Gabriele Reuter
Irmgard und ihr Bruder
Gabriele Reuter

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XV

Jenem Abend, an dem Jakob Urich so hingegeben glücklich mit der jungen Lydia getanzt hatte, waren Wochen unbändiger Qualen für Irmgard gefolgt. Es gab keinen Tag mehr, an dem der Freund ihr nicht Dornen ins Herz stieß. Ahnungslos? Oder um sie zum endgültigen Verzicht vorzubereiten? – Männer werden sehr grausam, wenn ihre Flammen verglüht sind und die früher Geliebte ihnen im Weg zu einem neu ersehnten Ziel steht.

Irmgard wußte, daß Jakob Urich, der von vielen Frauen Begehrte, ihr nicht immer treu geblieben war. Das lag nicht in seiner Natur. Das schöne Modell – die eitle Salondame, die mit ihrer Eroberung zu prahlen wünschte, eine Bühnenkünstlerin, der raffinierte Laster nachgesagt wurden – manche hatten ihn schwach oder eroberungslustig gesehen. Ging Urich allein auf Studienreisen, so wußte Irmgard schon Bescheid. Besaß sie ein Recht auf seinen ungeteilten Besitz?

Sie verlor selten und nur in leichtem Spott ein Wort über solche Abenteuer. Dergleichen war ihm eben notwendig zwischen seiner Arbeit wie andere Luxusgenüsse. Kam er nach kurzer oder längerer Zeit zu ihr zurück, dankte er für ihre Diskretion mit zarten, lieben Aufmerksamkeiten, mit einer beinahe demütigen Hingabe, die ihm nicht alltäglich war.

Sie blieb die Gefährtin seines besten Lebens: seiner Kunst, seines Heims, seines Kindes.

Irmgard verstand: diesmal ging es nicht um eine Eroberung oder Verführung. Aus entschwundener Vergangenheit spannen sich Fäden zu neuer Zukunft. Der blühende Bacchantinnenkörper, die wilde Anmut der Ringellocken, der fordernde Glanz der dunklen Kirschenaugen, der Übermut eines lebendigen Temperamentes weckte in dem alternden Manne Träume erster Jugendwonnen.

Irmgard hatte stets gewußt: sie besaß nur eine Feindin in Jakobs Herzen: die ferne Frau in dem Hause der kranken Geister.

Hatte eine von Jakobs jähen Untreuen die Unglückliche in Verwirrung gestürzt, zu einer Zeit, da ihre Nerven durch die Geburt des Kindes sich in einem besonders erregbaren Zustand befanden?

Irmgard hatte es nie erfahren, doch die Gräfin Schlodern hatte einmal etwas Derartiges angedeutet.

Rächte sich die Tote nun für ihr zerstörtes Dasein? Wurde sie lebendig im verwandten Blut und Geschlecht – holte sich vampirhaft, in geheimnisvoll magischer Macht den Mann zurück in ihre Kreise?

Liebte Lydia den Onkel? Irmgard bezweifelte es. Sie flirtete, tanzte, lachte mit jedem, der ihr huldigte. Und Jakob Urich litt – litt bis zur Erschütterung seiner gewaltigen physischen Kraft. Er wurde bleich, schlaflos, hohläugig.

Irmgard sah alles – sie kannte jeden Zug in dem bedeutenden Antlitz, das zuweilen mit dem Ausdruck bittenden Flehens auf sie gerichtet war. Jakob kam ihr vor wie ein krankes edles Tier im Käfig seiner Leidenschaft.

Mitleid schlich sich in ihre Empfindung, in ihren Kummer. Irmgard fragte sich oft, ob Mitleid die Kraft habe, Liebe langsam zu vergiften, bis sie nur noch eine welke, sterbende Pflanze war.

Ihr Stolz lehnte es ab, sich mit dem jungen Geschöpf in einen Kampf einzulassen. Ich liebe den Mann ja nicht mehr – fühlte sie, darum verlor ich die Gewalt über ihn. Und sie verachtete sich um der Mattheit ihrer Seele, ihres Leibes willen.

Zuletzt blieb nur das Verlangen, den schweigend hinuntergewürgten Qualen ein Ende zu machen.

Während Jakob im Sommer in Carlys Begleitung auf dem Gut der österreichischen Verwandten weilte und nur noch selten eine Nachricht, ein kurzer Kartengruß oder ein Brief mit geschäftlichen Anweisungen zu ihr kam, verließ sie still, unauffällig sein Haus. Eine Bekannte, die nach dem Süden ging, übergab ihr ein gutes Atelier mit angrenzendem Schlafraum. Irmgard schrieb dem Professor, sie sehne sich, ausschließlicher als bisher ihrer Kunst zu leben. Auch werde ihr Bruder doch wohl in absehbarer Zeit nach Deutschland zurückkehren, und da müsse Jakob verstehen, daß sie allen Unklarheiten in ihrem Dasein ein Ende zu machen wünsche.

War es Feigheit, Furcht vor Szenen, daß sie die Wahrheit vorsichtig umging? Sie hoffte, Urich würde zwischen den Zeilen zu lesen verstehen.

Doch kaum zurückgekehrt, suchte Jakob Irmgard auf. Es gab eine heftige Auseinandersetzung zwischen den beiden Menschen, die acht Jahre hindurch vereint gewesen waren. Nicht ohne Tränen von seiten der Frau, mit überraschenden Zornausbrüchen von dem Manne.

Jakob Urich faßte ihr heimliches Verlassen seines Hauses geradezu als einen Verrat an seinem Vertrauen auf.

»Ich ging, ehe du mich hassen lehrtest«, sagte sie weinend.

Sie treibe ihn zu Entschlüssen, die noch wirr in ihm wogten – die vielleicht noch hätten zurückgedrängt werden können.

Das eben habe sie gewollt – ihm den Kampf erleichtern.

Und das Kind – Carly? Solle er vor ihr als ein treulos Schuldiger dastehen?

Die Erklärung, daß sie jetzt zwischen ihm und dem Bruder habe wählen müssen – und den Bruder gewählt habe, werde sie gut verstehen.

Ein scharfer Blick durch die Brillengläser traf die blasse Frau. In dem Manne zuckte Eifersucht auf. Es sei der Bruder, der zwischen ihnen stehe – viel mehr als eine Leidenschaft von ihm, die sie ins Maßlose übertreibe – die vergehen würde . . .

Sie hob die vom Weinen schweren Lieder. Blickte ihn groß und tief an.

»Jakob – ich kenne dich doch . . .« So erschütternd innig war der Schmerz in ihrer Stimme, daß er plötzlich auf die Knie vor ihr fiel, ihre Hüften umklammerte, den großen roten Kopf in die Falten ihres Kleides wühlte.

»Ich kann dich nicht entbehren – ich muß euch beide haben!«

Ein Lächeln voller Weh verzog ihr den Mund, sie strich ihm liebkosend mit den weißen Fingern durch das brennende Haar, das immer eine heiße Lust in ihr geweckt hatte.

»Später – viel später einmal können wir wohl Freunde werden«, sagte sie leise, glaubenlos, mit einer Entsagung, die weit in die Zukunft ging. »Jetzt mußt du nur frei sein – und ich auch«, fügte sie hinzu.

Er war aufgestanden, ging erregt mit starken Schritten in dem großen Raum umher.

»Es ist doch der Bruder, der dich von mir treibt«, knurrte er wie ein großes gereiztes, böses Tier. »Glaubst du etwa, ich hätte nie gefühlt, wie dein Herz immer an ihm hing – diesem überseeischen Wilden –, mit dem du doch nie eine geistige Gemeinschaft haben kannst . . .«

»Blutgemeinschaft ist stärker«, murmelte sie bestürzt.

Ein sonderbarer Laut, der wie »Ha!« klang, kam aus Jakobs Kehle.

Er riß die Widerstrebende an sich mit der unbändigen Manneskraft, die in den Augenblicken der Leidenschaft von ihm ausging, küßte ihren Mund, ihre Wangen, Augen und Hals mit zahllosen Küssen.

»Sei noch einmal mein«, flüsterte er an ihrem Ohr.

»Laß mich – laß mich«, flehte sie schluchzend, seine Küsse erwidernd und sich von ihm losringend.

»Ich hasse den Kerl«, stöhnte er. »Irmgard – –« sein Auge sah von ihr fort, starrte ins Unbekannte. »Liebe Irmgard, mir bangt vor der Zukunft. Glaube mir das. Wie soll ich diesem dionysischen jungen Geschöpf Genüge tun?«

»Du besitzest unerschöpfliche Jugend«, antwortete sie mit Überzeugungskraft.

»Meinst du?« Der große Künstler nahm die Brille ab, erschien hilflos – tief beunruhigt. »Denkst du, daß – daß ich wagen darf, um Lydia zu werben? Sage mir die Wahrheit.«

»Ich glaube, du darfst es, sie wird gewiß nicht nein sagen.«

»Stelle ich mir vor, sie würde einem anderen gehören – morden müßte ich ihn.«

Irmgard hob die Arme, machte eine entsetzt abwehrende Bewegung. »Du wirst sie gewinnen«, murmelte sie in Todesmüdigkeit. »Geh jetzt, Jakob.«

Er sah das Versagen ihrer Kraft, nahm ihre beiden Hände, küßte sie ehrfurchtsvoll und sagte ernst:

»Du bist eine große Frau, Irmgard. Ich danke dir. Ich danke dir von ganzem Herzen.«

—   —   —   —   —

Irmgard hatte ehrlich geglaubt, daß auch ihre Liebe zu Jakob Urich durch die Zeit und manche enttäuschende Erfahrung abgeblüht sei, wie Blumen im Herbst verblühen. Mit jener Rücksichtslosigkeit, mit der sie ihre eigenen Gefühle behandelte, sagte sie sich, es sei nur ihr Stolz, der leide, ihre weibliche Eitelkeit schmerze es, daß sie sehen mußte, wie der große Mann und Meister von dieser Jugend – die nichts geben konnte als eben Jugend – in Schauer der Qual und Wonne und eines nur mühsam gebändigten Begehrens gerissen wurde.

Sie hatte an ein ernstes, ihrer Arbeit hingegebenes, im Grunde befriedigtes Dasein gedacht. Den leisen Schmerz, der zurückbleiben würde – ihn getraute sie sich mutig zu tragen. War er nicht immer in ihr gewesen, mit ihr gegangen bis in die Augenblicke höchster körperlicher Lust – seit jener fernen Nacht in Paris, als Jakob im Traum an ihrer Brust den Namen seines kranken Weibes zärtlich geflüstert hatte? Lydia . . .

Plötzlich hob die Leidenschaft wieder ihr Haupt – sah sie an mit verzehrenden Augen, berührte sie mit züngelnder gespaltener Zunge, griff nach ihrem Fleisch, biß hinein mit den Giftzähnen. Irmgard sah sie in visionärem Entrücktsein als etwas wirklich Seiendes, von außen sich an sie herandrängend, ein Geistgeschöpf von schauerlicher Schönheit, aus grünlichem Sumpf hob sie sich tückisch, reckte empor den Schillerleib, mit gelben Lichtern auf grauer und bläulicher Bronze – – sie sah ihren saugenden, verlangenden Blick, der mitten durch ihre Seele ging.

O grausam – grausam der Mann, der sie nicht von sich lassen konnte, ohne ihr noch einmal mit seinen Küssen die Erinnerung an alle Stunden der Lust, die sie vereinte, zu wecken. – Der das Gefühl mit sich nehmen mußte in die Freiheit zur andern: das Weib, das ich besaß, wird sich winden in Sehnsucht nach mir.

Und sie schluchzte und rang Nächte hindurch mit dem Trieb, den sie abgestorben gewähnt hatte. Sie sah die prachtvolle geniale Stirn unter dem brandroten Haar, spürte den starken Tierduft des Mannes, Worte kamen ihr zurück, die er gesprochen, die ihr Erleuchtungen unvergänglicher Art gegeben hatten. Und sie reckte die Arme nach Jakob Urich – hielt ihre armen heißen Lippen geöffnet nach seinen Küssen in das leere Dunkel.

Sie, die immer klar über sich gewesen, wußte nicht mehr Bescheid in sich. Gegensätzlichstes wogte ineinander, Melodien trunkener Gefühle wechselten mit trauriger Kälte und grauer Dumpfheit, einem inneren Schlaf, der geistigem Tode glich.

Sie sah keinen Menschen – ging nur im Finstern auf die Straße, erledigte das Alltägliche mit völliger Gleichgültigkeit.

Stundenlang konnte sie auf einem Stuhle sitzen oder auf dem Diwan liegen und in die Luft starren.

Warum schrieb sie nicht an Erich? – – – Wozu? fragte sie sich hoffnungslos. Er besaß die Mittel zur Reise und war nicht gekommen. Seine Schuld, seine militärische Pflicht, alles war verjährt in diesen fünfzehn Jahren – er hatte nicht an die Rückkehr gedacht. – Warum sollte sie sich demütigen und ihn rufen?

Er mochte wohl ein Weib haben und Kinder, die ihn fesselten – sie begehrte nicht danach, es zu wissen. Die Auskunft des Dr. Schöler hatte hinterhältig geklungen. Mochte der Bruder weiter sein eigenes Leben führen – warum sollte sie ihn aufstören? Nur nicht an Schicksale rühren, sie mit dem Willen lenken wollen, die sich aus sich selbst folgerichtig aufgebaut hatten.

Jakob Urich sprach wahr: keine Geistgemeinschaft verband sie mehr mit dem Bruder – und Blutsgemeinschaft, ach – das war wohl nur eine Illusion der Erinnerung.

Was sollte ihr Erichs Gegenwart, flüsterte im Dunkel des Unbewußten eine Stimme, solange sie noch gierig um Jakob kämpfte? Nein – sie wollte ihn nicht in ihrer Nähe haben – ihm nicht in die Augen sehen.

—   —   —   —   —

Es war an einem Morgen des frühen Herbstes, der sich in keiner Hinsicht von vielen seiner Geschwister unterschied, als Irmgard erwachte, nach einem Schlaf, wie sie ihn so tief und erquickend lange nicht genossen hatte. Mit noch geschlossenen Augen lag sie zwischen der Bewußtlosigkeit der Nacht und dem Leben des Tages. – Schwebend in einem Zustand von unbestimmter, grenzenloser Erwartung, wagte sie nicht, Hand noch Fuß zu rühren, nicht den Kopf zu wenden, aus Furcht, das Nahende zu verscheuchen. Hingegeben einer bangen Seligkeit, die aus vergangenen Mädchenzeiten ihr vertraut war, beobachtete sie, gleichsam gespalten in zwei Wesen, wie sich in ihrem Innern das künstlerische Bild formte, wie aus wallenden Gefühlen von wunderbarer Stärke die Farben quollen. Die Harmonie des Braun und Grau und eines leichten blauen Hauchs gegen das harte giftig-schwellende Grün der verfilzten fetten Sumpfpflanzen, die das trübe Gewässer umgaben, auf dem sich der Leib der Viper lang und schmal zur Höhe reckt, mit einer sonderbar eleganten Biegung das kleine goldene Köpfchen zum Beschauer wendend: die Schlange Leidenschaft. Losgelöst aus ihr selbst, für sich seiend – ein Gebilde, dem sie, Irmgard Glenn, zum Leben verhelfen mußte, wenn sie nicht an seinem Gift sterben sollte.

Aus dem Ringen mit dem Tode wurde ein Ringen um das Leben ihrer Seele.

Sie lag, hingegeben in frommer Andacht dem in ihr Werdenden. Wollte nichts sonst in der weiten, reichen Welt. Gut war es, allein zu sein – nicht die starke Natur neben sich zu spüren, die, wuchtiger als die ihre, mit Frage, Anteilnahme, Kritik eingriff in den Vorgang zartester Empfängnis. O Einsamkeit, schmerzvolles Glück – herbster Genuß, Erfüllung tiefsten Bedürfnisses – überwölkt vom Weh der Sehnsucht, die da schaffend wird. – – –

Vor der aufgespannten Leinwand stand Irmgard Glenn und wagte keinen Strich zu tun. Jene Naivität des ungekonnten, unbewußten Arbeitens ihrer Jugend war zerstört. Und wieder mußte sie warten. Begann Schlangen hinter den Glaswänden des Aquariums zu studieren. Junge, alte – Schlangen aus Indien und aus Afrika – aus Ägypten, und aus den deutschen Torfmooren die feine, grazile Kreuzotter. Wurde immer zaghafter, weil sie zwischen der Impression der Wirklichkeit und der Erscheinung des Phantasiebildes mitteninne stand. Ihr Herr und Meister hatte sie streng zu der Darstellung der gebrochenen hellen Licht- und Lufttöne geführt, sie hatte gelernt, mit seinen Augen die Natur zu sehen – und nur aus der Wirklichkeit die Kunst herauszuholen.

Nun mußte sie den Mann in sich überwinden, zu den verborgensten Quellen ihrer eigenen erkennenden Weiblichkeit hinabtauchen. Mit dem gewonnenen Können die Wirklichkeit von sich fortschieben, die mystische Romantik ihres eigenen Gefühls im Bilde formen. Mit der Helle der Erkenntnis, die sich in ihr so eigentümlich dem inneren Schauen verband, sah sie alle Gefahr des Weges, den sie beschreiten mußte. Endete dieses Neue im Dilettantismus, war es der letzte Versuch zum lebendigen Sein. Sie war todesbereit.

Diesem Kampf waren Irmgards Herbst- und Wintermonate geweiht. Zahllose Leichen ungenügender Versuche bedeckten den Boden ihres Studios, und sie trat die verfehlten Blätter mit Füßen. Tagelang nahm sie keine Nahrung als eine Frucht, ein Stück Brot oder Schokolade, was ihr zur Hand lag. Oder sie lief durch den Regen, den Nebel, den ersten Schnee in den Kiefernwald. Und wieder saß sie, ohne zu zeichnen, vor den Glasscheiben der Aquarien, hinter denen es sich in den erwärmten Gewölben, unter künstlichem Licht aus dem Sande hervorbewegte, nach der Besucherin züngelte. Und Irmgard versuchte den Blick des Tieres zu fangen, sobald es den Kopf hob – versuchte, es mit dem eignen Auge zu bannen. – Oder sie ließ alle Studien sein. Aquarellierte nach Medusen und Fischen, Linien, Farben – wie es ihr die Laune eingab. Das wurde gut – sie hatte ja viel gelernt an Jakob Urichs Seite – sie konnte sich mit diesen Sachen sehen lassen. Doch: es war nicht, was sie wollte . . .

Und zuletzt sank sie für länger als eine Woche ganz in sich selbst zusammen – litt nur – litt – hoffte nicht mehr, rang mit Kräften des Schmerzes, die sie zerrissen – und nun kam es – kam die Erleuchtung. – Binnen weiteren zwei Wochen hatte sie das Bild vollendet. Nannte es weder Leidenschaft – noch Schuld oder Sünde. Nannte das Bild einfach »Die Schlange«: nach dem Tier, das im Schatten des fetten Urwaldgrüns aus dem schillernden Wasser aufstieg, mit der nachlässig-eleganten Bewegung dem Beschauer seinen kleinen Kopf zuwendete, ihn anblickte.

Was sie gelitten, sie allein, Irmgard Glenn, sprach aus dem Auge des Reptils. Ob ein anderer Mensch das sah, fühlte, nachspürte, war gleichgültig. Sie hatte sich erlöst.

Nun wurde sie froh, tätig, in heiterer Zuversicht. Jetzt schrieb sie ohne weiteres Nachdenken dem Bruder einen sachlich-klaren Brief. Und wartete seiner Antwort, doch ohne Ungeduld.

Weil Jakob Urich eine führende Macht in dem Berliner Ausstellungswesen besaß, sandte sie das Bild nach Hamburg. Sie wollte alles Persönliche an Protektion oder Feindschaft vermeiden.

Der Leiter der Hamburger Kunsthalle kaufte »Die Schlange« für die staatliche Sammlung. Man wußte, wie streng das Urteil dieses Mannes, wie tief sein Wissen um das Wesentliche in der Kunst war. Sein Privatbrief sprach Irmgard aus, sie sei zurückgekehrt zu den ersten Versuchen ihrer so persönlichen Kunst – die er vor Jahren mit starkem Interesse kennengelernt habe. Nun sei die höhere Stufe erreicht: aus unbewußtem Tasten zur Meisterschaft seelischer Darstellung.

Irmgard war tief beglückt.

Sie stellte in der zur Zeit am meisten beachteten Kunsthandlung in Berlin ihre übrigen Bilder und Studien aus: seltsame farbige Fische, Quallen, phantastische Meergewächse. Die Kritik, günstig beeinflußt von dem Ankauf der »Schlange« durch den Hamburger Direktor, feierte ihre Leistung in Tönen der Begeisterung. Einzelne spotteten, um, wie sie hofften, Urich zu gefallen. Es war in Berliner Kunstkreisen bekanntgeworden, daß ein Bruch zwischen Urich und Irmgard stattgefunden habe, und man redete viel von einer bevorstehenden Heirat des Professors mit seiner schönen jungen Nichte. Der Kunsthändler erzählte jedem, der es hören wollte, Professor Urich habe am frühen Morgen, ehe die Säle für das Publikum geöffnet waren, wohl eine Stunde lang vor den Bildern seiner früheren Schülerin geweilt. Diese Tatsache, die man nicht zu deuten wußte und die deshalb interessant war, schuf die kleine Ausstellung zur Sensation.

Das unbegreifliche, mystische Leben, die bezaubernden Farben dieser stillen Naturwesen wirkte auf manche der feinnervigen, überkultivierten Frauen wie ein Rausch. Sie drangen mit der Zähigkeit des Willens, die diesen zarten Großstadtgeschöpfen innewohnt, bis in das stille, verborgene Atelier der Malerin. Sie wollten nebenbei eine Gebrochene trösten. Eine noch immer schöne Frau von stolzer Haltung mit klaren Augen trat ihnen entgegen, sie mit freundlicher, doch kühler Sicherheit begrüßend.

Auch diese Überraschung war eigenartig und steigerte die Schwärmerei, von der Irmgard sich plötzlich eingehüllt fühlte. Die Ausstellung war noch nicht geschlossen, und schon war die größere Hälfte der Studien verkauft. Der Erfolg erfüllte Irmgard mit Genugtuung, obschon es ihr schwer fiel, sich von den Arbeiten zu trennen, die aus ihren Leiden entstanden waren.

Sie mietete ein benachbartes Atelier, um einige von den Schülerinnen aufzunehmen, die ihren Unterricht begehrten. Sie mußte sich eine Existenz gründen und wußte gut genug, daß die Gunst des Publikums schnell wechselt, schon morgen sich einem neuen Stern zuwenden könne.

Im Hintergrunde stand bei allem, was sie dachte, tat, unternahm, die Frage: War ihr Brief zu Erich gedrungen? Würde er ihren unausgesprochenen Ruf fühlen? Würde er kommen?

Anfang Juli hielt sie sein Telegramm aus Lissabon in den Händen.

 


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