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Die Politik, auf die ich von München aus gekommen bin, ist im Leben der bayrischen Hauptstadt ein viel fremderes Gewächs als die Kunst. Der Bayer möchte sich eigentlich gar nicht um Politik kümmern, wenn es nach ihm ginge. Er hat nichts von der Rechthaberei und dem Widerspruchsgeist, die im Charakter des Franken liegen. Dieser Unterschied zwischen den beiden Stämmen zeigt sich am deutlichsten beim Militär, wo der Altbayer trotz seiner gelegentlichen Ausschreitungen als der folgsamste Soldat gilt, während sich Pfälzer und Unterfranken am schwersten unterordnen. In den fränkischen Gauen haben demokratische Richtungen immer mehr Anhänger gehabt als in den bayrischen und bayrisch-schwäbischen. Der Bayer kümmert sich nicht gern um fremde Angelegenheiten, während der Franke beweglich und neugierig ist. Ohne viel Redens und Aufhebens von der Anhänglichkeit an sein Fürstenhaus, die ihm selbstverständlich ist, ist der Bayer der loyalste Untertan von der Welt. Ihm ist eben wohl, wenn alles um ihn herum so weit in Ordnung ist, daß er auf seiner Scholle ungeschoren bleibt. Er ist sowohl zu bequem als zu stolz, politischen Idealen nachzustreben. Niemand kann konservativer »von Natur« sein als der bayrische Bauer. Wenn die Sozialdemokratie in Bayern in halbstädtischen Wahlkreisen mehrmals starke Rückschläge erfahren hat, so hängt das mit diesem realpolitischen Zuge zusammen; außerdem kommt aber auch dabei die geringere Schärfe der Standesunterschiede in Betracht. Der altbayrische Bauer und Bürger geht aufrecht durch die Welt und beneidet niemand, und die altbayrische Aristokratie zeichnete sich früher durch ihre Anspruchslosigkeit aus. Man konnte vor einem Menschenalter noch das Bürgerliche als den Grundzug der altbayrischen Gesellschaft bezeichnen, ganz entsprechend der Tatsache, daß Bayern das eigentlichste Bauernland ist. Sogar die Prinzen kleiden sich, wenn sie als Jäger die Berge des Allgäu oder des Berchtesgadner Landes durchstreifen, in das Jagdgewand, das aus etwas gröberm Stoff die Bauernburschen tragen; und wer dem Prinzregenten dort begegnet, glaubt einen alten, verwitterten Bauersmann mit auffallend freundlichem und intelligentem Blick zu sehen.
Im allgemeinen gewinnt man in Bayern immer noch mehr als in vielen andern Teilen Deutschlands den Eindruck einer kernigen Gesundheit des Volkskörpers, die nicht so leicht durch die krankmachenden Einflüsse des Tages zu erschüttern sein wird. Die Gefahr liegt hier mehr im Innern des Körpers als in den äußern Einflüssen. Ein sich selbst täuschendes Gesundheitsgefühl möchte ich aber jenen bajuvarischen Nationalstolz nennen, der von oben her mächtig genährt wird. Die ganze Welt beneidet uns um unsre Zustände! hört man sagen. Ja, Bayern kann um vieles beneidet werden, aber das liegt fast alles mehr im Volk und im Lande als in der jeweiligen Regierung. Es wird leicht übersehen, wieviel Heilsames von außen gekommen ist. Man hätte die Mißerfolge von 1866 nicht so bald und so ganz über den an der Seite Preußens 1870 erreichten Erfolgen vergessen sollen. Die Armee ist unendlich viel besser geworden. Daß sie aber auf die Stufe hinunterkommen konnte, auf der sie sich bei aller Tapferkeit 1866 befand, wird für alle Zeiten den Ruhm selbst so trefflicher Männer wie Walter, Spruner, von der Tann u. v. a. trüben, die nicht scharf genug gegen die Verlotterung angekämpft hatten. Bayern hat ja immer vortreffliche Soldaten geliefert, und unter den Offizieren sind immer hochgebildete Leute zu finden gewesen. Heute verbinden manche in wohltuender Weise die bescheidne Männlichkeit des süddeutschen Kavaliers mit preußischer Strammheit, während wenige Jüngere gerade diese in lächerlicher und herausfordernder Weise hervorkehren. Ältere Offiziere klagen, daß mit vielem Guten von Norden her auch absolut Verwerfliches, wie die streberische Ordenssucht, eingedrungen sei. Ich will nicht untersuchen, wie weit die Klagen über Günstlingswirtschaft hier tiefere Begründung haben als anderwärts. Es macht mir mehr Freude, das unbeeinflußte Urteil eines norddeutschen militärischen Kenners wiederzugeben: er bezeichnet die erste bayrische Brigade im Sommer 1897 als einen der bestgeübten Truppenteile der deutschen Armee. Schade, daß man aus dem schönen Münchner Leibregiment, um die preußische Garde nachzuahmen, ein Regiment mit ganz vorwiegend adlichem Offizierkorps zu machen sucht. Das ist ein unbayrisches und höchst unkluges Beginnen, unter hiesigen Verhältnissen und angesichts der wachsenden plutokratischen Verbindungen dieses Adels sogar nicht unbedenklich.
Der bayrische Beamtenstand hat immer das Lob der Ehrlichkeit, der Unparteilichkeit und eines Vorgehens nach dem Grundsatz »Recht und Billigkeit« verdient. Er enthält sehr viel Intelligenz, die sich aber nicht immer sehr hervortut; und das Verdienst macht bis zu den Spitzen seinen Weg, wobei manchmal, wie so ziemlich überall, Verwandtschaft und Freundschaft unmerklich oder auch merklich nachhelfen. Die höhern Verwaltungsstellen sind hier nicht das Erbteil einer anspruchsvollen Aristokratie geworden, wie in manchen Teilen Norddeutschlands; und zum Wohl des Landes. Um Beamte von höchster Bildung und im besten Sinne bürgerlichem Auftreten, wie den verstorbnen Ziegler, Regierungspräsidenten von Oberbayern, oder den noch rüstig arbeitenden Finanzminister Riedel kann manches deutsche Land Bayern beneiden.
Bayern und das Reich! Besteht wirklich die Reichsverdrossenheit, von der uns die Berliner Blätter letzten Sommer (1897) zu unterhalten wünschten? Ja, sie besteht, und zwar ist ihr Daseinsrecht hier genau dasselbe wie anderswo das des »Rackers von Staat.« Der Bayer liebt sein Bayern warm, weil das sein Mutterboden ist, des Franken Liebe ist schon weniger warm, weil er diesem Königreich erst spät eingegliedert worden ist. Ja ich weiß einen oberfränkischen Winkel, wo die preußischen Sympathien aus ansbach-bayreuthischer Zeit noch recht lebendig sind. Das findet man begreiflich. Ist es nicht natürlich, daß man auch an die Liebe zum Reich gewöhnt werden muß? Es wäre töricht, mehr zu verlangen, als die aus verständiger Erwägung hervorgehende Erkenntnis von dem Wert der Zugehörigkeit zum Reich. Man darf kühn behaupten, daß diese von Jahr zu Jahr stärker geworden ist und immer noch zunehmen wird, während sich allerdings die nationale Begeisterung der Jahre nach 1870 nicht so fortgepflanzt hat, wie man einst hoffen mochte. Der Kulturkampf, die innerpolitischen Fehler der nationalliberalen Partei, die früher in Bayern fast die alleinige Trägerin dieser Begeisterung war, die wirtschaftliche Entwicklung mit ihren Enttäuschungen für Bauern und Bürger, das Steigen der Volkslasten, das »Wapperlgesetz« und so manches andre hat ernüchternd gewirkt. In die Lücken der alten nationalliberalen Führer ist kein gleichwertiger Ersatz eingerückt. Doch das ist eine Erscheinung, die nicht auf Bayern beschränkt ist. Viel zu viel Wert legt man in Norddeutschland dem Siglschen »Vaterland« und ähnlichen Organen bei, die einem Preußenhaß Ausdruck geben, der nur bei einigen extremen Politikern besteht. Diese in Bayern selbst größtenteils übel berüchtigten Leute vergrößern die stille Abneigung, der preußisches Wesen in ganz Süddeutschland begegnet, die aber viel mehr Gemüts- als Verstandessache ist. Der Verstand erkennt die Verdienste an, die sich Preußen um Deutschland mit Einschluß Bayerns erworben hat, das Gemüt fühlt sich zurückgestoßen von so mancher Charaktereigenschaft der Norddeutschen und besonders der Nordostdeutschen; gerade mehr äußerliche Fehler, wie Eitelkeit, Geschwätzigkeit, Prahlerei, Überhebung, stoßen am meisten ab. Tüchtige Preußen und das Tüchtige an den Preußen haben die ernsthaften Leute in Bayern jederzeit anerkannt. Kann man es aber einem Stamme von so ausgeprägter Eigenart verdenken, wenn er sich gegen die Schmälerung seines Rechts, nach seiner Art zu leben, mit allen Mitteln wehrt? Die Norddeutschen, die jetzt alljährlich so zahlreich ins Land kommen, sollten doch etwas um sich schauen, damit sie begreifen lernen, daß keinem deutschen Stamm die Gleichmacherei so von Natur aus zuwider sein muß wie dem bayrischen, und daß es viel mehr im Interesse Gesamtdeutschlands liegt, eine gesunde Eigenart zu pflegen, wo sie noch ist, als unorganische Aufpfropfungen aufzuzwingen. Das Beispiel Badens, das seinen zu raschen Anschluß an Preußen mit einer latenten immerfort wachsenden Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit in allen Schichten des Volkes erkauft hat, sollte zur Warnung dienen. Natürlich denke ich bei diesen Bemerkungen nicht in erster Linie an die paar Reservatrechte, sondern an die allgemeine Achtung des Rechts auf eignes Leben unter eignen Bedingungen.
Von den vielbesprochnen Reservatrechten möchte ich nur die Post erwähnen; die ist typisch für die Stellung des Volkes zu diesen Dingen. Die bayrische Post bedient ihr Publikum billiger als die Reichspost und ist darauf bedacht, wie besonders das vortreffliche Landpostwesen zeigt, keine begründete Anforderung unbefriedigt zu lassen. Die Post kann sogar als die öffentliche Einrichtung Bayerns bezeichnet werden, die am wenigsten zu Ausstellungen Anlaß gibt. Sollten nun auch einmal unsre Postmarken statt der Löwen den Adler tragen, so wäre doch unter allen Umständen der bayrische Postillon zu schützen. Der gehört zur Landschaft. Die preußische Post hat den guten alten Postillon schlecht zurechtgestutzt. Man sehe nur diese steife Zivilpickelhaube mit der sparsamen Andeutung eines Haarbüschleins, und die trübe dunkelblaue Uniform mit den grell ziegelroten Aufschlägen. Was für ein andrer Kerl ist da ein bayrischer Postillon mit seinem hellblauen Frack, seinen weißen Lederhosen und seinen hohen Stiefeln! Mit Recht verehrt die ganze Anwohnerschaft einer Landstraße ihren Postillon und ist stolz auf ihn. Und auch er kann stolz sein: Kaulbach und Schwind haben ihn verewigt, und Karl Stieler hat ihm einen seiner feinsten Aufsätze gewidmet. Wenn er an Feiertagen in Blau und Silber und mit weißem Federbusch am Hut auffährt, ziert er die ganze bayrische Welt. Er repräsentiert den Staat besser als ein Dickbauch von Minister in Frack und Degen. Kein Wunder, wenn er ein heiterer Gesell ist, zu dem wir uns auch dann hingezogen fühlen, wenn er von seinem Bock herunter »sakrisch« flucht und wettert. Er ist eben doch schon äußerlich kein Alltagsmensch wie der Reichspostillon, und in ihm hat sich noch ein Stück Reisepoesie in die Gegenwart gerettet. Kurz, für den bayrischen Reservatspostillon müßte eigentlich jeder Deutsche von Geschmack eintreten.
Vergesse man doch nicht über dem Streit um Äußerlichkeiten und Äußerungen, daß die ganze Kulturentwicklung Bayerns seit einem Jahrhundert das Volk immer mehr an das übrige Deutschland angenähert und angeschlossen hat. Vor hundert Jahren war Bayern eine Welt für sich. Und heute? München teilt sich mit Berlin in die geistige Führung Deutschlands, der wirtschaftliche Zusammenhang ist nicht mehr aufzulösen, die Gemeinsamkeit der politischen Interessen und Gefahren ist unter all dem Hader der Parteien immer mehr gewachsen, der Bund mit Österreich hat sogar leidenschaftliche Großdeutsche versöhnt. Ob Deutschland mehr gewonnen hat durch den Wiedereintritt seines Südostens in das gemeinsame Leben, oder ob Bayern der Niederlegung der Dornröschenhecke, hinter der es sich abgeschlossen hatte, mehr zu danken hat, wollen wir nicht entscheiden. Das eine aber steht für jeden fest, der Land und Volk und die Geschichte des Volkes kennt, daß Bayern auf das übrige Deutschland angewiesen ist, und daß man das hier überall recht gut weiß, wo überhaupt politisches Urteil zuhause ist. Die Bedeutung Bayerns für Deutschland wird dagegen im »Reich« nicht so gewürdigt, wie man wünschen möchte. Bayern wird zwar wie ein Eckstein angesehen, der die Südostseite des Reichs kräftig stützt, für viele ist aber Altbayern nichts als ein Ballast, der das Reichsschiff beschwert. Das sind echt kleindeutsche Anschauungen.
Bayerns Stellung kann nur aus einer großdeutschen Auffassung verstanden werden, die seine geographische und Stammesverbindung mit dem bayrischen Stamm außerhalb Deutschlands würdigt. Es ist der Übergang zu den alten Bayerngauen in den Ostalpen und der mittlern Donau und der Übergang von den Süddeutschen des Westens, mit Einschluß der Schweizer, zu denen des Ostens, endlich das Bindeglied zwischen Deutschland und Italien. Da alle diese Beziehungen über die politischen Grenzen hinauswirken und durch Wechselströme wirtschaftlicher und geistiger Art die Völker immer mächtiger auflockern, in Bewegung setzen und einander entgegenführen, so wird das innere Leben und Wachsen eines Landes wie Bayern von weitreichender Bedeutung. Für jeden, der des Glaubens lebt, daß Deutschlands Interessen- und Wirkungssphären in Europa mit dem militärischen Übergewicht und der teuer erkauften industriellen Überlegenheit noch lange nicht beschlossen und festgelegt sind, und daß in ihrer Ausbreitung den bestehenden Nachbarschaftsverhältnissen eine vorbereitende Rolle zugeteilt ist, sind die bayrischen Zustände und Entwicklungen eine wichtige gemeindeutsche Angelegenheit.