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Luise Glenn und ihre Tochter waren immer stille Menschen gewesen. Nun saßen sie sich stundenlang gegenüber, und keiner von ihnen redete ein Wort.
War Fred Olarsen tot? Irmgard erschien es unmöglich, seine Mutter zu fragen. Erich war verschollen, damit sank für sie ein schwerer dunkler Vorhang über das Geschehene. Die Polizei beunruhigte sie nicht weiter.
Frau Luise äußerte sich niemals. Geduldig, wie sie den Gatten durch Jahre gepflegt, wie sie sein qualvolles Sterben mit ihm gelitten hatte, nahm sie das Schicksal ihres Sohnes auf ihr Herz. Er hatte ihr neues Leben sein sollen und wurde ihr langsamer Tod. Sie blieb hinfällig und sehr schwach. Sie schleppte die Tage mühselig hin. Menschen mochte sie nicht mehr sehen, auch nicht die Verwandtschaft, als diese sich später wieder näherten. Ihr Kopf war noch müder als ihre Glieder. Man durfte annehmen, daß in dem absterbenden Gehirn auch der Schmerz sich zu dem dumpfen Gefühl eines fernen Verlustes sänftigte. Irmgard hatte viel Arbeit mit ihrer Pflege. Gleichförmige, freudlose Arbeit. Denn konnte sie wünschen, daß die Mutter sich wieder erhole?
Monate – Jahre flossen dahin. Cläre kam hin und wieder ins Elternhaus, suchte auch Irmgard auf, zeigte mit Besitzerstolz ihre kleinen Jungen und Mädchen, niedlich gekleidet, pausbäckig und rosenrot. Sie wagte nicht, nach Erich zu fragen.
Einmal, als Irmgard in den Spiegel schaute, mußte sie bemerken, daß das weiche, schöne Oval ihres Gesichtes verschwunden war, die Linien vom Ohr zum Kinn scharf geworden und ihre Lippen blaß, der Mund allzu schmal zwischen den weißen Wangen.
Verblüht – dachte sie. Warum auch nicht?
In ihrem Innern war das Leben nicht tot. Es brannte in heimlichen Flammen. Sie hatte viel Zeit zum Grübeln, zum Denken und Träumen. Und sie fügte sich nicht wie die Mutter. Sie nicht!
Mörder – Erich. Mörder . . . Irmgard wiederholte das furchtbare Wort in ihrem Herzen, wie man einen glühenden Stift in eine Wunde stößt, bis der wütende Schmerz das Bewußtsein betäubt.
Sie fühlte mit unumstößlicher Gewißheit: es hatte sich um sie – um ihre Person gehandelt bei dem Streit – sie war unschuldig-schuldig an dem Geschehenen.
Erich – mein Erich – wir sind ja eins. – Und es war ihr, als lade sie mit dieser Erkenntnis einen Teil von dem Schweren auf die eignen Schultern – befreie so den Bruder von untragbarer Last. Zugleich stand etwas Grausames in ihr auf. Sie hatte keinerlei Mitleid mit diesem unglücklichen Olarsen, der irgendwo fern an der afrikanischen Küste starb. – Nein – sie haßte ihn mit einem wütenden Haß, der das leidenschaftlichste Gefühl war, das sie je in ihrem stillen Mädchenleben empfunden hatte.
Der Haß machte sie kalt und klar, ließ sie alles Notwendige sicher überschauen.
Erich war geflohen – war nach der kurzen Nachricht, die sie empfangen hatten, in Sicherheit, oder was man so nennen mochte. Seinem eignen Geschick anheimgegeben, das nicht milde mit ihm verfahren würde. Was galt körperliches Leiden, was galt Tod gegen die Qual, die seine arme Seele zerreißen mußte?
Aber dieser Gedanke glitt nur schattenhaft durch Irmgards Kopf – ihm durfte nicht nachgegangen werden.
Wieder und wieder tauchte das Bild auf, das Besitz von ihrer Phantasie genommen hatte, während Erich ihr von der grausigen Tat jenes Löwenbändigers erzählt hatte – sie sah die beiden Gestalten auf den Tauen sitzen, den schlanken jungen Burschen mit den noch kindlichen Zügen und den finsteren, von Leidenschaft und Verzweiflung zerrissenen Mann, unter dem gewaltigen Sternenhimmel der Tropen, umrauscht von den dunklen Wogen der Ozeane. Sie hörte die heisere Stimme leise raunen und konnte sich nicht von der Vorstellung befreien, als habe der schreckliche Mann den jungen Knaben mit dem Fluche des eignen Lebens belastet.
Erichs Hände – die großen, starken Arbeitshände, die so zärtlich-scheu streicheln konnten, die sich hundertmal liebkosend um ihren Hals gelegt hatten –, rot, klebrig vom Blut eines Menschen – rotes Blut, das hervorquoll aus einer Wunde – rann, strömte – befleckte – wie sie es in der nie zu vergessenden Nacht über Erichs Kinderhände hatte tropfen sehen . . . Irmgard fuhr des Nachts aus dem Schlaf, weil sie es an den eignen Händen spürte – sie sah Blut am Tage wie Purpurwogen, sie konnte keine rote Farbe erblicken, ohne daß ihr übel und schwindlig wurde.
Dann kamen andere Tage, da dieser abscheuliche Zwang sie plötzlich verließ. Was geschehen war, es schien ihr wesenlos, unwahr, einem bösen Traum gleich. Olarsen und Erich fuhren auf der schlanken grünen »Barbara« ums Kap Horn – war das Meer still, so spielten sie Karten mit dem Kapitän, zuweilen redeten sie von ihr, von Irmgard, wie gute Freunde von einem Mädel reden, das sie beide lieben, und in so verschiedener Weise, wie die vielfarbige Liebe es nur zuläßt. Oder auch: Erich saß an Olarsens Krankenbett, hatte ihn um Verzeihung gebeten und sie erhalten – was galt auch eine Prügelei unter Seeleuten – das kam oft vor. Erich war zurückgeblieben, den Freund gesund zu pflegen – am Ende hatte er ihm als Sühne versprochen, ihm die Schwester zur Frau zu geben. Irmgard war bereit, sich zu opfern, den Bruder von der Schuld zu entlasten.
Ach – alles war nicht so böse, als es den Anschein hatte. Ein Brief von Erich würde Erleichterung der Herzen bringen können.
Sie wartete – lief jeden Morgen dem Postboten entgegen. Der Brief kam nicht.
War Fred Olarsen tot?
Schuld – – – Was war Schuld? Tief vergrübelte sich Irmgard Glenn in den Begriff, in das Wesen der Schuld, so fremd ihrem reinen Mädchensein. Unbegreiflich und nun so schauerlich vertraut. Mit einer Schuld, die nicht mehr gesühnt werden konnte, durch die Welt irren – – – War der Tote nicht der größere Verbrecher? –
Wie jeder Gedanke ihr bildhaft wurde, sah sie Kains, des Fliehenden, Antlitz vor sich – halb tierisch noch –, das Urwesen der Schuld, mit den um Hilfe jammernden Augen der erwachenden Menschenseele – groß – erhaben – schrecklich als Schicksal allen kommenden Geschlechtern.
*
Wo war Erichs Ruhestätte, als er das Leben von sich geworfen, ein löchriges Kleid? Wo lag er begraben? Verscharrt von Fremden – ihr süßer kleiner Erich mit den goldhellen Locken, dem frischen Kindermund, aus dem übermütig das helle Lachen klang? Wurden die irrenden Gedanken zu quälend, tauchte Irmgard rettungsuchend in die ferne Kindheit zurück – sah die feinen schlanken Gliederchen des schönen Knaben in ihrer wilden Grazie beim Laufen, Springen, Klettern. Sie erinnerte sich der gemeinsamen Spiele – des pfauenblauen Meeres, der dämmrig-feuchten Grotte, von jähen Blitzen des heißen Sonnenlichtes durchzuckt – und wie das schimmernde Wasser bei der Flut leise hineinglitzerte . . . Dann kamen lindernde Tränen.
Blühten unbekannte Blumen und Gräser auf seinem namenlosen Hügel? Oder lagen weiße Knochen unten auf dem Meeresboden, tief, tief unten – bunte, seltsame Fische glitten lautlos durch das Dämmern der Gewässer über sie hin. Was war von Erich Glenn geblieben? – Einmal hatte er sie in sein Königreich führen wollen – und später war das Königreich zu einem Traumschiff geworden, auf dem er mit ihr die Weite der Welt zu umfahren gedachte. Immer doch sie – nur sie, die Schwester, an die er seine Zukunft band.
Irmgard litt die Liebe, die Sehnsucht wie ein schweres Leid und seufzte seinen Namen in die Kissen, auf daß die Mutter nicht erwache.
Sie begann allmählich zu wünschen, Erich möge nicht mehr auf Erden weilen. Das Unerträgliche würde erträglicher werden. Sie könne um ihn trauern, wie man um Tote weint, bis der Kummer endlich stiller und stiller wird, sich in Tränen sachte von sich selbst erlöst. Zuweilen gelang es Irmgard, für einige Tage und Nächte die Vorstellung seines Todes als eines Unwiderruflichen, einer Befreiung festzuhalten. Plötzlich glaubte sie nicht mehr daran, sah den Bruder hungernd, elend, in Lumpen am Tisch ekler Hafenkneipen sich in Schnaps betäuben. Mit jener Gier nach moralischem Untergang, die neben der Sehnsucht nach Vollkommenheit in seinem Wesen lag.
In ruhigen Stunden meinte sie: konnte er nicht auf einem Schiffe fremder Nationen Dienst genommen haben, noch einmal als Matrose fahren? Wer mochte sich in wilden Ländern um Papiere und Legitimationen kümmern? Hatten nicht andere sich falsche Namen beigelegt? Tat es nicht jener Dompteur, vor dessen Andenken ihr graute wie vor einem Gespenst. Mutlos dachte sie: in solchem Falle würde voraussichtlich niemals eine Kunde von Erichs Schicksal sie erreichen. Sie fühlte es stark. Niemals wollte Erich mit den befleckten Händen und der verwirrten Seele in ihr und der Mutter Leben erscheinen. War er nicht in das Dickicht der Ungreifbarkeit niedergetaucht, und die unermeßlichen Wälder Afrikas waren rauschend über ihm zusammengeschlagen? Wohl durfte er nicht wieder nach Deutschland zurückkehren, selbst in dem Falle, daß Olarsen noch lebte. Der würde nicht ruhen, bis Erich hinter Gefängnismauern seine Strafe büßte. – Die wilde Kraft, umschlossen von den Mauern einer engen Zelle – unmöglich, es sich vorzustellen. Außerdem war ja noch der Umstand der militärischen Dienstpflicht, der sich Erich durch seine Flucht entzogen hatte, wahrscheinlich ohne auch nur eine Sekunde an sie zu denken? Irmgard fragte sich zuweilen mit aufsteigendem Groll: Hätte er ihr nicht doch auf irgendeine Weise Nachricht zukommen lassen – sie in ein anderes Land rufen können? Er wollte nicht. Der Urwald oder das Meer hatten ihn verschlungen und gaben ihn nicht heraus. Das war es.
Faulte seine Leiche unter dem grünen Filz der Sumpfpflanzen? Saßen große blaue Schmetterlinge auf dem weißen Schädel und wiegten leise die schimmernden Flügel? Wuchsen phantastische Blumen an dünnen Stielen durch die geliebten Augen, über denen die langen dunklen Wimpern gezittert hatten wie die Flügel der Schmetterlinge?
Im Traum hörte Irmgard das Kreischen der Papageien, sah Affen sich an Baumzweigen schaukeln, sie mit ihrem schadenfrohen Grinsen verfolgen. Gespenstische Tiere tauchten auf, blickten sie traurig und mitleidsvoll an. Sie legte den Kopf an ihren zottigen Hals, und plötzlich war es Erichs Bart, den sie an ihrer Wange spürte. Eine maßlose Freude durchrauschte sie, alles verging, und sie stand im tiefen Dunkel allein.
Sie tat die Arbeit des Tages, tat sie still und pflichtgetreu, war lieb zu der leidenden Mutter, die schweigend das gleiche litt. Ein feines Zartgefühl hinderte die Frauen, miteinander über den gemeinsamen Gram zu reden. Irmgards Seele lebte in der Weite der Welt, in fremden wilden Schicksalen abenteuerlicher Männer.
Es war die Zeit, da Deutschland seine ersten Kolonien erwarb, und sie träumte davon, Erich unter den Eroberern, den Helden auftauchen zu sehen. Aber sie wußte zugleich: dies war eine törichte, unerfüllbare Hoffnung. Erichs Leben war von der Art gewesen, daß es ihm nicht Zeit, nicht Gelegenheit gegeben hatte, im Vaterlands festzuwurzeln, die Heimat seiner Ahnen als ein ihm innerlich Verwandtes zu empfinden. Unentrinnbares Schicksal der deutschen Auslandskinder. Die Mutter wurde durch die vielen Zeitungsberichte in zitternde Erregung versetzt. Irmgard, längst gewohnt, mit der Kranken in einer seltsam unwirklichen Weise zu verkehren, wie Kinder miteinander reden, denen die toten Dinge ihrer Umgebung zu lebendigen Wichtigkeiten werden, sprach nun mit der Mutter von Erichs Heimkehr im Gefolge Peters oder Emin Paschas als von einer nahen Möglichkeit, während sie solche Phantasten für sich mit strenger Geste beiseiteschob.
Nur nicht hoffen – nur das nicht! Sie mußte ihre Energie behalten, solange die gute Mama lebte – und jede Hoffnung würde ihr die Kraft zerfressen.
Wer konnte auch wissen, ob Erich noch in Afrika war? Ob er nicht mit Walfischfängern in den nördlichen Eismeeren trieb? Sie konnte ihn sich nicht in der Kälte, in der Nähe des Nordlichtes vorstellen – warum nur nicht? Es war ebenso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wie alles andere. Aber die Schwester sah ihn im Geiste nur in der sengenden Sonne der Tropen, tiefbraun das Gesicht, den Hals, die behaarte Brust, von der das bunte Hemd zurückgeschlagen war. Sonderbar stand das gelbe Haar gegen das Braun, und die blauen Augen blitzten grell aus der dunklen Umgebung – grausam und kriegerisch waren sie geworden. Wie andere Mädchen erotischen Träumereien nachhängen, malte sie sich aus, daß sie in einer Palmenhütte unter den Negern mit dem Bruder wohnte – man würde sie für sein Weib halten, doch sie trug den breiten Basthut, Stiefel und Hosen wie ein Mann, den Revolver im Gürtel, das Giftsfläschchen an einer festen Schnur unter der Bluse um den Hals hängend, um bei einem Überfall der Schwarzen durch einen jähen Tod sich drohender Marter zu entziehen. Sie ritt und schoß mit dem Bruder, fuhr mit ihm auf ausgehöhlten Baumstämmen auf den verschilften Wassern, die die gewaltigen Ströme durch das von Tierschreien und dem wilden Gekreisch bunter Vögel durchstoßene Dickicht des Waldes sandten. Gefährlich lag das schwarze Gewässer im Schatten der Baumriesen. Sie stand und schlug das Ruder in den Schlamm, sie griff zur Flinte und schoß nach den großen Eidechsen, den Alligatoren, die auf heißen Steinen in der Sonne lagen – sie tat lauter Dinge, die ihrer Natur unmöglich gewesen wären. So gestand sie sich mit einem kurzen scharfen Lachen der Selbstironie.
Alle diese wundervollen Phantasien brachten eine tiefe Befriedigung mit sich, in der sie zuzeiten fast glücklich wurde.
Es gab andere Tage, an denen sie sich zerschlagen, todeselend fühlte. Dann – so hatte sie sich gewöhnt zu denken – ging es Erich schlecht, ein Unternehmen mißglückte ihm, er war krank oder von Schwermut bedrückt. Im Grunde glaubte sie nicht an seinen Tod, und die fortwährende geistige Vereinigung mit ihm ließ sie das eigene dürftige Dasein leichter ertragen.
Irmgard war nicht abergläubisch. Ihr klarer, heller Verstand verwarf solche Notbehelfe der Schwachen im Geiste. Doch ertappte sie sich darauf, nachzurechnen, wann wohl das Bild ihres Bruders von der Wand gestürzt und in Trümmer gegangen sei – und ob das kleine unscheinbare Geschehen mit der Zeit des Unglücksfalles zusammenstimmen mochte. Es war, da sie keine genauen Daten wußte, nicht mehr sicher zu erforschen. Doch konnten weder sie noch die Mutter sich entschließen, das Bild neu rahmen und an seinen alten Platz hängen zu lassen. Es lag in seinem zerbrochenen Zustande in der Schublade, und Irmgard sah es niemals an. Überhaupt vermied sie es, alte Photographien von Erich zu betrachten, und hatte allmählich alles, was von Bildern des Knaben und des werdenden Mannes in der Wohnung stand, fortgeräumt. Die Mutter fragte nie nach ihnen. Wenn die Nachricht kommt, daß er tot ist, werde ich sie wieder hervorholen, dachte die Schwester in einem finsteren Trotz.