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Wenn Sie Ihre Schritte nach dem nördlichsten Schwabing lenken – was ohne jegliche Gefahr geschehen kann – wenn Sie Ihre Schritte dahin lenken, fällt Ihnen ein riesenhaftes Gebäude auf mit der Inschrift:
»Städtische
Mädchenhandels-
Schule«
Doch sollen da keineswegs auf Kosten der Stadt München Mädchenhändler fachlich herangebildet werden – vielmehr ist eine Handelsschule geplant für Mädchen.
Geplant und erbaut – doch nicht ins Leben gerufen. Das große, schöne Gebäude steht leer – es enthält nur die Schwabinger Alp. Die Geschichte ist traurig und wahr:
Wir haben einen jungen Mann in München, Georg Hensel – so was von Begabung schreit zum Himmel. Man kann Henseln nicht mehr einen Bildhauer nennen – er ist schon Skülptör.
Im Jahr 1914 nun, knapp nach der Kriegserklärung, verdichtete sich die Stimmung des deutschen Volkes in Hensel zu einer Idee: er wollte ein kleines Medaillon schneiden, etwa in Pfenniggröße. Vorn: die Siegesgöttin; hinten Schrift: die Jahreszahl.
Ganz einfach, aber bezwingend – wirksam grade durch die strenge Knappheit.
So geht Hensel sinnend die Friedrichstraße lang – da begegnet ihm Dr. Kratz. Begrüßung und Händedruck – ein Wort gibt das andre – – schließlich fragt Dr. Kratz:
»Und Sie, Hensel? Was treiben Sie?«
»Eigentlich nichts … Man hat so Entwürfe …«
»Ah!! Entwürfe?? Das berührt mich aber innig. Reden Sie!«
»Nun …,« antwortet Hensel, »… ich denk mir halt: ein Medaillon wär fein; vorn die Siegesgöttin …«
»Außerordentlich!! Vorn die Siegesgöttin?? Glänzend!! Das wird gemacht, das ist ein Hauptschlager, das ist Sensation. Sofort, auf der Stelle modellieren Sie die Siegesgöttin! Medaille – und gleichzeitig eine kleine Plastik. Vielleicht so …« – (Kratz zeigt durch eine oszillierende Gebärde 15 bis 65 Zentimeter Höhe an und bleibt bei 40 fest.)
Hensel wendet ein: er müßte doch noch überlegen, ob …
Kratz aber ist elektrisiert. »Ach was,« sagt er »– ich spreche heute noch mit Borscht« (dem Herrn Oberbürgermeister) – »verlassen Sie sich darauf: Sie kriegen ein Atelier.«
Hensel ist wie vor den Kopf geschlagen. Ein Atelier? – für das Medaillönchen?
Kratz ist schon verschwunden.
— — —
Was dieser Kratz damals auf dem Rathaus gesagt und geschwefelt hat, wird ein ewiges Rätsel bleiben. Kratz selbst ist bekanntlich seit Jahren wegen unheilbaren Blödsinns unter Verschluß, und der Herr Oberbürgermeister erinnert sich des Vorgangs nicht mehr. Es wird ein ewiges Rätsel bleiben, warum, wieso …
Kurz, es kam plötzlich ein gemoppelter Bote nach der Pension Schmal und begehrte den Bildhauer Georg Hensel zu sehen. Worauf er Henseln einen Dienstbrief übergab.
Inhalt: Der Magistrat der kgl. Residenzstadt München stelle Henseln für seine patriotisch-künstlerischen Zwecke unter dem Vorhalt jederzeitigen Widerrufs, vorerst für die Dauer der Schulferien den Fest- und Prüfungssaal der Schwabinger Mädchenhandelsschule zur Verfügung.
Man muß den Saal gesehen haben; er ist einer der imposantesten Münchens. Er hat Fenster nach Osten, Süden, Westen; doch wenn die Sonne da in einem Tag rundherumkommen will, muß sie sich sputen. Der Saal hat eine gewölbte Decke; man nimmt es mit freiem Auge kaum wahr. Der Saal ist 1,4 lang; Kilometer? oder deutsche Meilen? – das ist bisher nicht festgestellt. Bekannt ist nur, daß man die letzte Trambahn verpaßt, wenn man den Saal mittags zufällig durch den unrichtigen Ausgang verläßt. Ferner, daß sich einmal ein junges Mädchen im Festsaal verirrte, worauf die Rettungsexpedition der Polizeiwache Ungererstraße fünf Tage später von einer zweiten Rettungsexpedition in völlig erschöpftem Zustand nächst der nördlichen Saalecke aufgefunden wurde.
In diesem Saal also stand Georg Hensel und sollte da sein Medaillönchen schneiden. Selbstverständlich wuchs ihm die Idee, wenn er so in die Höh und Ferne sah.
Einen Augenblick dacht er noch an die Plastik, wie Kratz sie angedeutet hatte: 40 cm – dann schämte er sich; schämte sich vor den Ausmaßen des Saals.
Eine Victoria … Sie mußte doch den deutschen Siegen in Belgien, Frankreich einigermaßen entsprechen. Nun waren aber Lüttich gefallen, Namur, Maubeuge. Ein doppelt lebensgroßes Eisengerüst für das Modell wird grade noch ausreichen …
Da fiel Antwerpen; Hensel ersuchte den Magistrat München, als welcher durch Darleihung des Saals so lebhaftes Interesse an dem vaterländischen Werk bekundet hatte, ›zum Zweck der Verwirklichung der Kolossalgruppe‹ etliche Wagen Gips anfahren zu lassen.
So entstand die Schwabinger Alp. Sie stellt sich den ewigen Gletschern des Ortlers würdig an die Seite.
Nur ist sie künstlerisch gegliedert:
Oben auf barock-kubistischen Gewitterwolken der Kriegsgott (16,3 m) mit hochgekämmtem Schnurrbart, Adlerhelm (Gips). Der Kriegsgott schwingt ein Banner – na, ich sage Ihnen: ein Banner: wie das Focksegel eines Kauffahrteischiffs. Der Kriegsgott ist von Wodans wildem Heer begleitet. (Alles Gips.) Im Gefolge erkennt man: den ehemaligen Chef des Generalstabs v. Moltke; Hindenburg; dann Kluck, Falkenhayn. Ungern reißt sich der Blick von ihnen los – doch tiefer unten gibt es ebenso Anziehendes zu schauen: die deutschen Stämme mit den Kronprinzen Friedrich Wilhelm (11 m), Ruprecht, Albrecht an der Spitze: im ganzen etwa 360 Figuren, keine unter 8 m. Wer schwindelfrei ist und eine Feuerwehrleiter ganz hinansteigt, wird herrliche Details bewundern können.
Das Ganze ruht auf einem Sockel (in Wirklichkeit sollt ja der Spessart von Aschaffenburg bis Gemünden als natürlich überhöhte Basis dienen) – und am Sockel werden en relief sämtliche deutschen Mitkämpfer in natürlicher Größe verewigt. (Alles Gips.)
Das ist die Schwabinger Alp, wie sie im Herbst 1914 als Modell fertigstand. Wenn man vom künstlerischen Wurf ganz absieht: schon als Äußerung roher Kraft allein eine ehrfurchtgebietende Arbeitsleistung.
Da schrieb der Magistrat München:
So, die Schulferien wären nun zu Ende – Hensel werde ersucht, den Saal der Mädchenhandelsschule Schwabing bis 12. d. M. wieder für den Unterricht freizugeben.
Wie sollte Hensel sein Modell hinausbringen – durch die Tür oder durch die Fenster? – Die Schulkommission erklärte; darüber möge sich der Künstler selbst schlüssig werden.
Wenn man aber die Mauer weit genug aufbrach, fiel die ganze Mädchenschule zusammen.
Nachdem sich erst eine Stimme aus der Bevölkerung im Generalanzeiger der Neuesten Nachrichten für ein pietätvolles Belassen des Werkes im Festsaal ausgesprochen hatte, nahm sich die Sezession der Sache an – und ein Wink von oben gab den Ausschlag; man ließ Henseln einstweilen in Ruhe: bis zu den nächsten Ferien.
Indessen aber war die Mädchenschule dem Kriegsministerium überwiesen worden – der Festsaal insbesondre als Bureau der siebenhundertgliederigen Zentrale zur Beschaffung von Ersatzhornknöpfen für Papierlitewkas.
Da fielen übereinander her: der Magistrat; die Schulkommission; die Künstlergenossenschaft; der Bund zur Erhaltung von Denkmälern; das Kriegsministerium; und eine Gruppe von Gläubigern, die Henseln Gips geliefert hatte. Es entstand ein Wirbel von Staats- und Bürgergewalten, von militärischen und kulturellen Belangen, die einander aufs schrecklichste flankierten.
Sie flankierten und befehdeten einander – immerzu – immerzu – jahrelang. Schließlich drückten sie Henseln völlig an die Wand: er habe das Modell jedenfalls hinauszuschaffen, und zwar auf seine Kosten. Beinah mußt er nachgeben, seine Alp zerstören …
Da kam ihm ein erlösender Gedanke: in einem prachtvollen Brief schenkte er die Alp, wie sie stand, dem bayerischen Herrscherhaus.
Das Oberhofmeisteramt dankte dem Künstler brieflich.
Worauf die Schulkommission sich an den König wandte – mit dem Ansinnen, über ›sein‹ Denkmal zu verfügen. München, 8. November 1918.
Das Haus Wittelsbach gedachte, die Schwabinger Alp ganz einfach der deutschen Nation zu stiften, da …
… da kam der Umsturz.
Nun war die Sache erst recht verfahren:
Die Münchener Gewerkschaften wollten die Schwabinger Alp als Gipsbergwerk sozialisieren.
Die Mehrheit der bayerischen Abgeordneten betrachtete das Ding als Krongut.
Hensels Gläubiger haben es mit Beschlag belegt.
Durch eine bereits ausgestellte, nur im Gesetzblatt noch nicht abgedruckte Urkunde ist die Schwabinger Alp Reichseigentum geworden.
Wem gehört sie also? Das ist das große Rätsel.
– – – Unterdessen geht Georg Hensel in den Kaffeehäusern umher, mit den Händen in den Hosentaschen, und pfeift sich eins: ein Mann, der nach schweren innern Kämpfen zur Herzenseinfalt zurückgefunden hat.