Gabriele Reuter
Irmgard und ihr Bruder
Gabriele Reuter

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V

Vier Jahre lang mußte der Seemann auf Segelschiffen fahren, ehe er das Steuermannsexamen machen durfte. Die Schiffsjungenzeit, die schwere, war vorüber. Der junge Leichtmatrose Erich Glenn saß oben im Korb an der höchsten Spitze des schlank ragenden Mastes und hielt Umschau. Die Brigg »Cimbria« lag fast still in der ölglatten blauen Unendlichkeit von Himmel und See, und die Sonne stürzte immer neue Ströme von goldener Glut in das dunkel blitzende Gewässer nieder, als müsse es aufkochen unter ihren rasenden Strahlen. Alle Farben sog das Licht in sich auf, die Weite ringsumher war nur ein unbestimmt erzitterndes Flimmern. Der Junge oben, hoch oben in der kochenden Luft, fühlte dieses Erzittern durch das Holz des Mastbaumes bis zu ihm dringen, es ließ die tote Stille nur noch grausiger erscheinen. Das Segelleinen hing schlapp, die Mannschaft war unter Deck beim Essen, bis auf zwei Kerle, die sich in eine schmale Schattenlinie gedrückt hatten und schliefen.

Der Junge zog seine blaue Mütze tief über die schweißnasse Stirn und stierte durch das Glas. Dort hinten – ganz weit entfernt, am Rand des Horizonts, wo Wasser und Himmel ins eins verschwammen, dort gefiel ihm etwas nicht – es war, als ob dort die Farbe des Wassers plötzlich wechselte, schwarz wurde dort der letzte Streifen, und es schien, als steige das Wasser in den Himmel hinauf. Seltsam – dergleichen hatte er nie gesehen.

Er erhob sich, beugte sich über den Rand des Korbes tief hinab und schrie den schlafenden Matrosen zu, den Kapitän zu benachrichtigen – und in demselben Augenblick jagte ein tosender Windstoß durch die tote Stille – das Schiff stürzte jäh zur Seite – ein Schrei und ein durch die Luft sausender Körper und wieder die vorige erwartende Stille.

Und ein Mensch rang in der blauen Tiefe um sein Leben, tauchte auf, starrte verstört, entsetzt nach der Brigg, die von neuen Windstößen vorwärts getrieben wurde, starrte auf die an Deck hin und her laufende Mannschaft, die in heftigem Schaffen mit Tauwerk und Segeln beschäftigt war.

Die Brigg flog, von den Fittichen des nahenden Sturmes zum Leben geweckt, mit unheimlich wilder Eile dem Osten zu – hatte keiner – keiner der Männer seinen Sturz gesehen, seinen rasenden Schrei gehört? Nein – schon ahnte der Junge: das Geklatsch der schlappen Segel um die Masten, das Klappern und Klirren, das den unerwarteten Windstoß begleitete, hatte die menschliche Stimme übertönt. Er hob sich aus dem Wasser, so hoch er vermochte, er brüllte, was seine junge Kehle hergab, in die Weite.

Jetzt, jetzt schien es, als wendete die »Cimbria«, als arbeiteten die Matrosen, das Schiff zu stoppen – ein Boot für ihn herabzulassen . . . Atemlos hielt Erich inne mit seinen gewaltigen Stößen, lag einige Minuten auf der Seite, das furchtbar schlagende Herz zu beruhigen. Und ein Gedanke durchfuhr ihn wie der Stich eines scharfen Instrumentes: Hatten sie nicht gestern noch Haie gesichtet –? Er griff mechanisch nach dem Messer, das ihm im Gürtel steckte – dachte zugleich mit ingrimmiger Wut, wie unnütz die kleine Waffe gegen das scheußliche Untier sei; doch er behielt es trotzdem angriffsbereit in der Linken – schaute zurück, nein, er konnte die grauen Schatten unter der Oberfläche nicht erspähen. Vielleicht hatte das aufkommende Wetter sie in die Tiefe gescheucht. Und wieder: was er an Kraft des Tons besaß, schmetterte er hinaus – niemand schien ihn zu hören. Nur aus der Tiefe – dieser blau glitzernden gräßlichen Tiefe – stieg es wie dumpfes Dröhnen und wilderes Rauschen, und breiter begannen die Wogen sich zu heben. Er hatte seine Mütze herausgefischt – o Glück, unerhörtes Glück, neben ihm war sie emporgekommen, sicherte nun das Hirn vor dem unvermeidlichen tödlichen Stich der gräßlichen Strahlen. Und Erich legte sich auf das Wasser. Mit den gewaltigen Armen, der Muskelkraft der Beine, die jahrelange Arbeit gestählt hatte, hob und senkte sich der Körper schwimmend auf und nieder durch die kristallenen Wasserberge – und wieder hob sich der Körper, an dem das nasse Hemd klatschte, in die heiße Luft hoch hinaus –, brüllte sein Hilfegeschrei – griffen die Arme kunstgerecht aus, der Brigg nach, die mit prall gefüllten Segeln prachtvoll dahinflog, während die Wellenberge um den Schwimmer immer höher und gewaltiger anstiegen, von weißem Schaume überstürzt. Er nahm sie, einen nach dem andern.

Die »Cimbria« war verschwunden.

Beten? Beten? Einen Gott anschreien in höchster Not, zu dem er nie gebettelt – den er nicht glaubte –, von dem er nie etwas hatte wissen wollen, wenn es ihm noch so erbärmlich ging. Du hast's gewollt – nun trag's, war seine Losung für immer gewesen.

Nein – nicht feige winseln zuletzt.

Nein – nicht beten.

Ihm wurde schwach. In seinen Ohren brauste und dröhnte es, in den Schläfen ein irrsinniges Gehämmer. Er schluckte von dem bitter-salzigen Wasser. Sich sinken lassen? Schluß machen?

Er warf sich auf den Rücken – Irmgard – Mutter – nie wieder . . . Irmgard – Süßes – Liebes. – Szenen wüster Lust – Bilder von Mädchen, die er in den Häfen gesehen, die ihm gefallen, die er genossen, glitten schattenhaft durch das verwirrte Hirn. Irmgard, Schwesterlein – hilf doch!

Diese rasende Gedankenjagd – war das das Ende?

Er sah sich –: die Hände von Wunden zerfetzt, ein heimwehkrankes, hungerndes Kind, lag der Schiffsjunge im kargen Schattenstreif unter der Tropensonne, bis einer kam, ihn mit dem Fuß in die Weiche stieß, ihn hinaufjagte in die schwankende Takelage.

Ein ungeheures Mitleid mit sich selbst überkam Erich Glenn. Was war denn sein Leben gewesen? Ein grausiges Mißverständnis. Und er sah Irmelis süße blaue Augen ihn eindringlich anschauen. »Mein Eri – wird es dir nicht zu schwer?«

»Wen die See einmal hat, den läßt sie nicht wieder. Für das Land bin ich doch verloren . . .«

Und jäh richtete sich Erich hoch aus dem Wasser.

»Nein«, schrie er wild. »Du sollst nicht – du sollst nicht. Ich will – ich will.«

Und tief zog er die Luft in den mächtigen Brustkasten, brach mit seinen Armen durch die Wellen – schwamm ohne Hoffnung –, einzig von einem eisernen Manneswillen getrieben. – Wieder waren die Windstöße der unheimlich drohenden Stille gewichen – das Schwimmen wurde leichter – dort – dort – seine fernsichtigen Seeaugen sahen etwas über den Wellen – das war die Brigg. Und jetzt . . . ja . . . jetzt galt's das letzte – sie setzte ein Boot aus – er sah die Leute arbeiten –, noch einmal hob er sich und schrie; mit dem Fernrohr stand einer vorn im tanzenden Boot – Fred – Fred Olarsen, der gute Junge – jetzt entdeckte er ihn – das Boot kam näher, warf eine Leine aus – es war Zeit – war die allerhöchste Zeit. Er konnte sie noch packen, sich in das Hanfseil verkrampfen, dann wußte er nichts mehr von sich.

Bis er in seiner Koje lag und der Koch mit einem dampfenden Glase Grog vor ihm stand und der Erste Steuermann ihm den Kopf hob und lachend sagte:

»Na – da hätten wir's ja endlich geschafft.«

Ein paar Stunden geschlafen wie ein Toter und dann ins Ölzeug und hinauf an Deck, das die Sturzseen überspülten, wo die Mannschaft in wilden Regengüssen an den Segeln arbeitete, während die »Cimbria« wie ein betrunkener Kerl hin und her durch die eisengrauen Wasserberge taumelte. Der Taifun hatte sie doch noch erreicht. Vierundzwanzig Stunden Kampf auf Leben und Tod – der alte Kasten hielt stand – man hatte es nicht gedacht –, dann gab es wieder für eine Weile Ruhe.

*

In dieser Zeit dachte Irmgard des Bruders nicht viel. Sie hatte sich damit abgefunden, daß der Verkehr mit ihm in einem ewig wechselnden Auftauchen und Abschiednehmen bestand. Was wußte sie von ihm und seinem eigentlichen Leben? Seine kargen Berichte gaben kein Bild von unbekannten Abenteuern – seine Leiden und Freuden waren von ihr nicht mehr nachzuempfinden. Chaotische Kräfte ahnte sie losgerungen am Werk – Kräfte, die ihre verfeinerte Natur nicht mehr verstand, vor denen ihr graute.

Ein absonderlicher Reiz wurde es für Irmgard, diesen fremden, diesen mächtigen braunen Kerl auftauchen zu sehen, der sie in die blau tätowierten Arme nahm und küßte, um nach kurzer Zeit wieder zu verschwinden, als habe ihn die tiefe, unergründliche Meeresflut selbst aufgenommen.

Die erste Liebe kam zu Irmgard, eine schattenhafte, unsinnliche Liebe, die mit Geisterhand ihr Herz umgriff – wehe tat und selige Sehnsucht weckte.

Bei einer Abendgesellschaft im Hause des Justizrats sah sie ihn – einen adligen Gutsbesitzer, der den größten Teil des Jahres auf Reisen lebte, ein schlanker Weltmann von durchgebildetem Kunstverständnis, ein Sammler erlesener alter Dinge. Ein merkwürdiger Fund solcher Kostbarkeit war ihm in dem Kreise der bürgerlichen Familie das schmale hellblonde Mädchen mit den bezaubernden, etwas preziösen Bewegungen und den Händen, die statt von Blut von einer verhaltenen Seelenkraft durchströmt zu sein schienen. Er vergaß, daß er mit dem Justizrat über eine verwickelte Erbschaftsangelegenheit hatte reden wollen, sah nur die weiße Blüte, von einem fernen Gestirn herabgeweht. Und die weiße Blüte öffnete ihren Kelch – begann zu glühen – oh – da brannte auch Leidenschaft . . . Von Bildern redeten sie, die sich kürzlich in die Stadt verirrt hatten, und war es nicht ein Wunder, wie das Mädchen sie begriff – sie schön und farbig mit einem bebenden Entzücken ihm darzustellen verstand. Von ihrer Kindheit und der Villa Marina, der Felsengrotte und dem Meer redete sie halblaut wie von Liebesgeheimnissen. In seinem verstehenden Lächeln, in dem Aufblitzen seiner Augen fühlte Irmgard eine Welt, in die sie gehöre, in der sie wachsen, sich entfalten dürfe.

Erst Jahre später hörte Irmgard, daß jener vornehme Klient bei dem Justizrat nach ihren Vermögensverhältnissen gefragt habe und die Antwort erhalten, sie seien nur dürftig, und es existiere da auch ein bedenklicher Bruder.

Und niemals erfuhr sie, daß der Kenner und Sammler schöner Dinge, wenn in seiner Gegenwart die Rede auf Frauen kam, langsam und zögernd zu sagen pflegte: »Ich habe einmal ein Mädchen gesehen – das war ein vollendetes Kunstwerk. Nicht für den Alltag.«

Doch fester und fester schloß der Alltag sein graues Spinnweb um Irmgard. Sie hatte eine Weile Unterricht bei einer ältlichen Malerin genommen, die widrige Umstände nach Frohnstedt verschlagen hatten. Schnell begriff sie, daß diese arme Person fern war von jeglichem Ahnen um das geheime Leben der Farbe und aller Mächte, die darin himmlisch spielen und musizieren.

Irmgard versuchte allein zu arbeiten. Doch Mühen, Tränen, der in sein Ziel verbissene Wille, der sie immer wieder zwang, nach der Natur zu zeichnen, zu skizzieren – alles war verschwendet. Nichts von dem, was sie ersehnte, wurde erreicht – obwohl sie es doch flüchtig, gleich einer Vision, die schnell wieder verschwindet, mit Seelenaugen erschaut hatte . . .

 


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