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Erich lernte von Lino mit Ruder und Segel umgehen und wie ein Boot zu steuern sei. Er wurde der phantastischen Spiele mit der Schwester müde. Er fuhr mit den Fischern abends hinaus und kehrte erst am Morgen mit ihnen heim, durchnäßt und glückselig. Glenn begünstigte diese Ausflüge seines Sohnes. »Es wird Zeit, daß er aus all dem weichlichen Getue herauskommt«, meinte er.
In dem kleinen Hafen des Fischerdorfes, wo die bunten Boote dicht nebeneinander lagen, grüne, blaue, weiß und rot gestreifte, mit den gelben und braunen Segeln, deren jedes sein Abzeichen aufgemalt trug, einen Stern, einen Mond, eine Sonne oder einen Fisch, sahen die braunen Buben mit Eifer dem Künstler des kleinen Gemeinwesens zu, wenn er die Boote und die Leinwand der Segel so lustig färbte und bemalte. Erich stritt mit den Kameraden, welchem Boot der Vorrang gebühre, und vereinte sich mit ihnen in dem Haß und Kampf gegen ein fremdes Fahrzeug, das da wagen wollte, in den heiligen Ring der Fischergemeinschaft einzudringen und ihr den Fang wegzukapern. Er half mit ihnen den Männern, die Beute aus den Netzen zu heben: Seezungen und Katzenhaie, Langusten und die phantastischen Tintenfische mit den greulichen nackten Schleimarmen, Rochen, große und kleine Krabben, Muscheln und was das Meer sonst noch an seltsamen Gestalten und Gewächsen bot. Das war hundertmal spannender, als Linos Heldentaten beim Kochen der Fischsuppe anzuhören. Die Fischer rühmten des fremden Knaben Gewandtheit und Mut, sie hatten ihn gern, und auch seine Altersgenossen verloren das anfängliche Mißtrauen. Er übte sich mit ihnen im Kopfsprung von der Klippe hinab ins Meer, im Tauchen nach einem Geldstück, das man in der klaren Flut auf dem Grunde schimmern sah – im vielfachen Purzelbaumschlagen und anderen Kraftstückchen. Seine Sehnen wurden fest und stählern. Seine Augen verloren den durchsichtigen Ausdruck, und sein roter voller Mund bekam etwas trotzig Verschlossenes.
»Erich gefällt mir nicht«, klagte die Mutter ihrem Kranken. »Er ist verändert – böse und widerspenstig, stampft mit den Füßen, schreit und braucht grausige Worte. Verbiete ihm den Verkehr mit den Fischerjungen. Früher hast du ihn nicht gelitten . . .«
Glenn blickte aus Fieberträumen groß auf seine Frau. »Damals war Erich ein Kind«, sagte er müde. »Jetzt ist er ein Bub und will ein Mann werden. Diese italischen Fischerbengel werden nicht schlimmer sein als die Knaben in seinen bürgerlichen Instituten – ach, Luise – in unberührter Reinheit wird man nie ein Mensch.«
Schwer sanken die Lider über die eingesunkenen Augen. Er spricht aus Morphiumschlaf, dachte die Frau, von Angst ergriffen. Wie soll ich den wilden Jungen bändigen, wenn ich – allein bin?
*
Den großen Schal von Mama um sich gewickelt, kauerte Irmgard wie ein weiches weißes Kaninchen auf der Marmorbank der unteren Terrasse und erwartete den Bruder, der mit Lino auf einer Segelfahrt begriffen war. Scharfe Böen jagten über die See, hoch aufbäumten sich in durchsichtigem Grau die Wellen. Weiter hinaus, wo es von einem gläsernen Dunkelblau schien, war das leidenschaftlich durchwühlte Wasser mit aufspringenden weißen Schaumköpfen bedeckt. Der Wind riß an des Mädchens Tuch, schüttelte die Tamarisken, daß sie sich bis zur Erde neigten, fuhr durch das Gezweig der Orangenbäume, ihr hartes Laub knatterte und rauschte – schwer klatschten Früchte zu Boden. An dem grünlich-kalten Himmel stand ein grelles gelbes Abendlicht. Irmgard schien es plötzlich von einer gefährlichen Bedeutung. Sie sah noch immer nichts von dem Boot. Seit dem mißglückten Ruderversuch nahm man sie nicht mehr mit hinaus. Die Mama hatte es verboten. Sehr zart war ihr Körper, alle Gelenke zum Zerbrechen fein, die Bewegungen von einer müden Grazie. Oft fror sie, war schläfrig, nicht mehr geneigt, wie früher den lieben Tag lang zu laufen, zu springen, zu lachen und zu spielen.
Nein – eine Heldin, die mit den Männern hinauszog in Krieg und Sieg, die im Sturm sich wacker hielt, würde sie niemals werden. Sie saß lieber still; wenn sie nicht las, blickte sie träumend ins Weite, inneren Gesichten hingegeben, die farbig und leuchtend lebendig sich in ihrer Phantasie abwechselten. Dann färbten sich ihre schmalen Wangen rosig, ihren weichen Mund umspielte ein süßes Glücklächeln, die blauen Augen zwischen den dichten gebogenen Wimpern, ihres Bruders Augen, bekamen tiefen Leuchtglanz. Erlebte sie nicht alles, was sie ersehnte, was sie nicht haben durfte, in solchen Traumstunden, schöner, gefahrvoller, gewaltiger, als es ihr die Wirklichkeit bescheren konnte? Wozu diese dumme Wirklichkeit? – Sie stand doch mit Erich auf dem Segelboot, das nun ferne auftauchte, sein Segel von der Abendsonne mit Goldglanz bemalt – tief in die Wellen den Kiel tauchend, wieder emporgeschleudert – mein Gott – jetzt sah sie, wie Lino und sein Gefährte an den Segeln arbeiteten, wie das Schiff sich zur Seite neigte, daß die Reling beinahe das Wasser berührte und die Wellen darüberspritzten – und wie eine kleine Gestalt sich unter ihrem Guß schüttelte – das war Erich . . . Am Mast mußte er sich festhalten, um nicht hinausgespült zu werden. Sie stieß einen Angstschrei aus – wohin waren die Träume geflohen? Das Mädchen preßte die Fäustchen zusammen, als könne sie zwischen ihnen das auf und nieder schaukelnde Schiff festhalten.
Jetzt legte sich eine scharfe Brise in die Segel, in schräger Linie sauste das Schiff dem Land entgegen. Irmgard riß ihren Schal von den Schultern und schwenkte ihn wie eine Willkommensfahne den Heimkehrenden entgegen, wobei es ihr zugleich zum Bewußtsein kam, daß sie in ihrer eifrigen Arbeit wohl schwerlich darauf achten konnten. Nun wurde mit einemmal das Segel hochgezogen und um den Mast gewickelt. Mit starken Ruderschlägen führte Lino das Boot dem Sandstrand entgegen, während der zweite Bursche das Steuer regierte. Es gab harte Arbeit. Eine große Welle hob das Fahrzeug auf den Strand, eine zweite schleuderte es zurück in die Flut, aber schon waren Erich und der Steuermann mit einem geschickten Sprung heraus und tappten barbeinig durch den Schaum. Der junge Mensch faßte nach der Ankerleine, die ihm Lino, im schwankenden Boot aufrecht und sicher stehend, entgegenwarf. So zogen sie es vollends hinauf, befestigten es mit Linos Hilfe an den Pflöcken, die zu diesem Zweck dort angebracht waren.
»Erich – Erich!« jubelte Irmgard hinunter. Der Junge sprang die überspülten Steinstufen empor, stand mit dem hellen, windverwehten Haar, mit den in Lebenslust blitzenden Augen und den von der Anstrengung glühenden Backen vor der Schwester, schlang ihr beide feste Arme um das zarte Hälschen.
»O Irmel – es war himmlisch – himmlisch!«
Und er küßte sie in Lebenswonne auf den Mund, mit seinen frischen roten Lippen, die ihr einen Geschmack nach Meer und Salz hinterließen.
»Du – du hast Mut!« rief sie, entzückt, ihn nur wiederzuhaben. »Die Fahrt war doch gefährlich! Sieh nur die großen Wellen!«
»Ach, das ist doch nichts!« prahlte er lachend. »Grad nur ein guter Segelwind . . . Irmel – was hast du denn – du hast geweint?« –
»Ich dachte« – sie schluchzte kurz auf –, »wenn du ertrunken wärest – hier, vor meinen Augen.«
»Du dumme Gans!« schrie er bubenhaft lustig und nahm sie wieder in seine nackten braunen Arme. Übermütig fing er an, sie zu küssen, halb ein Spiel, halb in gerührter Zärtlichkeit – küßte sie auf den Mund und die weichen Wangen, küßte das Näschen und die letzten Tränenspuren aus den Augen, und immer heftiger wurde das süße Spiel, bis Irmgard, heiß und rot, ihn lachend von sich drängte.
»Du, sei nicht so wild.« Da ließ er sie, sprang in großen Sätzen die Treppe des Gartens hinauf, laut singend: »Die Irmel ist 'ne dumme Gans – dumme Gans – dumme Gans – «, bis die Stimme im Innern des Hauses verhallte.
Erich stand in seinem Zimmer – denn er besaß seit kurzem ein eigenes Zimmer, ein rundes, oben im Turm mit der rosenroten Zinnenkrone, vom Meerwind umtost, so daß man zuweilen kaum das Bogenfenster öffnen konnte – aber dann sah man auch weit, weit hinaus in die blaue Unendlichkeit –, an hellen Tagen konnte man den Kegel des Vesuvs erkennen und die Rauchsäule, die sich, einer dunklen Pinie gleich, über ihm wiegte. Erich riß das Fenster auf und schmetterte noch einmal seinen Spottvers hinaus. Er war maßlos glücklich in diesem Augenblick, er meinte zu zerspringen vor lauter innerer Lust und Daseinswonne . . . Noch spürte er auf seinen Lippen den zarten Duft von Irmgards feiner weicher Haut, noch fühlte er in seinem Herzen den Nachhall des aufjubelnden Triumphes, als er in ihren süßen Augen die Tränen sah, die sie um ihn geweint – und es brauste durch sein ganzes Wesen der Sturm der See, die atemlose Spannung, wenn das Schiff sich tief in die Wellen neigte und die Schiffer sich mit rauher Stimme heftige unverständliche Rufe zuschrien, ein Ahnen von Gefahr ihn berauschend umspielte – ihn, den jungen Herrn des Schiffes, den König der See!
Stolz blickte er um sich – betrachtete mit Genugtuung den etwas barbarischen Schmuck des weiß getünchten runden Gemaches: all diese getrockneten Fische, eine Schlangenhaut, die bunten Muscheln und Algen, an den Wänden ein langes Ruder, ein braunes Netz und von der Decke hängend die geschnitzten Boote, die er im Verein mit den Fischerjungen verfertigt, bemalt und kunstgerecht aufgetakelt hatte – Irmgard mußte ihm die Segel nähen. – Sie war doch ein gutes Mädchen, dachte er, eingetaucht mit seinem Gefühl in ihre Lieblichkeit . . . Warum – warum nur war sie ihm zuweilen so fremd? Und er so allein? Von Reue gepeinigt – denn – was hatte er nicht alles von den Fischerjungen gehört, und daß er es nicht aus seinen Gedanken brachte, schien ihm ein Verbrechen. Ein Sehnen, das dumpf wie eine große Dunkelheit, die nicht zum Licht wollte, wühlte und stach in ihm.
Ach – Mädchen . . . Was wissen sie denn – und dünken sich doch so viel klüger, dachte er verächtlich und seufzte zugleich.
Betäubt von Luft und Licht, warf er sich, naß, schmutzig, wie er war, auf das weiße Bett, verschränkte die Arme unter dem Kopf, verfiel in das gedanken- und gestaltenlose Brüten, das ihn jetzt so oft überkam und ihn am Ende immer hinabzog in grundlose trübe Laune.
Nein – nein – er wollte nicht mehr stundenlang mit den Fischerjungen zusammenhocken und ihre dummen schmutzigen Geschichten und Witze anhören – Dinge, die ihn ekelten – und doch so gierig an sich zogen. Warum hatten sie nur diese schreckliche Gewalt? Wie an dem Abend, als die Kerle ihm den süßen Schnaps aufnötigten in der großen Bodega am Hafen und er nicht anders konnte, als immer noch ein Gläschen hinunterzugießen, obwohl er doch wußte, daß ihm mit jedem Schluck übler und übler zumut wurde und die Bande nur über ihn höhnte und brüllend lachte, bis er in eine sinnlose Wut geriet und eine Chiantiflasche nahm, sie einem der Ärgsten an den Kopf warf, daß ihm der rote Wein übers Gesicht lief! Welch ein Glück, daß in dem Augenblick Lino eintrat, der ihn suchte, und ein Mordsgeschimpfe anhob. Aber Erich wußte nicht mehr, was weiter geschehen war, Lino mußte ihn wohl in sein Boot getragen und heimgerudert haben – und zu Bett gebracht. Nur gut, ein eigenes Zimmer zu besitzen. So erfuhren die Mama und Irmgard nichts von dem, was vorgefallen war. Sie hielten ihn mit seinen rasenden Kopfschmerzen am nächsten Tage für sehr krank und pflegten ihn mit Liebe und Sorgfalt, die ihn beschämten. Irmelein – dachte er mit unendlicher Zärtlichkeit –, ach, Irmelein – ich kann dich ja doch nicht heiraten – du bist ja doch meine Schwester. Schon im halben Schlummer, fühlte er, wie ihm die Wimpern naß wurden von aufsteigenden Tränen.
Erich hatte es nicht gern, wenn Irmgard sein Zimmer betrat – es war das unberührbare Reich seiner Männlichkeit. Aber er wollte ihr doch den schönen Seeigel zeigen, an dem noch fast alle Stacheln hingen wie braune bewegliche Zigarren. Alles – alles sollte sie sehen, was er sich liebevoll aufgebaut hatte – – –
Der Junge versank in sein schimmerndes Paradies wirrer Träume, die ihn leise in die Bewußtlosigkeit des tiefen Schlafes führten.
*
Girolamo und Lino ruderten nach der Ortschaft, die sich steil als ein graues Häusergedränge zwischen Felsen und Olivenwälder schmiegte. Die Mama hatte sie beauftragt, besondere Lebensmittel für den Vater zu besorgen, Rezepte in der Apotheke machen zu lassen, die sie sonst niemand von den Leuten überließ. In Glenns Zustand war seit einiger Zeit eine entschiedene Verschlechterung eingetreten, und er ließ seine Frau ungern auch nur für eine Stunde von sich. Irmgard hatte sich erboten, alles genau so auszuführen, wie sie es von der Mutter wußte, und war stolz auf deren Vertrauen. Sie holte dann den Bruder bei dem alten Pfarrer ab. Mit Paketen und Obstkörben beladen, gönnten sich die Geschwister, vor einer kleinen Trattoria auf der Straße sitzend, ehe sie heimfahren mußten, noch einen Sirup mit Selterwasser.
Es war ein heißer Sommertag, Erich lief der Schweiß in großen Tropfen über das braune Gesicht, das helle Haar klebte ihm feucht an den Schläfen. Irmgard war blaß und erschöpft.
Vom Meer herauf, wo die schmale Straße mündete, wehte zuweilen ein kühler Wind, der gleich wieder einschlief und den seltsamen italienischen Gerüchen Platz machte, die hinter den braunen Leinengardinen hervordrangen, Düfte nach Fett, Knoblauch, faulem Obst, Fischen und dem Rauch von kleinen Holzkohlenfeuern. Man hörte laute, heftig debattierende Männerstimmen aus dem Innern des Kneipchens. Dann gingen einige Gäste fort, es wurde still. Der Cammeriere, in einer schmutzigen weißen Leinenjacke, kam und zog die Markise auf.
Die Geschwister saßen schweigend und müde, tranken hin und wieder in kleinen wollüstigen Schlucken das eisgekühlte rote, süße Bibite.
Ihnen gegenüber lag zwischen zwei hohen Häusern ein niedrigeres, man sah nur zwei Fenster, mit verstaubten Jalousien verschlossen. Vor dem Hause mußte ein kleiner Hof liegen, den eine vom Salz der See zerfressene, wie mit einem grauen häßlichen Aussatz gefleckte Mauer von der Straße schied. Über die Mauer ragte der Wipfel einer nicht hohen, aber breiten üppigen Palme. Ein graues verrostetes, sehr schmales Pförtchen seitwärts in der Mauer war fest geschlossen.
Irmgards Blick hing an dem Pförtchen, das nicht einmal ein Schloß zeigte, so fest war es in die häßlich gesteckte, zerfressene Mauer eingefügt. Wenn der Wind vom Meere aufstieg, bewegten sich die breiten verstaubten Wedel der Palme ganz leise. Es war die Stunde nach Untergang der Sonne, in der eine lichtlose und doch noch klare blaue Dämmerung allen Dingen eine seltsame Unwirklichkeit gab.
»Erich«, begann Irmgard leise, »findest du nicht auch – das Haus und die Mauer und die Palme haben etwas – ich weiß nicht, wie ich es sagen soll – es wird mir bange . . .«
»Unheimlich«, bestätigte Erich. »Ich dachte eben, wenn die Tür aufgeht, müßte etwas Böses herauskommen. Oh – da – siehst du, sie geht auf . . .«
Das graue Pförtchen öffnete sich nur in einem schmalen Spalt. Eine alte Frau, in ein schwarzes Tuch gehüllt, glitt geräuschlos heraus, schloß das Pförtchen sofort wieder und eilte dicht an der aussätzigen Mauer die steile Straße hinunter, so schnell, daß sie gleich in der Dämmerung verschwand.
Und das seltsame Haus hinter der Mauer und der Palme lag wieder, als sei es unbewohnt, traurig und geheimnisvoll zwischen seinen hohen Nachbarn, durch deren Läden freundlicher Lichtschein spielte.
»Wenn wir einmal die Villa Marina verkaufen müssen«, sagte Irmgard träumerisch, »möchte ich in dem Hause wohnen . . .«
»Ach, Irmgard, nein – es ist so traurig.«
»Ja – es ist schrecklich traurig – darum eben.«
»Glaubst du, daß Papa bald sterben wird?« flüsterte Erich. Irmgard nickte nur mit dem hellen Kopf.
»Er ist oft gar nicht mehr wie von dieser Erde«, sagte sie dann leise. »Er sieht über einen fort ins Leere, in etwas Fernes, was wir nicht sehen . . .«
»Ich fürchte mich, wenn er so durch mich hindurchsieht, als stünde ich gar nicht da«, flüsterte Erich.
»Ich glaube – ich glaube, er sieht dann den Tod.«
»Irmel – das ist furchtbar!«
»Ja – es ist furchtbar . . . Sieh, dort oben ist Licht hinter der Jalousie – ob dort wohl jemand weint?«
Erich faßte mit seiner heißen Jungenhand den Arm der Schwester.
»Hör auf, Irmgard. Du sollst nicht so reden. Mir ist so grausig zumut.«
Irmgard senkte die Wimpern und seufzte.
»Wir wollen zurück zum Boot. Es wird schon dunkel.«
»Pagare!« rief die helle Knabenstimme in den Schenkraum hinein. Der schmutzige Cammeriere kam, und Irmgard nahm wichtig ihr Täschchen, um die kleine Rechnung zu begleichen, während Erich sich mit Tasche und Paketen belud. Schon dachte keins von den Geschwistern mehr an die sonderbare Stimmung, die sie wenige Minuten zuvor befallen hatte.
Da fuhren sie in heftigem Schrecken zusammen und standen entsetzt. Ein Schrei – ein gellender Schrei drang von unten her, vom kleinen Hafen, den Engpaß der Straße herauf. Ein lautes Durcheinanderrufen und Jammern vieler Stimmen folgte. Und sofort, binnen weniger als zwei Sekunden, war der Steinweg zwischen den Häusern angefüllt von laufenden, gestikulierenden Menschen: Männern, Weibern, Kindern, die in Angst und Neugier zum Strand hinunterstürzten. Irmgard und Erich wurden in die wilde Jagd hineingezogen, drängten heftig durch die Menge, sprangen in großen Sätzen die steile Straße, die bröckelnden Treppen hinab.
Das Rauschen der Brandung übertäubend, tönte das Geschrei, das Rufen und Klagen der Bevölkerung der kleinen Ortschaft, die sich dunkel gegen das dunkle Meer um einen Kahn zusammenscharte, aus dem die Fischer eine Last emporhoben und vorsichtig ans Land trugen. Und wieder der gellende Schrei. Eine Frau warf die Arme gen Himmel, daß ihr schwarzes Tuch wie dunkle Flügel sie umwehte, brach in die Knie bei dem Toten, den die Männer auf der Mole vor ihre Füße niederlegten.
»Adriano – Adriano–« hörten die Kinder rufen. »Oh – la Poveretta – er war ihr Einziger . . .«
Adriano . . . Erich faßte den Arm der Schwester, ließ wieder los, stieß mit Gewalt in den Menschenknäuel, stand vor dem braunen Knaben, einem der Spielgefährten der letzten Wochen, der, von dem spärlichen Licht hin und her flackernder Laternen getroffen, vor ihm auf dem Steinpflaster lag. Das Wasser, welches aus seinen schwarzen Haaren, aus seinen spärlichen Kleidern rann, bildete um ihn eine Lache, tränkte das Tuch der Mutter, die den Kopf, den regungslosen, hob und in ihrem Schoß bettete. – Eine Mater dolorosa, saß sie so, mit den zitternden Händen vergeblich das Wasser aus den Locken streichend. Ihre Hände wurden rot von Blut, eine Wunde am Hinterkopf war die Ursache seines Todes. – Wie war es geschehen? Er war aus dem Boot gestürzt, unvorsichtig – waghalsig, und die Wellen der Brandung hatten ihn gegen den Felsen geschleudert, ehe man ihm zu Hilfe kommen konnte.
Ehrfürchtig, die Kappen von den Häuptern genommen, standen die Männer um die Leiche.
Ein Priester mit dem Allerheiligsten nahte, das Glöckchen des kleinen Mesnerknaben bimmelte, die Frauen und Kinder fielen auf die Knie, auch die nassen, halbnackten, wild ausschauenden Männer neigten das Knie – eine feierliche Stille entstand – der Priester beugte sich über den Knaben, legte die Hand auf seine entblößte Brust, faßte den Puls – hob sich mit Seufzen. Hier war nichts mehr zu tun. Die Weihen der Kirche für den Sterbenden kamen zu spät. Der hohe alte Mann in der schwarzen Soutane stand feierlich zwischen den Knienden, Schluchzenden – legte die Hände zusammen, sprach murmelnd ein Gebet, murmelnd, sich bekreuzend, beteten Frauen und Kinder – es ging wie ein leises Windesrauschen durch die Menge.
Eine Bahre wurde herbeigetragen, man wollte den schlanken jungen Toten emporheben, doch die Mutter weigerte sich zu verstehen, schüttelte unaufhörlich den Kopf, bis der Priester ihr gütig zuredete. Geduldig wartete die Menge, in der die wilden Entsetzensausbrüche zu feierlichem Flüstern und stillem Weinen verebbten. Endlich war es geschehen. Vier Männer hoben die Stangen der Bahre, der Priester schlug das Kreuz über den jungen Adriano, seine Mutter, von den Nachbarinnen unterstützt, wankte taumelnd in eintönigem Stöhnen neben dem Toten. Männer, Kinder, Frauen formten sich wie von selbst zu einem Trauerzuge, der langsam die Treppen der engen Straße emporstieg.
Die Geschwister standen allein auf der Mole, sahen bestürzt mit nassen Augen dem unheimlichen Zuge nach.
»Ob er in dem traurigen Hause wohnte? – Ob man ihn dorthin trägt?« hauchte das Mädchen in die Nachtluft.
»Frage nicht – frage nur nicht«, flüsterte Erich. »Ich will es nicht wissen.«
»Dort kommt Lino.«
Er bat die Kinder, in das Boot zu steigen – es sei dunkel, und die Padrona werde sich ängstigen. Mit einer Art von feierlicher Vorsicht half er ihnen. Der alte Girolamo griff nach den Rudern. Während Lino das Boot steuerte, berichtete er dem Vater die Einzelheiten, die er über den Unglücksfall erkundet hatte.
Adriano war keiner von den Fischerjungen, er war etwas Besseres, wohnte mit der Mutter oben in der Stadt. Sein Vater hatte ein großes Schiff geführt – war mit ihm in einem Sturm untergegangen. Seitdem waren sie verarmt. Der Junge wußte nichts anderes als das Meer . . .
»Ja, ja«, sagte Girolamo in dem Ton eines düsteren Propheten, »das Meer – das weiß, wen es holen will – auf manche Familien hat es seinen Willen gerichtet. Gott helfe den armen Seelen.«
Die Geschwister saßen in der Mitte des Bootes, auf dem kleinen Bänkchen, eng umschlungen, als seien sie nur zwei Hälften eines Menschen. Sie hörten die beiden Männer miteinander reden wie Stimmen aus angstvollen Träumen. Schrecken und Trauer hüllten sie ein, hoffnungslos quälend, wie sie die erste Jugend überfällt, in der Blut und Seele sich für das Leben bereiten, dessen Furchtbarkeit sie ahnend empfindet – eine Furchtbarkeit, der nicht zu entrinnen ist. Unbegreifliche Schmerzen stehen wartend, ein dunkler Wille strebt zu ihnen hin, während das glückbegierige Herz vor ihnen zurückschaudert.
Ihre Kindheit, überschattet von dem Schicksal eines langsam unter entsetzlichen Schmerzen Sterbenden, war dennoch sorglos und fröhlich gewesen. Nun zerriß der Vorhang – in dem Anblick des ertrunkenen Knaben erlebten sie den Tod.
Zwei Tage nach dieser Bootfahrt über die nächtliche See endete Michael Glenns schwerer Kampf mit den geheimnisvollen Lebewesen, die seinen starken Körper verwüsteten. Er losch aus, wie der letzte Funke einer Kerze verglimmt, wenn der Brennstoff bis zum Rest verzehrt ist.