von der Welt, da wurden wir zu Insulanern, die ihre wasserumflutete Insulsa fortunata in diesem Augenblick um kein Königreich der Welt vertauschen mochten. Da fing zwar das Leben in und um uns an zu ebben, aber durch den dünnen Schleier der Wirklichkeit, die nur allein noch blieb, schimmerte es jetzt wie von einer andern Welt, die bisher übersehen, überhört worden war. Es ist so still, die Stürme haben uns verlassen, die Wolken sind fortgezogen, man hört die Zeit verrinnen, die Sterne singend ihre Bahn ziehn. Nun kommen die Frosttage, wo es im Straßenkot wie von Edelsteinen glitzert und statt des Taues Reifkristalle auf den Halmen liegen. Da wird es wohl in einer Dezembernacht noch viel stiller, und man wacht Morgens von der ungewöhnlichen Ruhe auf, in die die Welt tief versunken zu sein scheint, vielleicht auch von der Kälte, besonders aber von dem sonderbaren Schein, der durch die Fenster fällt. Das ist ein Schneetag. Die ganze Nacht hat es ohne Aufhören heruntergeschneit, und nun reicht die Straße fast bis an die Fensterbrüstungen, und die Dächer sind erhöht, der Brunnen trägt eine weiße Mütze, und jeder Dornzweig ist um einen Silberstreifen verdoppelt. Nichts ist vergessen, nicht einmal die dürren Wegwartstengel, sie leuchten von ihrer weißen Auflage. Und alle diese weißen Lasten scheinen den Geräuschen des Tages die Hand auf den Mund zu legen. Nur Licht der Wolken und leuchtender Schnee, der einförmige, tiefe Himmel um eine Idee grauer als die Erde, Grau und Grau, nur Morgens und Abends bei tiefstehender Sonne lange bläuliche Schatten; aber über das alles eine Einheit der Stimmung, der nur wir gegenüberstehn, wir, eine kleine Welt, die sich nie so sich selbst fühlt wie in diesen abgeschlossenen Tagen, wo die »andre Welt« wie verloren gegangen ist.
Als der Geistliche am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis über die Bekehrung des Kämmerers aus dem Morgenlande predigte, wo es im Text hieß: »Stehe auf und gehe gen Mittag auf die Straße, die von Jerusalem gehet hinab nach Gaza, die da wüste ist; und er stand auf und ging hin,« und weiter: »Er aber zog seine Straße fröhlich,« überfiel mich eine solche Sehnsucht, hinauszuziehn auf irgendeiner Straße, und ob sie noch so wüst wäre, daß ich nach der Kirche, ohne einen Menschen zu sprechen oder zu grüßen, hinauseilte und von der Bank am Föhrenwald in die Ebne schaute, bis ich sie weit, weit hinaus nach Westen geöffnet und an ihrem äußersten Rande befreundete Türme ragen sah. Und da ich nun zum Überfluß in denselben Tagen in Thomas a Kempis den Spruch las: »Halte dich wie einen Pilger auf Erden, den der Welt Geschäfte nichts angehn. Bewahre ein freies und zu Gott gerichtetes Herz, weil du hier keine bleibende Stätte hast,« so fühlte ich mich nur um so mehr berechtigt, geistig zu wandern, und hoffte es mit der Zeit noch dahin zu bringen, meine sterbliche Hülle allein hier zu lassen und mit der Seele dort zu weilen, wo es sie hinzog. Die Beschäftigung mit den Giftstoffen der Apotheke war sehr geeignet zu Betrachtungen über die tötenden und die bloß betäubenden Mittel. Man unterhielt sich gern über das auch heute noch rätselhafte Aqua tofana, dessen furchtbare Wirkungen ähnlich der des Hundswutgiftes und andrer Krankheitskeime sich erst nach geraumer Zeit äußern, oder über die traumerzeugenden Dämpfe der Stechapfelsamen, unter deren Einfluß der Geist dessen, der sie einatmete, den Körper verläßt, um umherwandernd die seltsamsten Erfahrungen zu sammeln. Welche interessante Stufenleiter von diesen trägen und aussetzenden Giften bis zu der schlagartig wirkenden Blausäure! Kein Wunder, daß Manfred-Byrons letzte Worte: Old man, 't is not so difficult to die dem Jüngling-Knaben durchaus nicht mehr fremd ins Ohr klangen. Es schien ihm ja gar nichts so Unvermitteltes und Unvorbereitetes mehr, was man Sterben nannte. Ist Sterben denn notwendig immer Tod? Könnte nicht der Geist diese Hülle verlassen und wieder in sie zurückkehren? Die Alten glaubten, daß er in ihrer Nähe noch längere Zeit verweile, nachdem der Leichnam kalt geworden, und sie ehrten sie, brachten ihr Opfer dar. Was wissen wir denn überhaupt vom Tode? Es hängt doch alles, was wir davon halten, vom Glauben ab. Das Sterben allein ist gewiß, vom Tod, der dahintersteht, wissen wir nichts. Wie wenn sich nun die freigewordne Seele aufschwänge und zu den lieben Orten flöge, an denen ohnehin meine Gedanken weilen? Dann wäre ja der Tod das Schönste, was nur zu denken ist. Es gibt kein andres Mittel, zu wandern. Körperlich bin ich für vier lange Jahre an diese Stelle gebunden, seelisch steht mir die Welt offen. Versuche ichs nicht einmal, zu fliegen? Hier steht in steinernen Krügen Kirschlorbeerwasser, ein blausäurehaltiges Präparat, dessen scharfer Duft etwas Elegantes hat. Der Totenkopf über dem altmodisch geschnörkelten Aqua Laurocerasi schreckt mich nicht. Der Blausäuregehalt des Destillats ist nicht allzu stark. Vielleicht ist die Wirkung nur Betäubung, Traum und Rückkehr, vielleicht allerdings auch Sterben. Was macht mir das für einen Unterschied? Hier ist ein altes Glas aus böhmischem Kristall, an dessen Klarheit ich mich schon lange ergötze. Wie unschuldvoll darin die giftige Flüssigkeit ins Bläuliche schimmert! Ein langer Zug, und noch einer, ich meine beim zweiten schon die Hände zittern zu fühlen, doch stelle ich den Krug ordnungsmäßig an seinen Platz und steige wie im Traum die Kellertreppe hinauf.
Ich erwachte aus meinem langen Schlaf, die Glieder zerschlagen, der Kopf dumpf, aber mit unzweifelhaftem Lebensgefühl. Ist meine Seele gewandert, so kann sie nur kurze Zeit draußen gewesen sein, ich meine nur Minuten hier zu liegen. Draußen dieselbe Schneelandschaft, die ich verlassen habe. Man spricht an meinem Bette von einem ungewöhnlich heftigen Anfall von Nervenfieber, von einer Reihe von Tagen, die ich besinnungslos gelegen bin, und freut sich offenbar über mein Wiedererwachen. Briefe, deren Entzifferung mir Kopfschmerz macht, liegen auf dem Tische; ich fühle einstweilen nur die Liebe, die sie ausstrahlen. Der erste Gedanke, der mir halbwegs klar wird, ist die Erwägung, daß es noch Menschen gibt, denen mein Dasein nicht gleichgiltig ist. Sogar der Mann mit der schraubenförmigen Mütze scheint ehrlich Anteil zu nehmen. Mein Blut stürzt nicht mehr wie ein Katarakt durch die Adern und schwillt bedrohlich in das bebende Herz zurück, es wallt ruhig und gibt mir mit der Ruhe das unbeschreibliche Gefühl der Genesung, das wohl wert ist, daß man um seinetwillen eine Krankheit durchmacht. Mir freilich war es nicht vergönnt, dieses Gefühl auszukosten. Wie konnte, wie durfte ichs? Habe ich nicht freventlich diese Krankheit heraufbeschworen? Ich fange an, wie ein Fremder auf meine Tat hinzusehen, und ich schäme mich derselben vor diesem Fremden, ich wünsche, daß sie verborgen bleibt. Einige Tage später, als ich wieder lesen konnte, bringt man mir unter andern der damals üblichen Miniaturbändchen in Goldschnitt und schwarzer Leinwand auch das Bändchen Faust von Nikolaus Lenau mit der Jahreszahl 1836. Als ich im Schlußgesang die Worte Fausts lese,
Ich bin ein Traum, entflatternd deiner Haft,
Ich bin ein Traum mit Lust und Schuld und Schmerz
Und träume mir das Messer in das Herz!
überfällt mich ein so heftiges Gefühl der Reue, daß ich mir entfliehen möchte, und ich weine Tränen der Scham.