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(1855 – 1898)
Heute, wo Maurice Maeterlincks Kunst in ihrer geschmackvollen Synthese von germanischer Gefühlsinnigkeit und französischer Klarheit immer weitere Kreise zieht, richtet sich das Interesse unwillkürlich nach der vlämischen Heimat des Dichterphilosophen, die von jeher tiefem Gemütsleben förderlich war. Brabant ist die Heimat eines großen Kirchenlehrers, jenes doctor extaticus am Schlusse des zweiten »Faust«: Johann Ruysbroeck, den seine Zeit den Wunderbaren nannte, und dessen Hauptwerk »Von der Zierde der geistlichen Hochzeit« Maurice Maeterlinck der französischen Kulturwelt durch Übersetzung und ein tiefsinniges Vorwort erschlossen hat. In jenem Brabanter Weltwinkel entstand vor einem Dezennium jene symbolistische Bewegung, als deren Exponent Maeterlinck gilt und deren Vertreter fast ausschließlich vlämische Namen tragen.
Die Vlamen sind bekanntlich germanischen Ursprungs, aber neben ihrer heimischen Sprache bevorzugen sie die des großen französischen Kulturkreises. Der gewaltige Schallboden von Paris sichert den großen Talenten dieses kleinen Völkchens einen Platz in der Weltliteratur, den sie mit ihrer heimischen Sprache nie erringen würden, und der Zwang, sich einer durchgebildeten, in eherne Formen gegossenen Sprache zu bedienen, bildet ein heilsames Gegengewicht gegen den germanischen Hang zur Innerlichkeit, der bei unumschränkter Herrschaft zur Formlosigkeit, zum Versinken in den Tiefen der Mystik führen würde. Das Französische ist der leichte Kork, der sie auf der Oberfläche erhält, ohne sie oberflächlich zu machen, und so vollzieht sich ganz von selbst und von der Wiege an jene Synthese zwischen französischem Geschmack und germanischer Kraft, zwischen Gefühlstiefe und Anschaulichkeit, Klarheit und Geheimnis, die Nietzsche so heiß ersehnte, und die in Maeterlinck und Lerberghe, Elskamp und Verhaeren, Huysmanns und Rodenbach zum Ereignis geworden ist.
Georges Rodenbach, der allzufrüh aus ihrem Kreise scheiden sollte, nimmt unter ihnen eine besondere Stellung ein, schon weil er seiner Herkunft nach Oberdeutscher, nämlich Österreicher, ist. Das heutige Belgien bildete bekanntlich bis 1791 die »österreichischen Niederlande«, und so kam Georges' Urgroßvater, der dem österreichischen Generalstab angehörte, um die Wende des vorletzten Jahrhunderts nach Belgien, nahm nach der französischen Okkupation seinen Abschied, blieb aber im Lande, zumal er sich verheiratet hatte und Kinder besaß. Einer seiner Söhne, Constantin, der Großvater des Dichters, heiratete eine Großnichte Wielands, die ebenfalls dichtete und mit den hervorragendsten Geistern der Zeit, Hugo, Lamartine, Michelet, in Briefwechsel stand. Constantin beteiligte sich rege an der Revolution von 1830; sein Name prangt auf der Säule des Brüsseler Kongresses. Er war übrigens auch literarisch tätig. Sein Sohn, Georges Vater, war ein angesehener Ägyptologe, und vielleicht hat unser Dichter von ihm die Gabe, die rätselhafte Bilderschrift des Lebens zu entziffern, geheime Analogien zu entdecken und seltsame Symbole zu schaffen. Rodenbachs Kunst offenbart in der Tat einen Zug zu geheimer Wissenschaft, eine stete Wiederkehr feststehender Hieroglyphen und Formeln, in die man eingeweiht sein muß, um ihren ganzen bildlichen Zauber zu kosten. Er ist, ganz wie sein Held Viane in »Bruges-la-morte« »vom Dämon der Analogie besessen«, und dieser »angeborene Ähnlichkeitssinn« ist es ja auch, der die Katastrophe in jenem Werke heraufführt. Viane hat sich nach dem Tode seiner geliebten Frau in die Schwermut des toten Brügge vergraben, weil sie seiner Schwermut wohltat, und er hat schließlich die tote Stadt und seine Tote identifiziert – bis ihm eines Tages ihr wiedererstandenes Ebenbild in Gestalt einer Schauspielerin begegnet. Und dieser »Dämon der Analogie« läßt ihm keine Ruhe, bis er die völlige Gleichheit von einst und jetzt erreicht hat. Die Schauspielerin muß die Bühne verlassen und wird seine Geliebte, seine aus dem Grabe zurückgekehrte Frau, wie er wähnt ... Aber je eifersüchtiger er diese Gleichheit bis in ihre letzten Folgerungen verfolgt, desto mehr tritt die unvermeidliche Ungleichheit zutage – bis die Schauspielerin sich eines Tages vollends vergißt und mit der goldenen Haarflechte seiner toten Frau ihren Spott treibt. Da erwürgt er sie vor Wut und Scham mit dieser teuren Reliquie, der »alle, deren Seele rein und mit dem Mysterium vertraut ist, von vorneherein ansehen, daß sie im Augenblicke der Entweihung selbst zum Werkzeug des Todes werden muß ...« So wird Hugo Viane zum anderenmale Witwer, und die beiden Frauen verschmelzen in seinem Geiste wieder zu einer. – Man sieht, Rodenbach ist nicht dabei stehen geblieben, »die Bäume mit der heiligen Jungfrau zu verknüpfen und einen unsichtbaren Leichenaustausch zwischen seiner Seele und den ewig klagenden Kirchtürmen Brügges zu schaffen«. Er hat das, was bei anderen an der Oberfläche bleibt und über eine blumige Metapher nicht hinaus kommt, in die Tiefe gegraben und zum Angelpunkt eines Seelenkonflikts, zum Problem erhoben. Und er hat der seit Taine so beliebten Milieulehre einen tieferen, psychologischen Sinn gegeben; er macht das tote Brügge zur Hauptperson von Vianes Leben, »die ihren Einfluß geltend macht, abrät und befiehlt und der er die Gründe zu allen seinen Handlungen entlehnt ...« »Eine Mahnung zur Frömmigkeit ging von ihr aus, von den Mauern ihrer Spitäler und Klöster, von ihren zahlreichen Kirchen, die in steinernen Chorhemden niederknien ... Ein Vorbild der Entsagung boten die schweigenden Grachten und vor allem erging eine Lehre der Sittenstrenge von den hohen Glockentürmen, die stets im Hintergrund aufragten.« Und je mehr er sich seiner Fleischessünde bewußt wird, desto mehr zwingt ihn diese Stadt wieder in ihren Gehorsam. »Die Glocken sprachen so eindringlich, erst freundlich ratend, bald aber unbarmherzig mit grimmem Schelten ... Sie stießen ihn vor sich her, drangen in seinen Kopf und vergewaltigten ihn, um ihm seine elende Liebe zu entreißen ...«
»Das tote Brügge« Deutsch von mir bei Ernst Rowohlt, Leipzig 1910, 2. Aufl. ist Rodenbachs erste größere Schöpfung, sozusagen sein standard work, das all sein Können mit der Kraft einer Sammellinse in eine kurze Fabel zusammendrängt. Es ist, als ob der Dichter das Bedürfnis gehabt hätte, seine Kunst in nuce zusammenzufassen, in dem trüben Gefühl, daß es ihm nicht vergönnt sein würde, sie wie einen breiten Teppich sein Leben hindurch auszuwirken. Er war einer jener »Avertis«, von denen Maeterlincks tiefsinniger »Schatz der Armen« sagt, daß sie das »organische Warnungszeichen« in sich tragen und daß sie es eilig haben, ins Leben zu treten, daß sie ein seltsames Lächeln haben und wie aus einer anderen Welt auf die herabsehen, »die da leben sollen ...« Er verband eine heiße Liebe zum Leben mit einem tiefen Mißtrauen, einer eingeborenen Furcht vor dem Leben, die durch seine traurige Erziehung in der Jesuitenschule noch bestärkt wurde. »Dort lernte meine junge Seele dem Leben entsagen, denn sie lernte zuviel vom Tode«, klagt er in seiner rührenden Novelle »In der Schule«, die dieses Buch enthält. Mit Vorliebe versetzt er sich in Seelenzustände hart an der Grenze des Wahnsinns, um uns mit zwingender Notwendigkeit schrittweise der völligen Umnachtung zuzuführen, die ihm ja schließlich selbst genaht ist und seinen Selbstbekenntnissen ein Ende machte ... »Es gibt ein ganz geheimnisvolles, wenig beachtetes Gebiet von Empfindungen unterhalb der Bewußtseinsschwelle, sozusagen ein Helldunkel des Bewußtseins, eine Region des Zwielichts, in der unser Wesen seine Wurzeln hat. In ihr knüpfen sich jene seltsamen Analogien, jene luftigen Beziehungen zwischen unseren Gedanken und Taten und gewissen Eindrücken unserer Sinne. Eine Frau mit grauen Augen, die uns begegnet, erinnert den Nordländer sofort wehmütig an seine Heimat. Eine Orange, die man neben uns schält, genügt, um uns den ganzen Dunstkreis des Theaters wieder wachzurufen. Wird eine asphaltierte Straße ausgebessert, so trägt uns der Geruch des Teers, der in den Kesseln kocht, in Gedanken sofort ans Meer und die geteerten Masten in den Häfen.« Und eine schaurige Passionssymbolik knüpft sich in seinem kranken Geiste an den Sonnenuntergang. Er starrt in den »blutigen Passionshimmel mit den grellen Strahlen der Kreuzigung, dem Schwamm der gelben Wolken, dem letzten Rot einer mit der Lanze geöffneten Wolke ... Dann sank die Nacht mit all den Dornen der Finsternis, die sich in seine Stirn drückten, und all den Sternen, die ihre grausamen Nägel in diesen Golgatha-Himmel bohrten ...«
Hin und wieder wird auch eine skeptische Boulevardnote angeschlagen, aber sie klingt falsch, und über dem Pariser Treiben liegt der bleigraue flandrische Nebel. Das tote Brügge behauptet auch im Herzen Frankreichs seine Macht über Rodenbachs Geist, und so spannte er auch den modernen Ehebruchsroman mit seiner fiebernden fin-de-siècle- Psychologie in den ehrwürdigen Kirchenrahmen seiner Vaterstadt, etwa so, wie Sudermann im »Katzensteg« ein fin-de-siècle-Motiv mit ostpreußischer Heimatskunst verband. Sehr zutreffend sagt in dieser Hinsicht sein Landsmann J. K. Huysmanns: »Er hat den bleiernen Himmel, die zitternden Wasser mit der unheilschwangeren Stille, das lautlose Rudern der Schwäne, den leichten Dunst halbgelöschter Kerzen und den Weihrauchduft des Beghinenklosters, das hinter einem überdeckten Graben schlummert, gar wunderbar behandelt und so Brügge für immer in einem zarten, wahrheitsgetreuen Bilde festgehalten. Diese Stadt gehört ihm; sie ist gleichsam sein Reich geworden, und ihre Silhouette erscheint, selbst wenn er nicht von ihr spricht, hinter all seinen Romanen und Gedichten, wie er sich selbst vom Hintergrund ihrer Spitzen und Türme abhebt auf dem Porträt von Dhurmer ...«
Brügge ist auch der Gegenstand der Gedichtsammlung »La Règne du Silence«. Hier ist die moderne Behandlung ganz fortgefallen; die toten Gegenstände und das Schweigen der alten Stadt bilden allein den Gegenstand der Darstellung, während die Menschen aufgehört haben zu leben. Es ist eine Tragödie ohne Handlung, das intime Drama der leblosen Dinge, die ihr geheimes Leben offenbaren. Während die Greise und Beghinen schattenhaft einherschleichen, bekommen die Steine, die Bäume, das Wasser Leben und ein seltsames, ausgeprägtes Antlitz. »Er liebte die fliehenden Dinge, die unbestimmten Farben, die zitternden Linien«, sagt Huysmanns von ihm; »er schwärmte für das Geheimnis des Wassers, für das Geläute der Glocken, für die Stimmen des berstenden Glases; er fühlte den schleichenden Schritt der Kranken, die der Genesung entgegengehen und die sich doch noch im geschlossenen Zimmer hegen und pflegen dürfen, ohne zu leiden«. In der Gedichtsammlung »Voyage dans les yeux« geht der Dichter noch weiter: in zwei Augen liegt seiner überfeinerten Seele die ganze Welt, in ihnen errät er alle Landschaften, in ihrem blauen Kristall zeigt sich das umgekehrte Bild einer Stadt ... Die Novelle »Die geliebten Augen« in dem vorliegenden Bande ist ein zitternder Nachklang dieser Gedichte.
Sein Roman »La Vocation« spielt gleichfalls in dem alten, düstern, religiösen Brügge. Hans Cadzand ist von seiner Mutter strenggläubig erzogen, von allen Lebensregungen ferngehalten worden, damit er dereinst ein häuslicher Sohn würde und seine alte Mutter nicht verließe. Die religiöse Erziehung hat indes so gute Früchte getragen, daß Hans, der Nachgeborene, in seinem Chorknabenherzen den Beruf zum Priester entdeckt. Die Jahre ändern nichts an seinem Entschluß. Die Mutter sucht ihm jetzt eine entgegengesetzte Lebensrichtung zu geben, sie wählt das kleinere Übel, indem sie ihn zum Heiraten zu bewegen sucht. Er soll die Tochter einer Freundin freien, die ihm schließlich ihrerseits ihre Liebe gesteht, aber nichts kann ihn in seinem Vorsatz beirren, bis ein hübsches Dienstmädchen ins Haus kommt und den angehenden Jüngling zur Sünde entflammt. Die Mutter, entzückt über diese Wendung der Dinge, duldet das sträfliche Verhältnis von Sohn und Magd, bis jenen nach kurzen Tagen die Neue ergreift. Er fühlt sich unwürdig, Priester zu werden; seine »innere Berufung« ist vor den ersten Anläufen des Lebens zunichte geworden. Er führt im Mutterhause fortan ein Büßerleben; sein einziger Weg führt ihn allmorgentlich in die Kirche, dann wird er unzugänglich und versinkt in fromme Studien und Betrachtungen der Reue, so daß gerade das, was das Mutterherz sich so heiß ersehnt hatte, nicht ohne ihren Sohn zu stehen, ihr jetzt zur größten Qual wird.
Dem verunglückten Priester, der die keusche, jungfräuliche Seele Brügges verletzt hat, steht »Der Glöckner« (»Le Carrillonneur«) gegenüber. Joris Borlunt hängt mit leidenschaftlicher Liebe an seiner Heimat, er ist ein Künstler und ein Träumer, ein Hans Cadzand mit ausgereifter Seele. Er sieht, wie die Stille seiner Heimat, der Schatz ihrer alten Traditionen, ihr ganzes Mysterium, durch die modernen Ideen bedroht wird. Das alte Venedig soll zum modernen Handelshafen umgestaltet werden. Dagegen kämpft der Glöckner mit aller Energie an, und doch ist sein eignes Herz die Wahlstatt zwischen Alt und Neu. Er liebt seine Frau Barbe, die Repräsentantin des fremden, sinnenheißen, spanischen Blutes, und bricht die Ehe mit seiner Schwägerin Godelieve, der blonden, zärtlichen Vlamländerin, welche die alte Brügger Rasse vertritt. Aber alle Fleischeslust empört die unsichtbaren Gewalten der alten katholischen Stadt. Seine eifersüchtige Gattin vertreibt die Ehebrecherin aus dem Hause, und sie ist selbst eine von denen, die in dem brüllenden Volksschwarm für den neuen Hafen stimmen. Joris hängt sich an der großen Glocke auf und verhaucht seine Seele mit dem feierlichen Glockenklange Altflanderns.
Derselbe Konflikt zwischen Alt und Neu geht durch die prachtvolle Novelle »L'Arbre«, die auf einer kleinen, stillen Insel Seelands in träumerischer Weltabgeschiedenheit spielt. Die modernen Fortschritte und Ideen haben hier noch keinen Boden gewonnen, und jeder lebt wie damals, als der Großvater die Großmutter nahm. Am Dreiweg steht eine alte Eiche, in die alle Verlobten ihre Namen einschnitzen, ein Symbol der friedlichen Stille der Insel. Auch Joos und Neele haben den ihren in seine Rinde eingeschnitten. Sie lieben sich in ihrem Schatten keusch und heiß, wie ein Liebespaar im Märchen. Ihre Hochzeit ist schon lange bestimmt und von jedermann gebilligt. Aber da kommen die Fremden auf die Insel, um eine Eisenbahn zu bauen, und mit ihnen halten die Laster der Kultur ihren Einzug. In den Wirtshäusern kommt es zu Messerstechereien, und eines Tages hängt sogar ein Leichnam an dem Baum ... Joos hat die Wahrnehmung gemacht, daß auch Neele nicht mehr die alte ist, sie ist zerstreut, wenn er ihr seine Liebe schwört. Er merkt es bald: die Fremden haben nicht nur die patriarchalische Ruhe der Insel gestört, sie haben auch das Herz ihrer Tochter gestohlen. Und der Gedanke des Selbstmords drängt sich ihm auf; der Erhängte verfolgt ihn im Schlafen und Wachen. Und eines Tages findet man auch ihn an der Eiche hängen. Da wendet sich der Zorn des Volkes gegen die treulose Neele; sie erleidet, einem alten Brauch zufolge, die Strafe der Degradation, indem ihr aller Schmuck vom Leibe gerissen wird, und die Eiche wird gefällt und verbrannt. Aber nur die großen Äste werden vom Feuer verzehrt, der geschwärzte Stamm bleibt übrig, wie das treulose Weib, seines Schmuckes beraubt ...
»L'Arbre« war Rodenbachs letztes Prosawerk. Dann folgte noch die Gedichtsammlung »Le Miroir du Ciel natal«, in der er seinem heimischen Himmel den Spiegel vorhält. Bald nach seinem Gehängten starb er selbst, ein Mensch, der dem Leben ebensowenig gewachsen war, wie seine im Selbstmord Zuflucht suchenden, vom Leben überwundenen Helden. In seinem Nachlaß fand sich eine Dramatisierung des Romans »Bruges-la-Morte«, ein Werk fieberhafter Seelenzerfaserung, das in Wahnsinn und Selbstmord ausklingt, daneben eine Essaysammlung, die dem Kritiker Rodenbach alle Ehre macht, und der wehmütige Skizzenband » Le Rouet des Brumes«, dessen Leitmotiv den geheimen Zusammenhang zwischen Tod und Liebe bildet. Die Unbeständigkeit des menschlichen Daseins und unserer Empfindungen, die Unmöglichkeit, das menschliche Handeln richtig zu beurteilen, da man ja weder die geheimen Beweggründe noch die Tragweite einer Handlung kennt, findet hier einen herzbewegenden Interpreten. Tiefe Melancholie atmend, zum Teil beunruhigend und geheimnisvoll, folgen sich diese kleinen Erzählungen wie die Speichen eines alten, schlichten hölzernen Spinnrads, das im trüben Dämmerschein eintönig schnurrt. Sie sind in dem vorliegenden Bande vereinigt, der an Stelle des unübersetzbaren französischen Titels den der ersten Novelle trägt. »Im Zwielicht« der Empfindungen spielen ja alle.
Freilich konnte es nicht der Zweck dieser Übersetzung sein, den Staub der Werkstatt auszukehren, und so sind in ihr denn fünf Novellen ausgelassen, die zu abgerissen und skizzenhaft geblieben sind. Zum Ersatz ist die Dichtung »In der Kirche« vorausgeschickt, die in ihrem lyrischen Stimmungszauber zum besten gehört, was Rodenbach schuf. Wollte man einen Vergleich mit deutscher Lyrik heranziehen, so müßte man schon auf die gewaltigen Dichtungen der Droste-Hülshoff zurückgreifen, z. B. auf das Notturno »Meister Gottfried von Köln«.