Gabriele Reuter
Irmgard und ihr Bruder
Gabriele Reuter

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIV

Die gelben Wachskerzen in den altertümlichen Silberleuchtern brannten auf der Tafel und an den Wänden des Speisesaals, wie es bei den Festen in Jakob Urichs Hause üblich war. Der Meister liebte ihr warmes Licht, das malerisch gedämpft über purpurnen Rosen und kostbarem Porzellan schimmerte, das sich in dem kunstreich geschliffenen Kristall der alten schönen Gläser spiegelte. Die Gesichter, die Schultern und Arme der Frauen und Mädchen aber umhüllte die zarte Beleuchtung mit einer feinen Glorie sanfter, gebrochner Tönungen.

Man hatte sich bereits vom Mahl erhoben, die Gäste verteilten sich in den Nebenräumen. Musik erklang, es sollte getanzt werden. Das Fest galt der Jugend, galt Lydia und Carly.

Die Nichte, die den Professor so unheimlich stark an eine Verstorbene erinnerte, von der er meinte, wenn sie lachend zur Tür eintrat, sähe er seine Frau in ihrer strahlenden Jugend, war nun schon zum zweitenmal Gast im Hause. Sie hatte das Weihnachtsfest mitgefeiert, nun sollte sie auch die Osterferien mit der Kusine verleben. Irmgard zweifelte an der Freude, die Carly über den Besuch empfinden sollte. Das Mädchen verhielt sich kühl und zurückhaltend im Verkehr mit der Verwandten. Irmgard wurden die Tage zu einer schmerzlichen Prüfung. Fräulein Lydia hatte eine überhebliche, kurze Art, mit ihr zu sprechen, ja, sie zu übersehen, durch die sie ihr die Stellung einer Angestellten, einer Untergebenen anwies.

Das war Irmgard eine neue Erfahrung. Bisher war sie von allen Gästen als Herrin des Hauses geehrt worden, wer etwa den richtigen Ton nicht fand, betrat das Haus nicht wieder.

Die schnippische Ungezogenheit seiner Nichte schien der Professor nicht zu bemerken. Irmgard war zu stolz, sich zu beklagen. Ihrem geliebten Kinde sollten durch kleinliche Reibereien die Ferien nicht vergällt werden. Sie war ohnehin nicht froh, obgleich ihr Vater niemals früher so viel freundliche Aufmerksamkeiten für sie gehabt hatte als während dieser Tage. In verschwenderischer Gebelust überschüttete er die beiden Mädchen mit den reizenden Nichtigkeiten, die junge Damen entzücken, auch kostbare Gaben fehlten nicht. Carly nahm sie schweigend in Empfang, Lydia, die muntere, jauchzte laut und fiel dem Onkel in überströmender Dankesseligkeit um den Hals, bot ihm die blühenden Lippen zum Kuß.

Jakob Urich war in die Jahre gekommen, in denen dem Manne der Reichtum des eigenen Lebens schal wird und er einzig von den Kräften frischer Jugend Ströme der Erneuerung ausgehen fühlt.

An dem kühlen Frühlingsabend brannte ein leichtes Holzfeuer im Kamin des Wohnzimmers. Hier hatte sich eine Gruppe von Herren bei Kaffee und Likören um den jungen Afrikaforscher, den Dr. Schüler, versammelt. Er war für sie der Mittelpunkt der Gesellschaft, vor dem Tanz und Flirt als etwas Alltägliches an Interesse verloren. Dr. Schöler wurde mit zahllosen Fragen bestürmt, sollte Auskunft über alles Mögliche und Unmögliche geben. Ein jeder war stolz auf die neu erworbenen oder eroberten Kolonien, hielt mit sicherm Urteil über Dinge, von denen er keine Ahnung hatte, nicht zurück. Auch der Unwissendste war damals genauer Kenner von Ost-, West- und Südwestafrika.

»Ach – Kolonien«, sagte der junge Forscher etwas spöttisch, »sobald sie gegründet sind, werden sie auch schon langweilig. Was wollen Sie – überall, bei allen Nationen bekommen sie in kurzer Zeit dasselbe Gesicht. Wellblechbaracken – weiße niedere Häuser mit der üblichen Veranda – einige armselige Kaufläden mit Tropenhelmen, Maggiwürfeln und Revolvern – Schnapsbuden – und die verräucherten Bierkneipen, vor denen abends im Schweiße nicht nur des Angesichts, sondern auch des ganzen Körpers Skat gekloppt wird. Dünne Palmen – verkommene, freche, stinkige Neger, denn wo der Europäer hinkommt, degeneriert der Schwarze sofort in erschreckend schneller Weise. Du lieber Himmel, die Küstenorte sind wahrhaftig kein erfreulicher Aufenthalt. Ich habe mich immer soviel wie möglich beeilt, ihnen den Rücken zu kehren und mit meinen Leuten in unbekanntes Innenland zu dringen. Dort allein ist für unsereinen noch etwas zu holen!«

Irmgard stand mit der Zigarrenkiste und dem Licht vor ihm und sah ihn ernsthaft, beinahe zu ernst für die Gelegenheit in das braune kühne Gesicht.

Dr. Schöler unterbrach sich, nahm dankend eine Zigarre, zündete sie bedächtig an, sein Blick forschte in dem klugen, wachen Frauengesicht mit den verschleierten blauen Augen zwischen den langen dunklen Wimpern.

»Gnädiges Fräulein«, begann er, »wo in aller Welt haben wir uns schon einmal gesehen? Ich habe Sie bei Tisch fortwährend anschauen müssen und mich gefragt: ›Wann, unter welchen Umständen bist du dieser Dame begegnet?‹ Habe doch sonst ein vorzügliches Gedächtnis . . .«

»Daß Sie mich sehr intensiv beobachten, habe ich freilich bemerkt«, sagte Irmgard, sie setzte Licht und Zigarrenschachtel auf den Rauchtisch und fuhr mit ihrem ruhigen Lächeln fort: »Aber daß wir uns kennen sollten, ist wohl ein Irrtum . . . Sie werden ein Bild von mir in einem Journal oder in einer Ausstellung gesehen haben? Professor Urich hat mich mehr als einmal gemalt.«

». . . Ausstellungen?« rief der junge Afrikaforscher entsetzt, »nein, an solche Orte bringen mich keine zehn Pferde! Lieber durch die Suaheliwüste in Hunger und Durst. Ich verstehe keinen Deut von Malerei, von Kunst überhaupt! Nichts ist mir verhaßter, als Dinge bewundern zu sollen, die mir gänzlich gleichgültig sind.«

»Wie kommen Sie dann hierher?« rief einer der Herren, die über die Empörung des Gastes im Hause des großen Malers in belustigtes Gelächter ausgebrochen waren.

»An dieser mir selbst unbegreiflichen Tatsache bin ich unschuldig«, beteuerte der junge Mann. »Da müssen Sie schon den Professor verantwortlich machen. Der hat mir vorgestern in später Nachtstunde im Café des Westens mein Ehrenwort abgenommen, mich heute hier einzufinden und ihm morgen in seinem Atelier für ein Porträt zu sitzen. Hätte er es mir nicht mit seinem Künstlerbleistift auf die Manschette geschrieben – nie würde ich daran gedacht haben – wir waren wohl beide arg bezecht!«

»Halt – Donnerwetter, gnädiges Fräulein – heißen Sie etwa Glenn?«

»Ja – so heiße ich. Irmgard Glenn«, wurde ihm geantwortet, und er schlug sich vor die Stirn.

»Nun weiß ich alles wieder – dachte schon, ich sei zum Kretin geworden, weil ich mich nicht erinnern konnte. So – setzen Sie sich hier zu mir, und ich will Ihnen erzählen. Eine wunderliche Begegnung, die Sie interessieren wird! Daß unsere Erde nur 'ne Nußschale ist, wissen wir ja längst. Ja – ich habe eine kleine vergilbte Photographie von Ihnen gesehen, im innersten Afrika – und hätte nicht Irmgard Glenn mit verblaßter Tinte darunter gestanden . . . dächte ich doch wieder, ich irre mich . . .«

»Wo war das?« fragte Irmgard, ein Zittern hatte sie befallen, kaum vermochte sie den Ton zu formen. Sie beugte sich zu dem Fremden, der sie erstaunt betrachtete: das brennende Rot, in das feine geistige Gesicht emporsteigend und zu einem totenartigen Weiß verbleichend, die weit geöffneten Augen, die einen heißhungrigen, einen wilden Ausdruck des Horchens bekamen. Irmgards beide Hände hatten die Lehnen des Stuhles, auf dem sie saß, umklammert, als müsse sie, ertrinkend, an ihnen einen letzten Halt suchen.

»Wo war das?« wiederholte sie flüsternd.

Der Afrikaner hatte eine seiner hübsch ausgefeilten Geschichten erzählen wollen, deren Effekt er sicher war, doch gegenüber dieser atemlosen, erschütterten Frau verging ihm Lust und Ruhe dazu. Er sprach schnell und einfach.

»Wir waren nach der Regenzeit, in der die Ströme voll Wasser sind, in den Kanus der Neger einen der großen Flüsse hinaufgefahren, die noch keinen geographischen Namen tragen. Am Ufer nur Eingeborenendörfer, spärliche Batatenpflanzungen, dahinter der dicht verfilzte Urwald mit seinem Affen- und Vogelgeschrei. Keinen Weißen seit Wochen erblickt. Da lichtete sich die Gegend – kultivierte Pflanzungen von Mais, Sisal, Hanf, Kaffee, Kokosbäumen – so pflanzen die Schwarzen nicht, das war uns klar. Eine Menge Neger arbeiteten in den Feldern. Mit einemmal, es war schon Abend, ein kleines Lüftchen kam auf, liegt da vor uns im Fluß ein gut geteertes, weiß gemaltes Segelboot, ein Landungssteg führt ans Ufer, aus dem Kokoswald kommt eine Reihe von Eingeborenen – jeder mit einem Palmenkorb voll Kokosnüsse auf dem Wollkopf, zum Segelboot, sie zu verladen. Und da unter einem Affenbrotbaum steht der Weiße, riesenhaft, dem das alles gehört – der ›Herr‹, verstehen Sie . . .«

»Erich –?« es kam nur wie ein Hauch von der Schwester Lippen.

»Ja – Erich Glenn – so hieß er. Ein Verwandter von Ihnen?« Sie neigte nur bejahend den Kopf. »Wie der Mann sich freute, uns zu sehen! – Kommt selten ein Weißer in die Gegend. Wir hielten ihn anfangs für einen Engländer, der langen Gestalt nach und dem vollen grauen Haar. Aber wir fanden uns denn bald als Landleute und mußten selbstverständlich in seinem Hause Station machen. Mein Gott – gnädiges Fräulein! Ich dachte nicht, daß Ihnen das so nahegehen würde – haben wohl lange keine Nachricht gehabt?«

Irmgards Kopf war an die Stuhllehne gesunken. Die Augen hatten sich geschlossen, tiefe Schatten lagen auf dem weißen Gesicht. Einer der Herren schenkte von dem Kognak ein, der auf dem Rauchtisch stand, und hielt ihr das Glas an die Lippen. Sie öffnete die Augen, setzte das Glas nieder und lächelte mühsam.

»Es ist mein Bruder.«

»Das ist ja eine überraschende Sensation«, rief der Hilfreiche, »solche Forscher – was die alles auffinden!«

Die Herren hatten sich lebhaft erhoben, sprachen aufgeregt durcheinander. Man wollte mehr wissen von Dr. Schöler. Wie es in dem Hause ausgesehen habe – wo er das Bild getroffen . . .

Irmgard saß in sich versunken unter dem Lärm, dem Lachen und Fragen.

Er lebt – er lebt – Erich lebt, dachte sie wirr. Etwas Fremdes, Unglaubwürdiges suchte sie zu fassen, und es gelang ihr nicht. In ihr war keine aufspringende Freude – keine zerreißende Erschütterung. Nur ein dumpfes Grauen fühlte sie – war Erich so ganz in ihr gestorben?

Ihr Bild, das kleine blasse Mädchenbild, hatte Dr. Schöler über seinem Bett in der weiß gekalkten Stube des weißen Hauses auf der Anhöhe über dem Fluß hängen sehen, dort im tiefen Innern von Afrika. Aber geschrieben hatte Erich ihr niemals. Und sie fühlte einen Haß gegen ihn aufsteigen.

Sie konnte nichts mehr von ihm hören vor all diesen fremden Menschen. Sie straffte sich mit starker Selbstüberwindungskraft, stand auf und ging schnell aus dem Kreise hinauf in ihr Zimmer. Dort riegelte sie ab und stand im Dunkeln. Die Nägel in die Handflächen gebohrt, lauschte sie ihrem flatternden Herzschlag, dachte nichts als: er lebt – er lebt ja doch – wie sonderbar das ist . . .

Viel später – es mochte lange nach Mitternacht sein, und die Tanzmusik klang noch immer zu ihr hinauf, wusch und puderte sie sich. Obgleich sie nicht geweint hatte, war ihr Gesicht mit roten Flecken bedeckt. Sie ging wie im Traum die Treppe hinab, kam mechanisch ihren Obliegenheiten als Hausfrau nach und verabschiedete sich von einigen Gästen. Dr. Schöler hatte das Haus bereits verlassen. Irmgard warf einen Blick auf das Dienstpersonal und fragte, ob man rechtzeitig Tee und Bier gereicht habe. Dann ging sie in den Tanzsaal und stand dort eine Weile im Türrahmen. Der Professor tanzte mit seiner Nichte. Ein großer, ungefüger Koloß, in dessen Arm das junge Geschöpf mit dem dunklen Lockenkopf wild umhergewirbelt wurde. Wie fessellos er tanzt, dachte Irmgard – was ist er doch für ein Feuerbrand . . .

Sie näherte sich ihm, als das Paar innehielt. Das junge Mädchen stand mit ihren roten, vollen Wangen hochatmend neben Ulrich.

»Sieht sie nicht aus wie ein antiker Bacchus?« rief er Irmgard zu.

»Professor – ich möchte Sie einen Augenblick sprechen.«

»Ja? Was ist?« fragte er ungeduldig erschrocken und trat einen Schritt beiseite, weil er annahm, es habe sich etwas Unangenehmes ereignet.

»Jakob«, sagte sie leise, und ihr Atem ging schnell, »denke – denke – ich habe Nachricht von meinem Bruder – Dr. Schöler hat ihn irgendwo in Afrika getroffen.«

»Nein – von dem Verschollenen? – Ist die Möglichkeit! Das ist ja eine merkwürdige Sache – da freust du dich wohl mächtig?«

Irmgard neigte den Kopf, nun schossen ihr die Tränen unter den Lidern hervor. So gleichgültig hatten seine Worte geklungen. Ganz fern war er ihr in diesem Augenblick. Sie sah, wie er wieder zu dem Mädchen trat, zu dieser jungen Bacchantin mit der glühenden Pfirsichhaut und den blitzenden Schwarzaugen, wie er den Arm um sie legte und sie lachend in den Wirbel des Tanzes riß.

Am nächsten Morgen rief der Professor Irmgard in sein Atelier; sie wolle gewiß mehr über den verschollenen Bruder hören. Im Grunde war ihm dieser sagenhafte Bruder recht gleichgültig – Irmgard hatte ihm niemals mitgeteilt, was es mit Erichs Verschwinden auf sich gehabt habe – sie sprach in ihrer verschlossenen Weise selten genug von ihrer Familie, und Jakob Urich war kein sinniger Mann, der sich viel um die Vergangenheit seiner Freundin gekümmert hätte.

Nun aber zeigte er, vielleicht in leichter Reue über die kühle Ablehnung vom vorhergehenden Abend, ein herzliches Interesse.

»Donnerwetter«, lachte er gemütlich, »dieser Bruder scheint ja nach den Schilderungen von Dr. Schöler ein reicher Mann geworden –: Viehherden, Pferdezucht – Reis-, Mais-, Hanffelder – Kokosnuß- und Kaffeeplantagen und Dutzende von schwarzen Sklaven – das lasse ich mir gefallen! Und schreibt nicht einmal einen Brief an sein Schwesterlein. Scheint wenig Gemüt zu haben!«

»Sie müssen ihm das nicht übelnehmen«, sagte Dr. Schöler nachdenklich. »Die Leute dort drüben verlieren allmählich die Brücke aus den Augen, die nach der Heimat zurückführt. Das Leben ist so entsagungsvoll, die Arbeit voller Kampf und Gefahren – keinen Tag sind sie sicher, ob sie morgen noch leben – ob nicht ein Fieber, ein Schlangenbiß – ein rachsüchtiger Schwarzer sie umbringt. Sie fühlen, wie unmöglich es für die Verwandten daheim ist, sich ein Bild ihrer Lage und den so fremdartigen Verhältnissen zu machen. Ist der Faden einmal abgerissen, läßt er sich nur schwer wieder knüpfen.«

»Sie wollen wohl auch das Heimweh nicht wecken«, sagte Irmgard, und der Afrikaner blickte sie freundlich an.

»Gewiß – auch das! Hätte ich geahnt, wie nahe dem guten Glenn das junge Mädchen auf der kleinen Photographie stehe – und daß ich so bald nach Europa zurückkehren würde, hätte ich ihn selbstverständlich gefragt, ob er eine Botschaft auszurichten habe, oder ob ich ein Geschenk mitnehmen dürfe. Aber ich wußte selbst von mir und meinen Gefährten nicht, wie unsere Wege laufen würden. – Außerdem – nun ja –, es ist drüben beinahe ein heimliches Gesetz, diese versprengten Landsleute niemals nach ihrem vergangenen Dasein zu fragen. – Diese Einsamen sind die wahren Heroen unserer Zeit. Es gehören ungeheure Überwinderkräfte dazu, solch ein Leben zu gestalten und ein Mann zu bleiben, wie dieser Erich Glenn geworden ist.«

Jakob Urich fing mit Begierde den eigentümlichen Ausdruck auf, der bei den letzten Worten über das kühne junge Antlitz Schölers ging, während er Irmgard verehrungsvoll und zugleich mitleidig anblickte.

»Jedenfalls werden wir nun mal unsern Lockruf ertönen lassen, den Wildling einzufangen, nicht wahr?« meinte Professor Urich.

—   —   —   —   —

Irmgard besaß nun Erichs Adresse. Sie schrieb ihm zwei Briefe und zerriß sie wieder. Sie fand den Ton nicht mehr; zu lange Zeit – zu viel Gelebtes und Erduldetes lag zwischen ihnen. Was sollte sie ihm von sich sagen? Sie begriff tief und klar, daß auch er keine Nachricht von sich zu geben vermochte, obschon jenes dunkle und blutige Ereignis, das ihn fortgetrieben hatte, längst verjährt war.

Sie nahm sein Bild aus ihrer Mappe, das Bild eines kecken jungen Seemanns mit aufgedrehtem Schnurrbärtchen über dem üppigen Munde, mit den ein wenig kokett blickenden schönen Augen, und betrachtet es lange und traurig. Ein Grauhaariger, Fieberverzehrter war er geworden – ein langer, hagerer Engländer mit gemessenen Bewegungen. – Sie schüttelte den Kopf, während die Tränen über ihre Wangen flossen. Und sie schob das Bild wieder an seinen verborgenen Platz.

Während der nun folgenden Monate trat die äußere und innere Veränderung in Irmgards Leben ein, die immer als etwas Unausdenkbares vor ihr gedroht hatte. Sie mußte den Kampf bestehen, der ihre stärksten Herzwurzeln zu zerreißen drohte. Und der ferne Bruder wurde ihr zum unwahrscheinlich drohenden, gespenstigen Schrecken.

 


 << zurück weiter >>